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Der Abstieg der Mittelklasse
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Der Abstieg der Mittelklasse

Der Kapitalismus hat Wohlstand für breite Teile der Bevölkerung geschaffen. Seine Big-Tech-Variante bedroht ihn.

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In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Mittelschicht weltweit auf dem Vormarsch, expandierte und dominierte in den meisten Ländern die nationale Politik und Kultur. Doch in den letzten Jahrzehnten hat sich dieser Prozess langsam umgekehrt, in den USA ebenso wie in Europa und zunehmend auch in Asien.

Diese Erosion der Mittelschicht hat viele Wurzeln. Die Globalisierung hat viele Arbeitsplätze der Mittelschicht vernichtet, sei es in Fabriken oder vermehrt im Dienstleistungssektor, und sie nach China, Indien und in andere Entwicklungsländer verlagert. In vielen Staaten hat die Einwanderung, vor allem aus armen Ländern, die Löhne unter Druck gesetzt. Das betrifft weniger qualifizierte Arbeitnehmer, zunehmend jedoch auch Fachkräfte.

In den Vereinigten Staaten, dem vielbeschworenen Land der unbegrenzten Möglichkeiten, ist die Wahrscheinlichkeit, von der Mittelschicht auf die obersten Sprossen der Einkommensleiter aufzusteigen, seit den frühen 1980er Jahren um etwa 20 Prozent gesunken. In den 36 Ländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) haben die reichsten Bürger einen immer grösseren Anteil am Bruttoinlandsprodukt, während die Mittelschicht kleiner geworden ist. Ein Grossteil der globalen Mittelschicht ist stark verschuldet, vor allem wegen der hohen Wohnkosten, und wirkt zunehmend «wie ein Boot auf stürmischer See», wie die OECD schreibt.

Traditionell würden sich die Klassen, die am meisten unter dem von Experten gepriesenen «transformativen Wandel» leiden, an die politische Klasse wenden, die sich mit ihren Interessen identifiziert. Doch vielerorts sind die Parteien, die einst stark mit den Interessen der Mittel- und Arbeiterklasse verbunden waren – die Labour-Partei in Grossbritannien und Australien, die deutschen Sozialdemokraten oder die amerikanischen Demokraten –, nicht mehr der Arbeiterklasse zuzuordnen, sondern werden von einer Allianz von Ultrareichen, insbesondere aus der Tech-Branche, von gutverdienenden Fachkräften, Regierungsangestellten und von jenen, die am meisten von staatlicher Hilfe abhängig sind, dominiert.

Der Kapitalismus wuchs aus dem Boden

Die antiken Demokratien in Athen und Rom stützten sich auf eine selbstbewusste, besitzende Mittelklasse. Später, als sich diese Gesellschaften immer mehr in Sklaven und Eliten spalteten und die Mittelschicht verdrängt wurde, wurden sie monarchischer und autokratischer. Im kaiserlichen Rom wurden Kleinbauern und Handwerker durch Sklaven ersetzt, die aus den entlegenen Gebieten des expandierenden Reiches importiert wurden. Beruf und ­sozialer Status waren durch Herkunft bestimmt. Am Ende der römischen Republik befanden sich über 75 Prozent des gesamten Eigentums im Besitz von etwa 3 Prozent der Bevölkerung, während über vier Fünftel kein Eigentum besassen. Dies waren die Wurzeln der politischen Ökonomie, die das Mittelalter bestimmen sollte: des Feudalismus.

Dieser Prozess kehrte sich langsam um, beginnend mit dem Aufstieg der autokratisch regierten Republik Venedig und anderer Handelsstaaten. Die wichtigste Entwicklung spielte sich in den Niederlanden ab, wo sich der Grundbesitz ausweitete, als Sümpfe trockengelegt und Deiche erhöht wurden, so dass mehr Menschen Land besitzen konnten. Wie der Wirtschaftshistoriker Jan de Vries beobachtete, «wuchs der Kapitalismus in Holland aus dem Boden».1

Mit dem Kapitalismus und einer aufstrebenden Mittelschicht wurden die Niederlande zu einem Vorläufer der modernen Demokratie, frei von aristokratischer oder klerikaler Herrschaft, da die Vertreibung der feudal gesinnten spanischen Herrschaft das Bürgertum stärkte. Die Niederländer erweiterten die Menschenrechte, einschliesslich der Rechte von religiösen Minderheiten und Frauen. Die holländische Kultur war familienzentriert, innovativ, nüchtern, sparsam und tolerant. Einwanderer arbeiteten als Kaufleute oder Handwerker, aber selbst der Ärmste, so bemerkte ein Niederländer 1692, «kann nicht an Hunger sterben, wenn er hart arbeitet».

«Ohne die Aussicht auf einen Aufstieg gibt es

für Einwanderer, Minderheiten und für Millennials

wenig Grund, die Demo­kratie hochzuhalten.»

In den folgenden Jahrhunderten kam es in weiten Teilen Euro­pas, Nordamerikas und Ozeaniens zum Aufstieg freier Bauern. Der Kapitalismus endete nicht in der von Marx vorhergesagten Dystopie, sondern hob breite Massen empor und schuf eine solide Mittelklasse (die Bezeichnung wurde erstmals 1812 in Grossbritannien verwendet). Eine Studie zu Grossbritannien, den Niederlanden und den Vereinigten Staaten zeigt, dass in ­allen drei Ländern die Konzentration des Reichtums von den 1820er bis in die 1970er Jahre rapide abnahm. Nie zuvor waren so viel Wohlstand und relative wirtschaftliche Sicherheit so weit verbreitet.

Bezos profitiert, der Rest stagniert

Seit den 1970er Jahren ist das Wohlstandsgefälle zwischen Haushalten mit mittlerem und hohem Einkommen in den USA gewachsen. Gemäss Daten des Census Bureau ist der Anteil des natio­nalen Einkommens, der an die mittleren 60 Prozent der Haushalte geht, auf ein Rekordtief gefallen. Die Vermögenszuwächse der letzten Jahrzehnte gingen überwiegend an das oberste 1 Prozent der Haushalte, insbesondere an die obersten 0,5 Prozent.

In diesem Zeitraum hat eine wohlhabende Schicht von etwa 1,35 Millionen – das oberste 1 Prozent – gut abgeschnitten, während sich die grössten Zuwächse vor allem auf das oberste 0,1 Prozent konzentriert haben, das etwa 150 000 Personen ausmacht. Seit Mitte der 1980er Jahre ist der Vermögensanteil derjenigen, die unter den obersten 10 Prozent liegen, um 12 Prozentpunkte gesunken – genauso viel, wie das oberste 0,1 Prozent gewonnen hat. Diese Entwicklung hat sich in der Pandemie noch beschleunigt. Im vergangenen Jahr hat Amazon den Gewinn verdreifacht und Jeff Bezos sein Vermögen um 70 Milliarden Dollar ver­grössert; insgesamt sind Milliardäre seit März 2020 um über eine Billion Dollar reicher geworden. Alphabet, Amazon, Apple, Facebook und Microsoft machen inzwischen 20 Prozent des gesamten Wertes des amerikanischen Aktienmarktes aus.

Währenddessen sind Millionen von Amerikanern in die ­Armut abgestürzt oder stehen kurz davor. Während grosse Ladenketten während der Lockdowns Rekordumsätze meldeten, haben über 160 000 kleine Geschäfte geschlossen. Eine Umfrage der ­Interessengruppe Main Street America geht davon aus, dass bis zu 7,5 Millionen kleine Unternehmen ihr Geschäft aufgeben werden, wenn die Krise bis zum Ende des Jahres andauert. Amerika ähnelt zunehmend einem «Feudalismus mit besserem Marketing», wie es der Publizist Antonio García Martínez ausdrückte.

In den europäischen Ländern, die für ihren ausgebauten Wohlfahrtsstaat bekannt sind, zeigt sich das gleiche Muster. Die soziale Mobilität hat in mehr als zwei Dritteln der Länder der EU abgenommen, darunter auch Schweden. Deutschland ist im Vergleich mit anderen EU-Mitgliedsstaaten deutlich ungleicher, wobei reichere Haushalte einen grösseren Anteil des Vermögens kontrollieren als in den meisten anderen westeuropäischen Staaten. Die untersten 40 Prozent der deutschen Erwachsenen besitzen fast gar kein Vermögen. In Grossbritannien hat der Rückgang von Arbeitsplätzen im mittleren Lohnsegment die Löhne am unteren Ende der Skala gedrückt und die Arbeitslosigkeit unter den Jungen erhöht; allgemein hat diese Entwicklung die soziale Mobilität zum Stillstand gebracht.

Der gleiche Trend zeichnet sich in Ostasien ab, das bis vor kurzem ein eindrückliches Wachstum von Grösse und Wohlstand der Mittelschicht verzeichnete. Seit 1990 ist im traditionell egalitären Japan nicht nur der durchschnittliche Lebensstandard ­gesunken, sondern auch die Kluft zwischen den Wohlhabenden und allen anderen erheblich grösser geworden. In China mag der Sozialismus die herrschende Ideologie sein, aber das Land ist heute ungleicher als die meisten westlichen Nationen. Zeigte der Gini-Index – ein Mass für die Ungleichheit – im Jahr 1978 eine sehr egalitäre Situation, ist sein Wert heute höher als in Mexiko, Brasilien oder auch den USA. Die entstehende Mittelschicht hat einige Fortschritte gemacht, aber die grossen Zuwächse fanden im oberen 1 Prozent der Bevölkerung statt, und besonders in einem winzigen Teil dieser Gruppe. Das Einkommen der Ultra­reichen wuchs mehr als doppelt so schnell wie der nationale Durchschnitt. ­Chinesen aus der Mittelschicht haben es heute schwer, Wohn­eigentum zu erwerben oder aufzusteigen.

Wird sich die Mittelschicht erheben?

Chinas autokratischer Staat zeichnet sich zunehmend als Modell ab, in dem das Bürgertum zwar existieren darf, aber wenig Einfluss ausübt. Nach den Ereignissen des letzten Jahres befürchten Europa und ein Grossteil der Entwicklungsländer, in Pekings wirtschaftliche und politische Einflusszone zu geraten.

Wenn europäische und amerikanische Unternehmen eine strikte Umweltpolitik umsetzen, während China die Umwelt verschmutzt und abwartet, könnte eine europäische Megakrise zu einem «spürbaren Verlust von Wohlstand und Arbeitsplätzen» führen, analysiert der Ökonom Eric Heymann von Deutsche Bank Research. Er warnt: Die im «European Green Deal» der EU angedachte Politik wird ohne «ein gewisses Mass an Ökodiktatur» nicht funktionieren. Fritz Varhenholt, ein langjähriger Spezialist für Umweltpolitik in der SPD, teilt diese Sorge und befürchtet ­«einen dramatischen Wohlstandsverlust in Deutschland».

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass diese Politik Proteste auslöst, wie wir sie als Reaktion auf pandemie- und klimabedingte Einschränkungen bei Demonstrationen in ganz Europa gesehen haben. Nachhaltiger Widerstand könnte aufkeimen von Bürgern aus ländlichen Regionen und Agglomerationen gegen die von ­urbanen Kreisen vorangetriebene Energiepolitik, insbesondere gegen Versuche, erschwingliches Erdgas abzuschaffen und die Energiepreise auf breiter Front zu erhöhen. Dies war ein Hauptgrund für die «gilets jaunes»-Bewegung in Frankreich und ähn­liche Proteste in den Niederlanden.

Es war die Tendenz zur Übertreibung seitens der Super­reichen und ihre Euphorie für eine «progressive» Politik mit schädlichen Auswirkungen auf die einfache Bevölkerung, die zu politischen Erdbeben geführt haben: zur Wahl von Donald Trump 2016, dem Aufstieg rechtsextremer Parteien in Europa und dem Brexit. Trump mag weg sein, zumindest für den Moment. Doch das zunehmend zensorische Gebaren der Tech-Titanen, welche die sozialen Medien kontrollieren, und die Pläne, etwa den Bau von Einfamilienhäusern einzuschränken – was die Oberschicht natürlich zu umgehen weiss –, könnten die bereits grosse Kluft zwischen der Elite und weiten Teilen der Bevölkerung vertiefen.

Es besteht die Gefahr, dass das Bürgertum aus Angst vor ­Enteignung autoritären Politikern rechter und linker Prägung in die Arme läuft, wie es in den 1930er Jahren nicht nur in Europa, sondern auch in den USA geschah. Ohne die Aussicht auf einen Aufstieg gibt es für Einwanderer, Minderheiten und – was am ­erschreckendsten ist – für Millennials wenig Grund, die Demo­kratie hochzuhalten. Der Verlust des Glaubens an die Grundwerte unserer Gesellschaft ist unter jungen Menschen besonders aus­geprägt; fast 40 Prozent der jungen Amerikaner sind der Meinung, dem Land fehle eine Geschichte, auf die man stolz sein könne. Sie legen weit weniger Wert auf Familie, Religion oder Patriotismus als frühere Generationen. Die europäischen Staaten bewegen sich eher noch schneller auf dem Pfad der kulturellen Dekonstruktion, indem sie ihr eigenes Erbe geringschätzen.

Was wir erleben, ist ironischerweise eine Rückkehr zu europäischen feudalen Mustern, die wir überwunden zu haben glaubten. Letztlich geht es in diesem Konflikt nicht um Philosophie, wie es viele Konservative vielleicht bevorzugen, sondern um Klasse und Wirtschaft. Wenn die heutige (neo)liberale Ordnung den Mittel- und Arbeiterklassen nicht dient, könnten wir die Wiederkehr von Klassenkämpfen erleben, wie wir sie seit gut einem Jahrhundert nicht mehr gesehen haben

  1. Fernand Braudel: The Perspective of the World. New York: Harper & Row, 1984, S. 98, 177 – 178.

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