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Andrea Franc, zvg.

Öffnet die Grenze!

Seit Jahrzehnten verwehrt der Westen Afrika den Marktzugang. So entscheiden sich junge Afrikaner für die Emigration.

 

Die afrikanischen Bootsmigranten, die wir heute fast täglich in den Nachrichten sehen, sind meist junge gesunde Männer auf der Suche nach Arbeit. Sie kommen in friedlicher Absicht und mit einem offensichtlich grenzenlosen Glauben an Kapitalismus und Demokratie. Der britische Afrikaökonom und Autor des Buches «Exodus», Paul Collier, hat deshalb recht, wenn er sagt: Diese Männer werden in ihren Herkunftsländern bitter gebraucht und müssen am Auswandern gehindert werden. Aber wir hätten Colliers Stimme bereits deutlich früher, und auch nicht so selektiv, hören sollen: Seit den 1990er Jahren weist er auf die wachsende Einkommenskluft zwischen Afrika und dem Rest der Welt hin. Niemand kennt die Probleme afrikanischer Länder besser als Collier. Er hat stets betont, dass die westliche Handelspolitik gegenüber Afrika ein Teil des Problems sei. Das Beharren unserer Diplomaten auf milliardenhohen Subventionen an die europäische Landwirtschaft und Schutzzöllen sei so «beschämend, dass wir es nicht mehr akzeptieren dürfen», schrieb Collier schon 2007. Westliche Diplomaten wiederum behaupten, ihnen seien innenpolitisch die Hände gebunden. Sie verweisen auf die Bevölkerung, die eine Öffnung des Agrarmarktes ablehne. Tatsächlich war die europäische Bevölkerung bis anhin bereit, Abermilliarden für die Stützung ihrer Landwirtschaft auszugeben. Als Steuerzahler subventionierten Europäer die Landwirtschaft, als Konsumenten nahmen sie hohe Preise in Kauf. Bis anhin hatten Europäer auch kein Problem damit, dass ihre Diplomaten in Verhandlungen mit ärmsten afrikanischen Ländern die europäische Landwirtschaftspolitik erbarmungslos verteidigten. Jede europäische Kuh lebt von mehr Geld pro Tag als Millionen von Afrikanern. Die Massen von afrikanischen Wirtschaftsmigranten könnten hier ein Umdenken bewirken.

Von der Dekolonisierung bis zur WTO

Die Autoren dieser Zeitschrift haben seit Jahrzehnten gepredigt, der Staat solle sich überall zurückhalten, zurückziehen und der privaten Initiative den Vorrang lassen. Weshalb sollte dieses Credo nicht für unsere Beziehung zu Afrika gelten? Tagesaktueller politischer Aktionismus nährt nur die Illusion, die tausenden Afrikaner auf Arbeitssuche liessen sich tatsächlich mit ein paar weiteren Steuermillionen und asylpolitischen Brechstangenübungen aus den Augen und aus dem Sinn der europäischen Bürger verfrachten. Die Tragödie betrifft indes nicht nur ein paar Fischkutter im Mittelmeer, sondern den ganzen dahinterliegenden Kontinent. Sie hat sich über Jahrzehnte angekündigt. Afrika wurde seit den 1970er Jahren durch die westliche Handelspolitik von der Weltwirtschaft abgehängt. Seit den 1990er Jahren legen Boote mit Migranten an. Wie konnte es so weit kommen?

Auf die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre und den Zweiten Weltkrieg folgte in den 1950er und ʼ60er Jahren ein «goldenes Zeitalter der Globalisierung». Ein wahrer Freihandel mit tiefen Handelsbarrieren und hoher Beweglichkeit der Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit sorgte für den wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegszeit, sowohl in Europa als auch in Afrika, Asien und Lateinamerika. Die frisch unabhängigen und selbstbewussten Entwicklungsländer beriefen 1964 die Unctad ein, die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung. Die Entwicklungsländer strebten die Industrialisierung an und forderten vom Westen «Trade, not Aid». Bereits in den 1960er Jahren verstellten Handelshemmnisse, damals noch in Form von Importzöllen, den Marktzugang in die lukrativen Märkte des Westens. Das vorgeschlagene Rezept der Zollpräferenzen für arme Länder auf dem Weg der Industrialisierung wurde vom Westen vordergründig akzeptiert – im Hintergrund aber verlegten sie sich auf nichttarifäre Handelsbarrieren, die in den folgenden Jahrzehnten wie ein juristisches Dornendickicht um die Festung Europa hochwucherten.

In den 1970er Jahren tätigten viele Entwicklungsländer massive Infrastrukturinvestitionen und setzten auf den staatlichen Aufbau von Industrie – für Afrika endete dieser Weg im Schuldenfiasko. Asien hingegen schaffte die Wende und wurde für Europa und die USA rasch zur Konkurrenz. Das Multifaserabkommen innerhalb des Gatt von 1974 läutete für die westlichen Länder das Zeitalter des Neoprotektionismus ein: Der Rückbau des globalen Freihandels basierte auf einer Allianz von Konservativen, Nationalisten und Gewerkschaften. Später sollten Drittwelt- und Umweltschutzorganisationen als «nützliche Idioten» (so Paul Collier in Anlehnung an Lenin) mit Menschenrechten und Umweltschutz einen moralischen Deckmantel für die fortwährende Ausgrenzung Afrikas aus dem Welthandel bereitstellen. Stark ins Gewicht fiel auch die Schaffung der Festung Europa, die ihren kleinen Wirtschaftsraum mit weiteren Handelsbarrieren gegen aussen absicherte. Nicht nur die Industrie, sondern vor allem die Landwirtschaft wurde vor der aussereuropäischen Konkurrenz geschützt. Die Bildung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bedeutete auch die Schaffung eines gemeinsamen Agrarmarktes, der praktisch mit einem Federstrich den Import von Agrargütern nach ganz Europa massiv erschwerte und die Bahn frei für die ebenfalls massive Subventionierung der Landwirtschaft und die darauf folgende Überschussproduktion machte. Entwicklungsökonomen bezeichneten die Common Agricultural Policy (CAP) der Europäischen Gemeinschaft bereits zu Beginn der 1970er Jahren als Common Agricultural Insanity. Aus handelspolitischer Sicht wurden die ehemaligen Kolonien durch die europäische Einigung schlechtergestellt als während der Kolonialzeit.

Gleichzeitig verschrieb der IWF den überschuldeten afrikanischen Ländern in den 1980er Jahren neoliberale Rezepte: Das Experiment der staatlich geförderten Industrialisierung wird abgebrochen, die Märkte der Entwicklungsländer geöffnet. Viele afrikanische Länder werden daraufhin von Rohstoffexporteuren zu Importeuren. Nicht nur die Industrialisierung Afrikas war damit gescheitert, auch der Export von zahlreichen Rohstoffen fiel als Arbeitsmarkt weg. Klassisches Beispiel und Spitze des Eisbergs ist der Zucker, der im geeinten Europa der Nachkriegszeit nunmehr aus subventionierten europäischen Zuckerrüben anstatt aus tropischem Zuckerrohr stammte. Die in den 1960er Jahren ausgebildeten afrikanischen Ärzte und Intellektuellen gingen in den 1980er Jahren ins Exil nach Frankreich, USA, Deutschland und Grossbritannien: Man bezeichnet das heute als erste Etappe des Brain-Drain in Afrika.

1986 dann die Uruguay-Runde des Gatt: die Industrieländer weigern sich, ihre Subventionen an die Textil- und insbesondere die Agrarindustrie aufzugeben. Im WTO-Agrarabkommen von 1994 wird die Landwirtschaft schliesslich ausgeklammert. Ende der 1990er Jahre legen erste Boote mit afrikanischen Migranten in der Nacht von Marokko nach Südspanien über, die «Clandestinos» arbeiten in den von der EU subventionierten Früchteplantagen in der spanischen Region Murcia: die Common Agricultural Insanity hatte eine neue Stufe erreicht.

Seattle 1999, Doha 2001, Cancun 2003: Die WTO-Verhandlungen stocken, weil der Norden dem Süden in der Landwirtschaft weiterhin keine Zugeständnisse machen will. Die afrikanischen Länder Benin, Burkina Faso, Tschad und Mali wandten sich im Vorfeld der Doha-Verhandlungen 2003 an die WTO und baten darum, die massiven Subventionen der USA und der EU an ihre Baumwollproduktion zu stoppen. Allein im Bereich der Baumwolle waren den afrikanischen Baumwollproduzenten durch westliche Subventionen Einnahmen von jährlich einer Viertelmilliarde US-Dollar entgangen. Ähnliche Beträge können für Agrarprodukte wie Mais, Getreide, Nüsse und Früchte, aber auch Fleisch und Fisch angenommen werden. Der Antrag der vier afrikanischen Länder, das Thema Baumwolle auf die Agenda zu setzen, war bis heute das einzige Mal, dass sich Afrika in der WTO einbrachte. Wie gesagt, bis anhin waren westliche Diplomaten und Regierungen zu keinerlei Konzessionen in der Landwirtschaft bereit. Die Abhängigkeit der afrikanischen Länder von Entwicklungshilfe sowie billigen Weizen- und Reisimporten diente westlichen Diplomaten in den Verhandlungen als Zuckerbrot und Peitsche.

Hilflose Appelle von Ökonomen

Dass wir mit den afrikanischen Bootsmigranten eigentlich nicht eine asyl-, sondern eine wirtschaftspolitische Herausforderung vor uns haben, zeigen auch die zahlreichen Wortmeldungen akademischer Ökonomen der letzten Jahre. Paul Collier prägte den Begriff der «untersten Milliarde». Er warnte zu Beginn der 2000er Jahre: Wenn der Westen nicht rasch reagiere, würden die ärmsten Länder zu einem «Elendsghetto». Jagdish Bhagwati, der wohl renommierteste Freihandelsapologet, klagte bereits bei der Gründung der WTO 1995 die Fortführung des westlichen Neoprotektionismus ein. Joseph Stiglitz, Nobelpreisträger und Kollege Colliers bei der Weltbank, forderte nach Cancun 2003 «Fair Trade für alle», auch für die ärmsten Länder. Esther Duflo und Abhijit Banerjee zeigen in «Poor Economics», dass multinationale Firmen Armut bekämpfen, indem sie – simpel und einfach – Arbeitsplätze schaffen. Dani Rodrik wiederum, ein bedeutender Ökonom unserer Zeit, versuchte das «Globalisierungsparadox» zu erklären: Er wirft seiner Zunft vor, die innenpolitischen Vorbehalte gegen den Freihandel ignoriert und unterschätzt zu haben. Kurz und gut: die Ökonomen klagen die Konservativen an wegen Protektion der Landwirtschaft, Industrie, Rüstungsexporten und Militärinterventionen am falschen Ort. Sie klagen die Gewerkschaften an wegen ihrem Beharren auf alten Arbeitsstrukturen. Sie klagen die NGO an wegen ihrem Kampf gegen Freihandel und multinationale Firmen. Sie alle wiederholen hilflos dasselbe Mantra: Wir brauchen Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum – und das geht nicht ohne einen wahrhaft freien Handel. Davon sind wir weit entfernt: Wie bereits in den 1930er Jahren verfolgen die EU und die USA eine Beggar-thy-neigbor-Politik. Sie schützen die eigene Wirtschaft mit Subventionen und Gesetzen, verhindern Direktinvestitionen ihrer Firmen im Ausland und blockieren Importe aus dem Ausland. Mit dem afrikanischen Kontinent wurde damit ein naher Nachbar Europas tatsächlich zum «Beggar», zum Bettler, gemacht.

Doch ein Hoffnungsschimmer bleibt: Lateinamerika und Asien setzten sich dagegen halbwegs erfolgreich zur Wehr, Afrika, heute wirtschaftlich abgehängt und abhängig von Hilfe, muss vom Westen den Freihandel einfordern, den er seit Jahrzehnten predigt. Nicht anders sind die Bilder der afrikanischen Wirtschaftsmigranten zu lesen.

Denn: einigen von uns sind sie noch bekannt, die Photos der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre, die grosse Gruppen von jungen Männern zeigen, die Arbeit suchen. Damals brauchte es einen Weltkrieg, um die Notwendigkeit des Freihandels in Erinnerung zu rufen und ein wirklich «goldenes Zeitalter der Globalisierung» einzuläuten. Europäische Politiker und Diplomaten sollten die Bilder afrikanischer Wirtschaftsmigranten nutzen, um ihre Bevölkerung wie auch sich selbst im 21. Jahrhundert an die Notwendigkeit und die moralische Dimension des Freihandels zu erinnern.

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