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Die Schweiz neu aufteilen
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Die Schweiz neu aufteilen

Werden die bestehenden Kantone durch Grossregionen ersetzt, könnte dies ihren Handlungsspielraum stärken.

 

Die Coronakrise wirft ein Schlaglicht auf Stärken und Defizite des Schweizer Föderalismus. Die politischen Herausforderungen der Pandemie spiegeln sich auch im Verhältnis zwischen den Kantonen und dem Bund. Im öffentlichen Diskurs stehen die Führungsschwäche der Kantonsregierungen, die bürokratische Unfähigkeit mancher Kantone zur Improvisation und die gegenseitige Schuldzuschiebung zwischen Kantonen und Bund im ­Vordergrund. Doch die Krise illustriert auch die Stärken des Föderalismus, als wäre sie fürs Lehrbuch geschrieben.

Die Kantone konnten ihre Antwort auf die Pandemie erstens massgeschneidert auf die Bedürfnisse der lokalen Gesellschaft und Wirtschaft und die Präferenzen der Kantonsbevölkerung zuschneiden. So schränkten einige Alpenkantone im Herbst vorausschauend Teile des öffentlichen Lebens ein, in der Hoffnung, dann die Skisaison mit geringeren Infektionszahlen eröffnen zu können. In Stadtkantonen waren die Prioritäten andere. Föderalismusverliebte werden ins Lehrbuch schreiben, dass die kantonale Politik nahe an der lokalen Realität agiere und so die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Unterschiede innerhalb der Schweiz auch politisch abbilde.

Zweitens erinnern wir uns an das Gerangel zwischen dem Bund und dem Kanton Tessin um die Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie in der frühen Phase und an das lange Zögern der Ostschweizer Kantone, ebensolche Beschränkungen zu ergreifen. In beiden Fällen reagierte die Politik auf die lokal ganz unterschiedlichen Hospitalisierungsraten. Sprich, sie bildete die unterschiedliche Betroffenheit in der Politik ab.

Lokale Innovationslabore

Drittens wurde der Bündner Gesundheitsdirektor Peter Peyer zur nationalen Symbolfigur: Er hat mit den Schnelltests eine neue Strategie aus dem Südtirol in die Schweiz gebracht und auf hiesige Verhältnisse angepasst. Diese wurde schliesslich vom Bund übernommen. Der Kanton Zürich wiederum innovierte mit dem Grundeinkommen für Kulturschaffende. Im Föderalismus dienen die Kantone oft als Innovationslabore für Lösungen, die zuerst im Kleinen erprobt werden, bevor sie weiterverbreitet werden.

Viertens ähnelte der Wettbewerb um die schnellste Öffnung der Skipisten dem Wettbewerb um die tiefste Steuerbelastung für mobile Steuerzahler und führte zu einem Dominoeffekt zwischen den Tourismuskantonen. Doch im Wettbewerb um Öffnung ­offenbarten sich ebenso mustergültig die Schwächen des Föderalismus: das Problem von Trittbrettfahrern, die in einem durchlässigen System sogleich auftreten. So fanden die Genfer Coiffeure, denen ihr Kanton das Gewerbe untersagt hatte, mitsamt Kunden Obdach bei ihren Nyoner Kollegen ennet der Kantonsgrenze – und brachten nach Feierabend vermutlich die eine oder andere Coronabazille nach Hause. In einer hochmobilen Gesellschaft macht das Virus vor Kantonsgrenzen nicht halt.

Die Institutionen der interkantonalen Zusammenarbeit spielten in dieser Krise keine tragende Rolle. Zwar tauschten sich die kantonalen Regierungen regelmässig in den Regierungs- und Fachkonferenzen aus, aber die kantonalen Interessen waren zu unterschiedlich und die auf Einstimmigkeit beruhenden Institutionen viel zu schwach, als dass die Zusammenarbeit zum Tragen gekommen wäre. Wahrnehmbar waren sie punktuell als Sprachrohr gegenüber dem Bund.

Konkordate mit Demokratiedefizit

Die Krise steht damit auch für eine Sinnkrise des Schweizer Föderalismus, die sich seit Jahrzehnten abzeichnet. Die eingangs dargestellten Stärken des Föderalismus spielen immer weniger.

Es scheint, als planten und erbrächten die Kantone ihre Leistungen viel näher an der Lebensrealität der Bürgerinnen und Bürger als Bundesbern, gerade bei regionalpolitisch bedeutenden Fragen. Doch in vielen Politikbereichen wird die Kantonsauto­nomie zur Illusion: Seit den 1970er Jahren hat sich die Zusammenarbeit der Kantone intensiviert. Die grossen Regionen der Schweiz wachsen gesellschaftlich und ökonomisch zusammen. Die Pandemie ist bei weitem nicht der einzige Lebensbereich, der an der Kantonsgrenze nicht halt macht. In vielen Politikbereichen, wo dies machbar ist, haben die Kantone darauf reagiert, indem sie zusammenspannen, mittels Konkordaten und Regierungskonferenzen. Diese betreffen die meisten kantonalen Kompetenzen, vom öffentlichen Verkehr bis zur Polizei. Politisch bringt die Zusammenarbeit aber Demokratiedefizite mit sich. Das Recht der ­Kantonsparlamente und der kantonalen Stimmberechtigten, die Politik selbständig zu gestalten, wird zum unverbindlichen Mitspracherecht in der Aushandlung von Konkordaten degradiert. Einige Kantone begegnen dem mit der Schaffung interkantonaler Parlamentskommissionen. Letztlich kann aber nur die Angleichung der politischen Ebenen an die Räume der Zusammenarbeit das Demokratiedefizit beheben.

Zweitens können die Kantone auf divergierende politische Befindlichkeiten und Meinungen Rücksicht nehmen. Gerade im 19. Jahrhundert standen die Kantonsgrenzen auch für tiefe politische Gräben, insbesondere für den Kulturkampf zwischen katholisch-konservativen und protestantisch-liberalen Kantonen. Im Rahmen ihrer Kompetenzen können die Kantone besser als der Bund auf die kantonal divergierenden Meinungen Rücksicht nehmen. Historisch preschten einige Westschweizer Kantone mit dem Frauenstimmrecht und später mit dem Ausländerstimmrecht vor. Meine Analyse der Resultate aller nationalen Volksabstimmungen seit 1874 zeigt aber, dass territoriale Divergenzen im Abstimmungsverhalten massiv zurückgegangen sind. Noch bis ins frühe 20. Jahrhundert war für das Abstimmungsverhalten in erster Linie entscheidend, ob jemand in Luzern oder Zürich, in Basel-Stadt oder im Wallis wohnte. Innerhalb der Kantone waren die Meinungen hingegen einheitlicher. In einer typischen Abstimmung betrug die Differenz zwischen zwei zufällig ausgewählten Schweizer Kantonen über 20 Prozentpunkte.

Heute hat sich die politische Landkarte der Schweiz geändert. Die Kantone ticken gleicher, die durchschnittliche Differenz ist auf 8 Prozentpunkte geschrumpft. Der Kulturkonflikt ist weit­gehend Geschichte. Der neue Konflikt zwischen einer liberalen, offenen Schweiz und Integrationsskeptikern entzweit die Stimmen stärker in als jener zwischen den Kantonen. Bei einzelnen symbolträchtigen Abstimmungen – etwa über den EWR-Beitritt oder das Verhüllungsverbot – treten Differenzen zwischen den Sprachregionen auf. Diese haben aber auf längere Sicht nicht ­zugenommen, sondern bleiben punktuell.

Eine neue politische Heimat

Anstelle der 26 Kantone lassen sich die Unterschiede in den politischen Orientierungen der Schweizerinnen und Schweizer ebenso gut in einigen wenigen Grossregionen abbilden: Westschweiz, Nordwestschweiz, Zentralschweiz, Tessin, Zürich und Ostschweiz. Also beispielsweise in den regionalen Regierungskonferenzen oder den statistischen Gross­regionen. Dies gilt übrigens nicht nur für typisch nationale Politik­bereiche (Aussenpolitik oder Sozialwerke), sondern auch für Themen in kantonaler Kompetenz, etwa in Bildungs- und Föderalismusfragen. Sechs oder sieben neue Kantone würden den Bürgerinnen und Bürgern in den meisten politischen Fragen ebenso sehr eine politische Heimat bieten wie die 26 Kantone. Eine regionale Zusammen­arbeit mittels Konkordaten und Regierungskon­ferenzen gibt es in diesen Regionen bereits, aber die Regierungskonferenzen sind auf Beratungs- und Koordinationsfunktionen beschränkt und politisch schwach legitimiert.

«In vielen Politikbereichen wird die

Kantons­autonomie zur Illusion.»

Demgegenüber liesse sich einwenden, dass die Kantone historisch gewachsen seien und den Bürgerinnen und Bürgern Identifikation böten. Eine starke kantonale Identität sollte auch mit einer regen Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an kantonalen politischen Prozessen einhergehen. Diese existiert aber nur in zwei Kantonen: Die Tessinerinnen und Jurassier beteiligen sich besonders stark an kantonalen Wahlen, stärker als auf Bundesebene. Schweizweit sieht das Bild umgekehrt aus. Die Beteiligung an Nationalratswahlen ist 14 Prozentpunkte höher als an kantonalen Wahlen. Namhafte Ausnahmen sind unattraktive Majorzwahlen: Wenn, wie unlängst in Glarus, Bisherige im Einerwahlkreis unangefochten zur Wahl stehen, sinkt die Wahlbeteiligung auch in Nationalratswahlen auf das tiefe Niveau kantonaler Wahlen.

Stattdessen wird der Wettbewerb zwischen den Kantonen durch den Finanzausgleich eingeschränkt. Das Ideenlabor mag Vorteile bringen; doch sind die kleinräumigen Kantone in einer sich globalisierenden Welt überhaupt noch in der Lage, eigenständig in einem Politikbereich Innovationskraft zu entfalten?

Heute haben sich die Kantone überlebt: Sie verlieren zusehends an Handlungsfähigkeit, die politischen Gräben zwischen den Kantonen schrumpfen und mit wenigen Ausnahmen messen die Schweizerinnen und Schweizer dem Bundeshaus einen wichtigeren Stellenwert bei als ihrem kantonalen Rathaus.

Die Kantone sind zu klein für die Leistungserbringung, unbedeutend punkto politischer Identifikation und die politischen Gräben sind in Grossregionen gut aufgehoben. Eine grosse Territorialreform könnte dem Schweizer Föderalismus neues Leben einhauchen. Die Erfahrung zeigt aber: Solange es keinen starken Druck dafür gibt, bleibt diese eine Utopie.

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