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«Mein Körper gehört mir!» gilt nicht mehr
Ruth Reichmuth, zvg.

«Mein Körper gehört mir!» gilt nicht mehr

Mit mehr Freiheit für Geimpfte und dem Appell an gesellschaftliche Solidarität wird das Recht auf Selbstbestimmung beim Corona-Impfentscheid ausgehebelt.

 

Als Psychotherapeutin bin ich fast täglich mit der Impfthematik und ihren individuellen Folgen konfrontiert. Im geschützten Rahmen des persönlichen Gesprächs wagen Ratsuchende ihre Not zu artikulieren: «Ich möchte mich nicht impfen lassen, aber in meinem Umfeld sind alle geimpft und erwarten es auch von mir.» Den grössten Einfluss auf Entscheidungen haben in der Regel nahestehende Menschen und das soziale Umfeld. Die Majorität in der Gruppe übt eine enorme Macht auf das Urteil des einzelnen Mitglieds aus. Beim bekannten Konformitätsexperiment von Solomon Asch 1951 schlossen sich die meisten Testpersonen den Urteilen der Mehrheit an, obwohl sie wussten, dass diese falsch waren.

Wie sich Gruppendruck im Alltag auswirkt, verdeutlicht ein exemplarisches Beispiel aus der Praxis: Eine 75jährige Dame suchte Rat, weil sie nach der Impfung starke Nebenwirkungen hatte, die sie in eine Krise stürzten. Ihren Konflikt beschrieb sie wie folgt: «Ich hatte beschlossen, mich nicht gegen Covid-19 zu impfen. In meiner Seniorengruppe sind aber alle geimpft, deshalb wurde ich dauernd kritisiert. Man warf mir vor, egoistisch zu sein und andere zu gefährden. Es hiess: Wir Alten müssen mit den Jungen, die wegen uns auf vieles verzichtet haben, solidarisch sein! Als der Druck unerträglich wurde, knickte ich ein. Ich mache mir Vorwürfe, weil ich mich dem Gruppenzwang gebeugt habe. Zudem gebe ich mir die Schuld für die gesundheitlichen Probleme, die ich seit der Impfung habe.» Ältere Personen verfügen über ein kleineres soziales Netz, das sie nicht gefährden möchten, weil es ihnen Sicherheit gibt und ihre Identität stärkt. Ferner ist es eine menschliche Urangst, ausgegrenzt zu werden, wenn man sich nicht anpasst.

In der Schweiz besteht kein Impfzwang. Doch die politische Führung hat keine ethischen Bedenken, Geimpften Privilegien zu gewähren und damit das Volk in zwei Kategorien einzuordnen. Es wird eine Spaltung provoziert, die seelisches Leid in Beziehungen und Familien erzeugt, wie das folgende Beispiel zeigt. Eine junge Frau suchte fachliche Hilfe, weil sie plötzlich Panikattacken hatte. Im Gespräch beschrieb sie ihre Zwangslage: «In meinem Umfeld sind alle geimpft. Mein Mann und die Schwiegereltern setzen mich schon länger unter Druck, mich auch zu impfen. Bisher konnte ich einer Entscheidung ausweichen. Jetzt steht ein Fami­lienfest an, bei dem nur Geimpfte eingeladen sind. Zudem hat mein Mann Ferien im Ausland gebucht. Ich möchte ihn nicht enttäuschen, aber ich will mich nicht gegen meine Überzeugung impfen lassen.» Der geschilderte Konflikt der jungen Ehefrau ist kein Einzelfall. Seit der Einführung des Covid-Zertifikats häufen sich in meiner Praxis Beziehungskonflikte in Partnerschaft und Familie. Die politisch erzeugte Spaltung wirkt als Auslöser für «schlummernde» Beziehungsprobleme.

Indem der Bundesrat Vorteile für Geimpfte schafft, übt er indirekt mächtigen Einfluss auf die individuelle Entscheidung aus. Personen jeden Alters, vor allem junge Menschen, sind gefährdet, sich von einem Zertifikat ködern zu lassen, das Geimpften mehr Freiheit verspricht. Massgebend ist nicht mehr, was gesundheitlich das Beste wäre, sondern welche Vorteile der Impfpass bringt. Auf diese Weise entsteht eine problematische Verknüpfung zwischen den bürgerlichen Rechten und der persönlichen Impfbereitschaft.

Die Impffrage konfrontiert uns mit einer Vergangenheit, die längst überwunden schien: «Mein Körper gehört mir!» war die zentrale Forderung der Frauenbewegung in den 1970er-Jahren. Sie führte zu einem gesellschaftlichen Bewusstsein, das körperliche und gesundheitliche Selbstbestimmung als Grundrecht schützt. Im Kontext der Coronakrise zeichnet sich im privaten und öffentlichen Bereich eine katastrophale Wende ab: Entmündigung, Manipulation und Übergriffe werden mit dem Argument der gesellschaftlichen Solidarität legitimiert und zur Norm erhoben. Ethisches Handeln setzt jedoch verantwortungsvolle Selbstbestimmung voraus, die auf uneingeschränkter Akzeptanz der anderen Person mit ihren Rechten und Grenzen beruht. Sich daran zu erinnern ist ein erster Schritt zurück in die gesellschaftliche Normalität und demokratische Freiheit.

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