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«Das ist kein Kapitalismus, sondern Technofeudalismus»
Keystone / Camera Press / Tom Oldham.

«Das ist kein Kapitalismus, sondern Technofeudalismus»

Die ultralockere Geldpolitik entkoppelt eine kleine Finanzelite von der Realwirtschaft. Freie Märkte? Das war einmal.

Watch the interview in English (with German subtitles) here.

Herr Varoufakis, während viele Menschen finanziell mit der Pandemie zu kämpfen haben, ist die Stimmung an den Finanzmärkten bemerkenswert optimistisch. Warum steigen die Börsenkurse, ­während die Realwirtschaft stagniert?

In der Theorie sollten geldpolitische Massnahmen zu einem realwirtschaftlichen Aufschwung führen: Die Zentralbanken schaffen Geld und geben es den Banken zu negativen Zinsen, in der Hoffnung, dass diese Banken es dann an Unternehmen weiterverleihen. Die Unternehmen wiederum sollen dann Leute einstellen und Einkommen schaffen, das wiederum wirtschaftliche Aktivität ­generiert und die Schulden zurückzahlt. Was jedoch tatsächlich passiert, ist etwas anderes: Die Kaufkraft der Mehrheit bleibt nach zwölf Jahren Austeritätspolitik sehr niedrig. Die Geschäftsbanken sind zu ängstlich, um das neue Geld an kleine Unternehmen zu verleihen. Stattdessen leihen sie es an grosse Unternehmen, die das kostenlose Geld horten. Sie gehen damit an die Börse und kaufen ihre eigenen Aktien zurück, so dass der eigene Aktienkurs und damit auch der Bonus des CEOs steigt. Alles ist gut. Ausser, dass all dieses Geld, das von der Zentralbank gedruckt wurde, aus gesellschaftlicher Perspektive verschwendet wird. Die expansive Geldpolitik trägt zu einem wesentlichen Teil zur steigenden Ungleichheit bei und leistet keinen Beitrag zur Milderung der Stagnation.

Was könnten die Zentralbanken Ihrer Meinung nach denn anders machen?

Sie könnten das gedruckte Geld direkt auf die Konten der Bevölkerung leiten, in Form eines universellen Grundeinkommens. Eine unbürokratisch ausbezahlte Dividende; jeder erhält den gleichen Betrag, wobei der Staat es von denen, die gar kein Grundeinkommen brauchen, in Form von Steuern zurückfordert. Dies würde die Wirtschaft auf eine Art und Weise stimulieren, wie es das derzeitige Programm der quantitativen Lockerung nicht tut. Zusätzlich könnten die Zentralbanken durch die Emission von grünen Anleihen nachhaltige Investitionen ankurbeln.

Wie nehmen Sie die aktuelle Lage wahr?

Wir stecken heute in der gleichen Krise wie die, die 2008 mit dem Zusammenbruch der grossen Banken begann, dann die Rettungsaktionen für die Finanzelite sowie die Austeritätspolitik für die Mehrheit auslöste und die Entkopplung zwischen Finanzmärkten und Realkapitalismus vorantrieb. Es wird die gleiche Technik der massenhaften Geldschöpfung durch die Zentralbank aus der Trickkiste genommen. Das bezweckt auch den gleichen Effekt: die Schaffung von immenser Liquidität für die Finanzmärkte bei gleichzeitiger Stagnation der Investitionen. Noch nie in der ­Geschichte der Menschheit hatten wir so wenig Investitionen im Verhältnis zur Geldmenge, die zur Verfügung steht.

Ist das goldene Zeitalter der Mittelklasse vorbei?

Wenn Sie sich die Vereinigten Staaten ansehen, dann ist es das schon seit den frühen 70er Jahren – seither stagnieren nämlich die Realeinkommen der unteren Mittelschicht. Der gesellschaftliche Abstieg der Mittelklasse ist kein neuartiges Phänomen.

Aber ging es der Mittelklasse in den 90ern zum Beispiel nicht besser als im Jahr 1970?

Zeitweise, in den 1990ern und den frühen 2000er Jahren, hat sich die Mittelklasse in den USA mit Geld auf Pump künstlich kaufkräftiger gemacht, als sie es eigentlich war. Sie hat sich zum Beispiel mit überrissenen Hypotheken schmucke Häuser gekauft. Diese Blase ist 2008 geplatzt. Seither haben wir «eine Geschichte aus zwei Städten»: Wir haben auf der einen Seite das oberste ­Prozent der Einkommensverteilung zusammen mit jenen aus der Mittelschicht, die es geschafft haben, sich an den Finanzierungsschub anzuhängen. Auf der anderen Seite haben wir jene, die durch die Löcher am Boden gefallen sind.

«Die Schweizer sollen Rückgrat beweisen und sich

nicht von Brüssel drängen lassen,

ihre Souveränität aufzugeben.»

Keystone / Camera Press / Tom Oldham.

Als Reaktion auf Covid-19 nimmt die Europäische Union erstmals gemeinsame Schulden auf. Ist das der erste Schritt hin zu einer gemeinsamen europäischen Fiskalpolitik?

Alexander Hamilton sagte vor sehr langer Zeit für die Vereinigten Staaten etwas, das auch heute noch stimmt: Eine gemeinsame Verschuldung ist eine Voraussetzung für eine Föderation, eine richtige politische Union, für Einheit. Warum feiere ich als überzeugter Europäer die Schaffung gemeinsamer Staatsanleihen nicht? Weil wir in Europa das Schlimmste aus beiden Welten ­zusammengebracht haben: Wir haben zwar eine gemeinsame Verschuldung, aber wir haben keine gemeinsame Fiskalpolitik. Aus meiner Sicht ist das eine verpasste Chance.

Zu Beginn der Pandemie glaubte man tatsächlich, so etwas wie Aufbruchstimmung zu erkennen: Eine Reihe von Ministern forderten die Europäisierung der Schulden im Rahmen einer echten Fiskalunion. Angela Merkel hat das blockiert. Das Thema der Euro-Anleihe wurde ad acta gelegt, man einigte sich stattdessen auf das, was heute Next Generation EU genannt wird. Nennen wir es lieber einen Wiederaufbaufonds, denn diese Begriffe, die sich die EU ausdenkt, sind lächerlich. Der Wiederaufbaufonds wird mit 750 Milliarden durch gemeinsame Anleihen finanziert. Das ist eine gute Sache. Aber dann gibt es den zweiten Teil der Geschichte: Das Geld wird von den Regierungen in Form von Strukturfonds verteilt. Für den italienischen Staat zum Beispiel bedeutet das, dass er sich noch weiter verschulden muss. Solange die Europäische Zentralbank im Rahmen des Anleihekaufprogramms diese Schulden weiter aufkauft, ist das unproblematisch. Wir wissen allerdings, dass die EZB das nicht bis in alle Ewigkeit tun wird. In Deutschland zum Beispiel hat ein Verfassungsgericht das EZB-Anleihekaufprogramm für teilweise verfassungswidrig erklärt. Ich denke, dass die EZB eines Tages damit beginnen wird, italie­nische Anleihen zu reduzieren, also effektiv zu verkaufen. Wenn das passiert, wird Italien nicht mehr tragbar sein.

Was wird dann in Italien passieren?

Die Zinssätze werden durch die Decke gehen, Italien wird einen grossen Sparschock erleiden. Die Frage ist nicht ob, sondern wann: Langfristig denkende Investoren investieren schon heute nicht mehr in Italien. Sie wissen, dass der Fiskalzusammenbruch in Italien beinahe unvermeidlich ist. Mario Draghi hat kürzlich McKinsey damit beauftragt, einige Projekte zu finden, für die man das Geld aus Brüssel einsetzen kann. Das wahre Problem, nämlich die Zahlungsunfähigkeit des italienischen Staates, bleibt dabei ­allerdings unausgesprochen. Rechte Parteien aus Nordeuropa ­haben sich traditionell gegen eine Fiskalunion ausgesprochen. Ihr Argument war stets, dass eine Fiskalunion die Umverteilung vom armen deutschen oder niederländischen Arbeiter zum italie­nischen oder griechischen Oligarchen bedeuten würde. Für eine Fiskalunion stimmt dieses Narrativ nicht, für die Auswirkungen des aktuellen Rettungsfonds hingegen schon. Politisch wird die Europäische Union durch diesen Rettungsfonds auseinander­gerissen.

In Ihrem neuen Buch «Another Now» schreiben Sie, dass «die wirtschaftliche Depression ein Nährboden für politische Monster ist». Welche Ungeheuer brüten derzeit in dieser Krise?

Das ist sehr einfach: Faschisten. In Italien zum Beispiel sind die Fratelli d’Italia im Moment die einzige Partei in der Opposition. Was glauben Sie, wer wird politisch gestärkt, wenn die wirtschaftliche Stagnation weiter anhält? Die Fratelli werden immer stärker werden. Sie sind das politische Monster, das Mussolini in den 1920er Jahren war. In Spanien haben wir die Vox-Partei, die sogar im traditionell antifaschistischen Katalonien stärker wird. In Griechenland wurden die Nazis der goldenen Morgenröte zwar aus dem Parlament abgewählt. Ihre Ideen und ihre Politik werden nun aber von der regierenden konservativen Partei übernommen.

Sie haben mächtige Zentralbanken und zunehmend autoritäre Staatsapparate angesprochen. Was hat das alles eigentlich noch mit einer freien Marktwirtschaft zu tun? Leben wir überhaupt noch im Kapitalismus?

Als ich in der Schule zum ersten Mal etwas über Politik gelernt habe, lautete das Argument für den Kapitalismus etwa so: Er garantiert gleichzeitig Freiheit und Unternehmertum. Menschliche Gier wird durch den Wettbewerb kontrolliert, Profitmaximierung ist sogar wünschenswert, solange sich keiner dem Wettbewerb entziehen kann. Weil der Bäcker, der Bierbrauer und der Metzger in ernsthafter Konkurrenz zu anderen Bäckern, anderen Bierbrauern und anderen Metzgern stehen, ist jeder einzelne von ihnen zu schwach, um sich die Gesellschaft unter den Nagel reissen zu können. Der Staat setzt Regeln und sorgt dafür, dass die Menschen nicht gewalttätig werden oder sich gegenseitig bestehlen.

Und heute?

Heute sehen wir eine sehr kleine Anzahl von Konzernen wie Facebook, Google oder Amazon, die den Markt kontrollieren. Die sind wie die Sowjetunion! Sie organisieren sich wie das Politbüro, sie haben sogar einen Breschnew, auch bekannt als Jeff Bezos. Gehen Sie einmal ins Google-Hauptquartier, dort gibt es eine sowjetähnliche Ästhetik – es singen alle die gleiche Hymne. Das ist kein Markt, das ist eine Hierarchie. Facebook ist ein Raum, der einem einzigen Mann gehört. Der zudem auch die Fähigkeit hat zu steuern, was wir auf der Plattform überhaupt zu sehen bekommen. Bei den anderen Big-Tech-Firmen ist es das gleiche: Was Big Brother Amazon mir empfiehlt, ist das, was ich sehe. Das ist ein dysto­pischer Feudalismus, ein Technofeudalismus. Weil die lasche Geldpolitik diesen sogar noch finanziert, ist er zudem staatsbasiert. Das ist kein Kapitalismus! Friedrich von Hayek, der Leute wie Margaret Thatcher inspiriert hat, würde das, was wir heute haben, niemals als Kapitalismus anerkennen. Es scheint, dass die Märkte komplett von dieser streng hierarchischen Struktur übernommen worden sind. Wenn Sie zum Beispiel die Finanzmärkte betrachten, dann hat das nur noch im entferntesten Sinn mit dem freien Markt zu tun: Goldman Sachs ist näher am Vorbild der Kommunistischen Partei Chinas als an Adam Smith.

Sie bezeichnen sich als libertären Marxisten. Wie ist das überhaupt möglich?

Ich bin der Überzeugung, dass wir alle die Pflicht haben, niemals ein Werk als Evangelium, als heilige Schrift zu lesen. Wenn ich die Werke von jemandem lese, egal ob von Shakespeare, Marx, Smith oder Hayek, dann lese ich sie als Skeptiker, niemals als Gläubiger. Das ist ein wichtiger Teil des wissenschaftlichen Erbes. Ich habe Marx gelesen und festgestellt, dass er sich ständig widerspricht. Deshalb kann ich Marxisten nicht ausstehen, die mir erzählen wollen, dass die ganze Wahrheit in Marx liege. Wie kann sie in Marx liegen, wenn er ständig mit sich selbst uneins ist?

Was haben Sie denn von Marx mitgenommen?

Das Gefühl, dass der Kapitalismus ein fantastisches und ein schreckliches System zugleich ist. Ein System, das sowohl Freiheit als auch Versklavung hervorbringt. Wenn man den Kapitalismus wirklich aus der Perspektive von Karl Marx kritisieren will, dann muss man iPhones, das Internet und die Freiheit, die uns der Markt gibt, schätzen können. Im Kapitalismus kann man Dinge kaufen und muss sich nie erklären, weshalb man das tut. Du willst es, also nimmst du es. Das ist grossartig! Gleichzeitig muss man verstehen, dass die Kapitalakkumulation ein Prozess zur Schaffung von Technofeudalismus ist und uns so den Weg in die Knechtschaft ebnet. Ist eigentlich irgendjemand mit dem Status quo zufrieden? Sogar Reiche hausen hinter dicken Mauern und konsumieren Drogen, um mit der Entfremdung klarzukommen. Warren Buffett hat sich einmal beklagt, dass er in einer Gesellschaft lebe, in der seine Klasse den Klassenkrieg gewonnen habe. Ich glaube nicht, dass irgendjemand mit dem Kapitalismus, so wie er ist, glücklich ist.

Die Schweiz verhandelt derzeit mit der Europäischen Union über ein Rahmenabkommen, das das Land näher an die EU und ihr Rechtssystem heranführen soll. Riskieren wir damit, dass unser nationale ­Souveränität ausser Kraft gesetzt wird, wie das bei Griechenland passiert ist?

So schlimm wird es bei Ihnen niemals werden, Sie haben den Schweizer Franken! Wenn Brüssel einen Knopf drücken könnte, um alle Geldautomaten in der Schweiz abzuschalten und Ihre Banken zu schliessen, dann wären Sie in ernsthaften Schwierigkeiten. Dann wäre es mit Ihrer nationalen Souveränität vorbei.

Was raten Sie uns?

Ich schätze das politische System der Schweiz sehr, vor allem ihre Verfassung. Ich sage schon seit Jahren, dass sich die Europäische Union das zum Vorbild nehmen sollte. Opfern Sie sie nicht für ­einige Vorteile, die Ihre Finanzmärkte durch eine grössere Nähe zur Europäischen Union erhalten könnten. Die Schweizer sollen Rückgrat beweisen und sich nicht von Brüssel drängen lassen, ihre Souveränität aufzugeben. Politische Souveränität kann ­sowohl für gute als auch für schlechte Dinge verwendet werden. Die Schweizer haben sie schon sehr lange für gute Dinge genutzt. Bewahren Sie Ihre Fähigkeit, als politisches Gemeinwesen zu ­agieren! Sie haben international eine Vorreiterrolle bei der Kombination von direkter und indirekter Demokratie eingenommen; das ist ein unheimlich kostbares Geschenk Ihrer Vormütter und Vorväter. Vergeuden Sie es nicht!

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