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Tour de Force: mit dem Velo quer durch Afrika

Tour de Force: mit dem Velo quer durch Afrika

15 000 Kilometer in 414 Tagen von Kapstadt bis ans Rote Meer.
Mit einem Budget von 3000 Euro.

Das auf mich einprasselnde Sand-Peeling ist schmerzhaft für die wenigen Stellen der Haut, die ich nicht schützen kann, trotz Sonnenbrille und verschleiertem Gesicht sind meine Augäpfel von roten Fäden durchzogen. Der Wind bläst so stark, dass die verdunstende Feuchtigkeit meine Augen unterkühlt. Pausenlos rauscht es in meinen Ohren, ich beuge mich noch tiefer über die Lenkstange. Je stärker es mir entgegenbläst, desto kräftiger trete ich in die Pedale, links, rechts, links, rechts. Feurig schmerzhaft spüre ich die Kraft meiner Muskeln, höre, wie mein Atem schneller wird. Hörte ich auf zu treten, würde mein Fahrrad rückwärts gedrückt. Also immer weiter. Stunden, Tage, Wochen, Monate – Tag und Nacht umgeben von verbranntem Sand, stinkenden Kadavern und Geröllfeldern. Nur wenn ich in die endlose Ferne schaue, erscheint das Rauhe geglättet.

Ein Sandsturm fegt über den heissen Asphalt der Sudanesischen Sahara.

Viele Vorstellungen, die ich von Afrika hatte, waren fehlerhaft. Durch mein Studium der Geophysik war mir bewusst, dass die Kartografie durch die Mercatorprojektion verzerrt ist, Afrika also um einiges länger ist, als es auf Karten dargestellt wird. Eine Landkarte zeigt nicht das Land. Das gilt besonders für einen Kontinent, der oft sogar als Land bezeichnet wird. Dabei könnte man in den Kontinent Afrika die USA, Grönland, Indien, China, Spanien, Deutschland, Frankreich, das Vereinigte Königreich und die Schweiz packen und hätte immer noch Platz für einen Grossteil Skandinaviens.

Die Warnungen, dass es ein armer Kontinent sei und mein Vorhaben womöglich gefährlich, waren einer der vielen Gründe, die mich zu dieser Reise verleitet haben. Ich wollte aus meiner theoretischen Fantasie Erfahrung werden lassen. Durch die Oberfläche zum Kern dringen, dort ansetzen, wo etwas beginnt, bei der Ursache. Das Wissen aus der Schule und der Uni setzt sich im Kopf fest, die emotionale Erfahrung aber lebt im Geist und im Moment.

Deshalb habe ich mir das Rad als Fortbewegungsmittel ausgesucht, das Zelt als Nachtlager, den Benzinkocher als Nomadenküche. Ich habe gelernt, auf die Zeit zu verzichten. Einige Gebote habe ich mir selbst auferlegt, zum Beispiel kein Wasser zu kaufen und mein Trinkwasser nur von Brunnen und aus Flüssen zu schöpfen. Ich war auch ohne Versicherung, Medizin oder Recherche unterwegs. Weil ich den Menschen nah und nicht anders als die anderen unterwegs sein wollte.

Mein Tag beginnt mit einem warmen Haferbrei, gespickt mit getrockneten Früchten, bevor ich mein Zelt einrolle, die unbekannten Insekten und Gräser meines Nachtlagers inspiziere und mich dann auf den Sattel hieve. Durch die Lebensmittel- und Wasservorräte für mehrere Tage wiegt mein Rad über 70 Kilo. Auf meiner Karte sind etwa alle 250 Kilometer Brunnen eingezeichnet, Menschen begegne ich kaum noch. Ich bin das erste Mal in meinem Leben in einer Wüste unterwegs, und das Faszinierende an der Kalahari ist nicht die Szenerie, sondern die Stille. Vor allem auf weichen Sandflächen, wenn sogar das Geräusch meiner Reifen völlig verschluckt wird. Nach einiger Zeit überfällt mich die absurde Befürchtung, taub geworden zu sein – unwillkürlich klatsche ich in die Hände. Glück gehabt, mein Gehör funktioniert noch.

Immer schon hat Afrika eine besondere Faszination auf mich ausgeübt. Die Wurzeln von uns allen liegen dort, und doch wusste ich kaum etwas davon. In Europa und Asien wurden Ideen und Entwicklungen von West nach Ost und von Ost nach West ausgetauscht. Nie aber zwischen Nord und Süd. Nahezu der ganze afrikanische Kontinent entwickelte sich isoliert von der eurasischen Landmasse. Schon zu Beginn meiner Reise in Südafrika fiel mir an den wunderschönen Küsten auf, wie ungünstig sich diese für Häfen darstellten. Die wenigen grossen Flüsse waren mit Wasserfällen gespickt und für den Transport überhaupt nicht geeignet. Es gibt besondere geografische Gründe, warum Afrika technologisch oder politisch nicht so erfolgreich wie Westeuropa oder Nordamerika ist.

An der Grenze zu Malawi.

Sein und Haben

Ein kleiner Marktstand mit Mangos, Avocados und Papayas, ein Metzger, eine Schneiderin, ein Schuhmacher, ein Fahrradtaxifahrer. Afrika ist der Kontinent der Kleinunternehmen, rund 95 Prozent aller Firmen fallen in diese Kategorie. Um ihr tägliches Brot zu verdienen, kalkulieren die Menschen, mit denen ich in Kontakt komme, genau richtig. Sie verstehen es, anders mit Geld umzugehen, und nutzen es als Tauschmittel, das sie, viel öfters als bei uns, oftmals direkt am gleichen Tag wieder weitergeben. Viele Reaktionen zu meinem Kinofilm «Anderswo. Allein in Afrika» bezogen sich auf die freundlichen und offenen Menschen, das warme und herzliche Lächeln jener, denen ich begegnet bin. Eine Kinozuschauerin staunte, dass «es den armen Menschen so gut geht, obwohl sie doch nichts haben!». Doch hat Armut mit Besitz zu tun?

Im Norden Malawis war ich für ein paar Tage Gast bei Malaika und ihrem Mann Jabari, die in einer bunten Gemeinschaft direkt am Ufer des fischreichen Malawisees leben. Zu ihrer Familie zählen drei Kinder und fünf Hühner, ausserdem besitzen sie ein Boot, zwei grosse Töpfe, einige Körbe, eine Machete, ein Messer, ein Fischnetz und ein Lehmhaus mit zwei kleinen Räumen. Jeden Tag paddelt Jabari vor Sonnenaufgang mit einem Einbaum auf den See hinaus, und wenig später werde ich von Malaikas lachender Stimme geweckt. Gegen Mittag begleite ich den Sohn zum See hinunter, um am Ufer auf die Heimkehr von Jabari zu warten und beim Anlegen und Ausladen zu helfen. Wegen der vielen Flusspferde hat immer einer die Wasseroberfläche im Blick. Malaika verkauft den frischen Fisch am selben Tag auf dem Markt in Karonga. Ihre offene, präsente Haltung hat etwas Sorgenfreies und im Moment Geerdetes. Es ist eine natürliche Zeitlosigkeit ohne Lasten aus der Vergangenheit.

Ich bewunderte sie für diese Form der Schönheit weit mehr als jene, die sich mit Dingen schmücken. Erst nach meiner Rückkehr lernte ich durch den Vergleich mit dem Überfluss in der Heimat zu schätzen, wie schön es sein kann, wenig zu haben. Konzentriert man sich auf das Wesentliche, kann man lernen, sich selbst genug zu sein.

Ich tauche immer tiefer ins Herz Afrikas ein. Zunehmend vermeide ich Teerstrassen, möchte mich, sooft es geht, auf den geheimnisvollen Pisten des Hinterlandes bewegen. Über den wilden Westen Tansanias erreiche ich die kleinen Staaten Burundi und Ruanda, auch bekannt als Länder der 1000 Hügel. An den fruchtbaren Hängen bauen die Menschen Tee an. Soweit das Auge reicht, leuchten die saftig grünen Hügel durch den tropischen Dunst. Während in der Kalahari zwei Menschen pro Quadratkilometer leben, sind es hier, im am dichtesten besiedelten Gebiet Afrikas, 500. Zu jeder Mittagspause, beim Wildcampen oder auf dem noch so steilen Weg zum nächsten Pass bin ich von einer Traube jubelnder Kinder umringt. Auf den von Schlaglöchern übersäten Strassen wimmelt es von farbenfroh gekleideten Menschen.

Begleitet vom feuchten, aber milden Hochlandklima überquere ich in Uganda den Äquator. Ich bin an der Grenze zum Kongo auf einer Militärstrasse durch einen Nationalpark unterwegs, als ich mein Fahrrad kurz zurücklasse und auf der Suche nach Elefanten oder Giraffen durch den Busch streife. Plötzlich ein Aufschrei, und ich bin umzingelt von drei wandelnden Büschen: perfekt getarnten Soldaten. Offenbar bin ich einige Meter an ihnen vorbeigelaufen, ohne ihre Tarnung zu bemerken. Drei Kalaschnikows sind auf mich gerichtet, mein Herz klopft wie eine Buschtrommel. Jetzt bloss vorsichtig sein, keine falsche Bewegung. Zwei Stunden halten sie mich fest, kassieren mein Bargeld ein, aber lassen mich dank etwas Redekunst wieder laufen.

Ungewisse Sicherheit auf der Grenzstrasse zum Kongo.

Allmählicher Ausstieg aus der Armut

An einer der seltenen Wasserstellen begegne ich Xabu. Fünf Jahre hat er in Kapstadt und Johannesburg BWL studiert, doch wollte er zurück in die Natur. Zurück zu seinem Pferd, zu dem er eine Verbindung wie zu einem Bruder spürt, und zurück zu seiner Familie, seiner Heimat als San, eine Ethnie der Buschmänner. Seine aus Europa kommenden Professoren haben eine Sache in Afrika nie versucht: Empathie für die Situation und die Menschen vor Ort zu entfalten. «Man fällt hin, wenn man nach den Interessen und Ideologien der westlichen Welt strebt, ohne zu spüren, was vor Ort überhaupt vorliegt. Ich glaube, unser grösstes Problem ist, dass allgemein davon ausgegangen wird, wir hätten Probleme. Mit solch einer Projektion kannst du nicht laufen lernen und dich nicht selbständig entwickeln.»

In Deutschland glauben viele, dass sich die Anzahl der Menschen, die in extremer Armut leben, in den letzten zwanzig Jahren verdoppelt hätte. Es wird auf wachsendes Chaos in der Welt verwiesen, den Rückzug der Demokratie, machtgierige Politiker, Krieg und Vertreibung. Heute wird menschliches Leid überall auf der Welt mit der Handykamera festgehalten, und Minuten später erlebt die ganze Welt es mit. Das Elend nimmt uns immer intensiver gefangen und provoziert Angst. Hinzu kommt, dass Negatives meist plötzlich und unberechenbar über uns hereinbricht. Gutes dagegen braucht Zeit, positive Entwicklungen vollziehen sich auf weniger spektakuläre Weise. Auch deswegen werden Veränderungen zum Guten nicht so stark wahrgenommen – besonders unsere medial ermöglichte emotionale Anteilnahme an den Pro­blemen der Welt vermittelt uns das Gefühl, es ginge bergab.

Ich habe mich auf der Reise immer wieder mit Statistiken und Forschung auseinandergesetzt und bin begeistert von den Analysen und Veröffentlichungen wie denjenigen von Hans Rosling. Er kann anhand von belastbaren Daten sehr nachvollziehbar aufzeigen, dass es in fast allen Belangen aufwärtsgeht – die Forschungserkenntnisse aus den Sozialwissenschaften, die sich auf gross angelegte Längsschnittstudien stützen, stehen oft im Gegensatz zu unserem Bauchgefühl: Faktisch hat sich die extreme Armut in den letzten zwanzig Jahren nahezu halbiert, wovon in Umfragen lediglich sechs Prozent ausgehen. Allein durch eine bessere medizinische Versorgung werden jährlich Millionen Menschenleben gerettet. Auch die Zahl derer, die eines gewaltsamen Todes sterben, hat deutlich abgenommen. Auch in Afrika sind Kriege lange nicht mehr so lukrativ wie ein friedlicher Handel.

Stand heute geht es den Menschen auf dieser Welt insgesamt nach nahezu allen Massstäben besser als je zuvor. Die Welt verändert sich zum Positiven – doch das pessimistische Denken bleibt. Viel bedeutsamer als eine einzelne Hungersnot, sei diese auch noch so tragisch, ist der Rückgangstrend der extremen Armut auf der Welt.

«Den Menschen auf der Welt geht es heute gut» wirkt auf mich wie ein einsamer Ruf in der Wüste der Weltuntergangsstimmung – doch ist genau das nach dieser Reise mein Eindruck. Die Welt – und damit mein Kopf – birgt Schreckliches und Schönes. Doch erst wenn ich die theoretisch möglichen Negativszenarien meinen Blick nicht mehr verzerren lasse, kann ich die Wirklichkeit erkennen. Dann erlebe ich meine eigene Wahrnehmung als Wahrheitsberührung.

Ich bin in die arabische Welt vorgedrungen und umgeben von endlosen Sand- und Geröllfeldern. Alles hat sich verändert, überall ist es staubtrocken und leer. Trotz der Strapazen tauche ich ein in die tiefe Stille, den brausenden Wind und die Geborgenheit der Weite. Ich konnte mir niemals vorstellen, dass die Wüste ein solch grandioser Ort sein würde. Dabei fahre ich 3000 Kilometer gegen den Wind, davon 73 Tage auf ebener Strecke mit Schrittgeschwindigkeit. Die Strasse glüht in der Mittagshitze, und die grösste Gefahr sind die Busfahrer, die mich im Wüstenstaub leicht übersehen können. Durch das Rauschen des Windes kann ich nicht hören, wie sie von hinten heranrasen. Mein Rückspiegel ist meine Lebensversicherung. Immer wieder fährt mir der Schreck in die Glieder, wenn ich einen Bus übersehen habe und er nur wenige Zentimeter an mir vorbeischiesst.

Im Morgenlicht am Bunyonyi-See in Uganda.

Inzwischen schlafe ich ohne mein Zelt, lege mich abends einfach in den warmen Wüstensand und schiebe mein Rad vor dem Sonnenaufgang wieder auf die Strasse. Gegen 7 Uhr morgens bläst der Nordpassatwind in voller Stärke, manchmal schreie ich ihm entgegen, dann belächle ich ihn wieder für seine Feigheit. Nur den Gedanken ans Aufgeben lasse ich in keinem Moment an mich her­an. Schon gar nicht jetzt, so kurz vor Ende der Reise. Ich quere vom Sudan nach Ägypten, passiere die beeindruckenden Tempelanlagen von Luxor und verlasse den Nil in Richtung Osten auf meiner letzten Etappe dem Roten Meer entgegen.

Nach und nach realisiere ich: Ich bin einmal durch ganz Afrika gefahren. Ich rufe in die Berge und es hallt zurück, ich singe, lache und juble. Ich hatte anfangs nicht den Plan, hier oben anzukommen, doch jetzt bin ich stolz, es geschafft zu haben. Was für eine Lebenserfahrung: Ich konnte Afrika mehr als ein Jahr erleben – für nicht mehr als rund 3000 Euro. Ich habe ohne Schutz in der Natur geschlafen, mich ernährt wie die Einheimischen, an denselben Wasserstellen getrunken, an ihrem Leben teilgenommen.

Afrika, zu Beginn meiner Reise ein abstraktes Gebilde, hat sich mit Leben gefüllt. Mit Bildern, Gerüchen, Erlebnissen und ganz vielen Menschen. Nicht jeden Meter, den ich auch mit eigener Kraft zurückgelegt habe, konnte ich geniessen. Ich hatte Krankheiten, Pannen und Unfälle. Und natürlich habe ich Einsamkeit erlebt, Verzweiflung, sogar Angst. Aber ich habe immer erlebt, dass wildfremde Menschen mir helfen, mich zum Abendessen einladen oder mich einfach nur anlächeln. Und für mich selber habe ich gelernt: Wenn ich in eine her­ausfordernde Situation gerate, liegt es allein an mir, einen Weg herauszufinden. Und solange ich mir einen Weg vorstellen kann, kann ich ihn auch gehen. Oder fahren. Sogar, wenn er 15 000 Kilometer lang ist, 414 Tage dauert und durch 15 Länder führt.

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