Jenseits von Ballenberg
Urs Niggli, fotografiert von Mafalda Rakoš.

Jenseits von Ballenberg

Mit Bioanbau lassen sich umweltfreundliche Lebensmittel produzieren. Um eine wachsende Weltbevölkerung zu ernähren, darf sich eine ökologische Landwirtschaft jedoch technologischer Innovation bei Indoor-Produktion und Gen-Editierung nicht verschliessen.

 

Die Welt steht vor der Aufgabe, jährlich für 78 Millionen zusätzliche Menschen Lebensmittel zu produzieren. Im Jahr 2050 werden 9,7 Milliarden Menschen die Welt bevölkern, und sie werden essend die natürlichen Ressourcen degradieren und verbrauchen. Das zeigen Risikoanalysen des schwedischen Nachhaltigkeitsforschers Johan Rockström, eines der meistzitierten Wissenschafter der Welt. Wir haben das Wissen, dass dieser Zustand die Grundlagen der Menschheit gefährdet.

Die Geschichte der modernen Landwirtschaft kann man als Erfolg, aber auch als Versagen erzählen. Das Bevölkerungsgesetz, Ende des 18. Jahrhunderts vom englischen Nationalökonomen Thomas Robert Malthus formuliert, besagte, dass das Wachstum in der Landwirtschaft natürlicherweise hinter der Vermehrungsrate der menschlichen Population zurückbleibt. Periodische Hungersnöte erschienen wie Naturgesetze, welche dieses Missverhältnis korrigierten. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhöhten die Agrarwissenschaften die Produktivität der Landwirtschaft derart massiv, dass trotz exponentiellem Wachstum der Bevölkerung genügend Lebensmittel zur Verfügung standen und die Umwandlung von Wäldern und natürlichen Ökosystemen zu Äckern erstmals abgebremst wurde. Hunger im 21. Jahrhundert ist die Folge von Armut, Konflikten, schlechter Regierungsführung, Naturkatastrophen und Klimawandel. Er geht Hand in Hand mit Über- und Fehlernährung und Verschwendung von Lebensmitteln.

1962 provozierte Rachel Carson mit ihrem Buch «The Silent Spring» eine andere Interpretation dieser Ausweitung der Produktionskapazitäten: Sie zeigte die grossen Nebenwirkungen der intensiven Landwirtschaft auf. Heute besteht ein breiter Konsens von Wissenschaft, Politik, vielen Landwirten und vielen Bürgern/-innen, dass eine nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen und der Energie alternativlos sei. Doch der Umbau stottert, selbst kleine Schritte der Verwaltung werden vom Parlament versenkt. Der Schweizer Bauernverband betont, was in der Landwirtschaft schon getan wurde, und nicht, was noch zu tun ist. So verändert man nichts, weder bei den eigenen Mitgliedern noch bei den Konsumentinnen und Konsumenten, die gerne ökologisch reden, aber unökologisch handeln.

«High Noon» in zehn Jahren

Bis 2030 haben sich die Vereinten Nationen Zeit gegeben, die 17 globalen Nachhaltigkeitsziele (englisch Sustainable Development Goals, SDG) zu erreichen. Die Pandemie hat die Entwicklung stark zurückgeworfen, denn es sind die Armen in allen Ländern, welche deren Opfer geworden sind. Covid-19 hat 150 Millionen Menschen mehr in den Hunger getrieben. Die Vorbereitungen für einen UNO-Welternährungsgipfel im September 2021 laufen seit einem Jahr auf Hochtouren. Weltweit wurden Tausende von Ideen und konkreten Aktionen gesammelt, um die SDG doch noch umzusetzen. Viele dieser Ideen haben auch Landwirtinnen und Landwirte, Bürgerinitiativen oder Start-up-Firmen beigetragen. Kriegen wir noch die Kurve?

Die Agrarindustrie hat mit Düngern, Herbiziden, Pflanzenschutzmitteln und PS-starken Zugmaschinen das Gelingen der Ernte ein Stück weit von der guten fachlichen Praxis der Landwirte und Landwirtinnen entkoppelt. Gute fachliche Praxis ist ein über Generationen gewachsenes Erfahrungswissen. Es bedingt exzellente Beobachtungsfähigkeit und eine gute Ausbildung.

«Die jährlich an die Landwirtschaft vom Bund

ausbezahlten 2,8 Milliarden Franken, welche an Umweltauflagen

gebunden sind, könnten eigentlich eine viel grössere

Hebelwirkung entfalten.»

Die Biobäuerinnen und -bauern haben die Konsequenzen dieser Entwicklung, welche in den Ländern des Südens zu einer Abwanderung in die Städte führte, klar gesehen, weshalb sie stets Opposition gegen die Agrarindustrie machten. Ohne gute fachliche Praxis und ohne Erfahrungswissen ist eine nachhaltige Landwirtschaft nicht möglich. Technologien können beitragen, es alleine aber nicht richten. Gerade deshalb ist der Prozess der Mobilisierung der Zivilgesellschaft, welcher in den letzten Monaten von den Organisatoren des Welternährungsgipfels in New York vorangetrieben wurde, wichtig. Er zeigt, dass Vielfalt in allen Facetten der Schlüssel zu nachhaltigen Ernährungssystemen ist.

Kein anderes Land hat so starke Klischees der Landwirtschaft verinnerlicht wie die Schweiz. Besuchen wir das Freilichtmuseum Ballenberg, dann geben uns die behäbigen Bauernhöfe, auf denen die Bauersleute beschaulich ihren Feld- und Stallarbeiten nach­gehen, eine Sicherheit, welche in anderen ökonomischen und ­gesellschaftlichen Bereichen verloren…

«Ein Sprudelbad fürs Hirn!»
Monique Bär, Philanthropin und Gründerin der Arcas Foundation,
 über den «Schweizer Monat»