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«Das Streben nach absoluter  Sicherheit bedeutet minimale Freiheit»
Christian Lindner, zvg.

«Das Streben nach absoluter
Sicherheit bedeutet minimale Freiheit»

Die Pandemie droht das etatistische Denken weiter zu befördern, sagt der Chef der deutschen FDP. Trotzdem sieht er die Aussichten für eine bürgerlich geprägte Regierung besser als vor vier Jahren.

Zum Interview als Videogespräch

Christian Lindner, die Umfragen für die Bundestagswahlen sehen nicht schlecht aus für Ihre Partei. Es fehlt nicht viel und Sie erreichen sogar einen höheren Wähleranteil als die Schweizer FDP, das hat es noch nie gegeben in der Geschichte. Was machen Sie besser als die Schweizer?

Na, die FDP in der Schweiz ist schon noch stärker als wir in Deutschland. Zu unserer aussichtsreichen Lage beigetragen hat nach meiner Überzeugung erstens unser Kurs in der Pandemie. Wir haben Corona immer als eine gefährliche Erkrankung begriffen, aber zugleich eine grössere Sensibilität gehabt für die Freiheit der Menschen und ein grösseres Bewusstsein dafür, dass ein Lockdown auch Schäden verursacht, wenn Geschäfte geschlossen sind oder Kinder nicht in die Schule gehen können. Zum Zweiten ist nach der Pandemie die Frage nach soliden Finanzen und einem neuen wirtschaftlichen Aufschwung dringlich geworden. Zum Dritten hat die Pandemie schonungslos Defizite im Staat offengelegt, etwa bei der Digitalisierung der Bildung, der Digitalisierung der Verwaltung oder der Qualität der digitalen Infrastruktur. Bei diesen vorwärtsgerichteten Fragen trauen die Menschen offenbar der FDP etwas zu.

Vor vier Jahren haben Sie die Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition mit Union und den Grünen spektakulär scheitern lassen. Bereuen Sie den Entscheid?

Nein, wir haben ihn ja auch nicht leichtfertig getroffen. Wir sind nach einer Zeit ausserhalb des Bundestages in das Parlament zurückgewählt worden, weil wir für etwas Bestimmtes stehen: den Gedanken an den einzelnen Menschen, der sein Leben selbstverantwortlich führen soll. Vor vier Jahren war das Angebot von Frau Merkel und den Grünen eine weitere Linksverschiebung Deutschlands.

Sind die Aussichten für eine liberal geprägte, bürgerliche Regierung in der Zwischenzeit wirklich besser geworden?

Ja. Merkel und die Grünen waren sich bereits damals handelseinig. Nun gibt es bei der Union mit Armin Laschet ­einen Kanzlerkandidaten, der im grössten Bundesland Nordrhein-Westfalen erfolgreich mit der FDP eine Regierung führt. So sind die Aussichten gleich ganz andere.

Unter welchen Umständen wird die FDP Teil der nächsten Regierung sein?

Wenn die Regierung eine Politik der Mitte macht und es nicht weiter nach links geht. Konkret: Mit der FDP in der Regierung sind Steuererhöhungen ausgeschlossen. Wir leben bereits im Höchststeuerland – jede weitere Erhöhung würde zu Lasten privater Investitionen gehen, die wir brauchen für Digitalisierung und Dekarbonisierung. Deshalb müssen wir den Staat zurücknehmen. Zweitens wird mit der FDP in der Regierung die Schuldenbremse in der Verfassung erhalten bleiben. Während der Pandemie sind viele neue Staatsschulden aufgelaufen. Wir müssen wieder zurück zur Disziplin, auch im Staatshaushalt.

Die Staatsquote in Deutschland liegt inzwischen über 50 Prozent. Warum gelingt es der FDP nicht, hier Gegensteuer zu geben?

Wir geben Gegensteuer! Es ist nicht einmal nur die hohe Staatsquote, es ist auch die starke Zunahme der Sozialausgaben in den kommenden Jahren aufgrund der Alterung der Gesellschaft, die mich besorgt. Da braucht es tatsächlich die FDP, um wieder auf einen Pfad der Solidität zurückzukehren. Der Staat kann nicht auf Dauer mehr Geld ausgeben, als er einnimmt – aber das ist in unserem Land hochumstritten! Viele Menschen wünschen sich eher zusätzliche Steuererhöhungen, weil sie glauben, einen Teil der Gesellschaft belasten zu können. SPD, Grüne und Linkspartei zeigen dann immer auf «die Reichen». Dabei sind das in Wahrheit die Menschen, die Ausbildungs- und Arbeitsplätze schaffen, die in grüne Technologien investieren. Auch wird der Eindruck erweckt, man könne auf Dauer Politik auf Pump machen, ohne dass es wirtschaftliche Auswirkungen hätte. Dabei sehen wir bereits das Inflationsrisiko

«Ich kenne keine Frage, die die AfD aufwerfen würde,

wo die FDP nicht eine bessere Antwort hätte.»

In der Coronapandemie hat der Staat seine Rolle weiter ausgedehnt. Die Freiheit ist massiv eingeschränkt worden. Ist das eine Chance für Liberale?

Es macht zumindest eine Gefahr deutlich. Ich erwarte nicht, dass die Freiheitsbeschränkungen auf Dauer fortgesetzt werden und das Verhältnis zwischen Parlament und Regierung ausgehebelt wird. Deutschland ist ein demokratischer Rechtsstaat, und die Parteien des demokratischen Zentrums sind weit weg von Vorstellungen, die die Demokratie und die Bürgerrechte dauerhaft aushöhlen würden. Trotzdem kann es eine Art mentalitätspolitischen Shift geben. Menschen könnten verlernen, staatliche Anordnungen und Regeln kritisch zu hinterfragen, den Staat wichtiger nehmen als die eigene Freiheit und wegen der enormen Dimension der vor uns stehenden Aufgaben – Demografie, Digitalisierung, Klimaschutz – die politischen Inhalte stark auf den Staat konzentrieren wollen: Der Staat muss verbieten, der Staat muss produzieren, der Staat muss fördern und subventionieren. Das droht die Möglichkeit des einzelnen Menschen, sein Leben selbstbestimmt zu führen, zu beschneiden.

Zu dieser Mentalität gehört auch das Streben nach absoluter Sicherheit und Nullrisiko. Ist das nicht eine Illusion, ja sogar der direkte Weg in den Totalitarismus?

Ja, das Streben nach absoluter Sicherheit bedeutet minimale Freiheit. Deshalb geht es immer um die Frage der Verhältnismässigkeit, um kalkulierbare Risiken, und zwar in jeder Hinsicht. Es gibt Schicksalsschläge, gegen die Sie und ich uns nicht individuell schützen können, da brauchen wir die Solidargemeinschaft. Aber wer jedes Risiko ausschliesst, dementiert auch jede Chance. Wir müssen eine Gesellschaft sein, die grundlegende Sicherheit garantiert, die den einzelnen Menschen stark macht durch Bildungschancen. Aber wir brauchen darüber hinaus den Wunsch nach Freiheit und Eigenverantwortung, die Freude am Erfinden statt am Verbieten und – vielleicht zu pathetisch gesagt – die Liebe zur Freiheit und die Grosszügigkeit, dem anderen Freiheit zuzugestehen.

Und doch hat man den Eindruck, dass die Kritik der FDP an der Coronapolitik der Regierung eher zurückhaltend ist. Wäre es jetzt nicht an der Zeit für Liberale, aufzustehen und einzustehen für die Freiheit?

Wir stehen ein für die Freiheit. Wo die Massnahmen nicht verhältnismässig sind, kritisieren wir sie. Gegen die Ausgangssperren bei beherrschbarem Pandemiegeschehen im Rahmen der sogenannten Bundesnotbremse sind wir sogar ans Verfassungsgericht gegangen. Auch jetzt kritisieren wir Freiheitseinschränkungen für Geimpfte und Genesene, von denen keine Gefahr mehr ausgeht, sowie die Ankündigung etwa aus der CSU, dass im Herbst Ungeimpften der Zugang zum öffentlichen Leben komplett versagt werden könnte. Das ist nicht mit unseren Bürgerrechten vereinbar. Wir haben aber auch eine staatspolitische Verantwortung: Wir sind eine Partei, die in der Regierung wirken will, und deshalb bedienen wir nicht nur die Protestgefühle im Moment, sondern beziehen eine Position, die auch in der Regierungsverantwortung vertretbar ist. Das unterscheidet uns von anderen Oppositionsparteien.

Ein gutes Stichwort. Vor sechs Jahren haben Sie im «Schweizer Monat» gesagt: «Die AfD gibt es in Deutschland de facto nicht mehr.» Das war eine kolossale Fehleinschätzung.

Die AfD, wie es sie damals gegeben hat, gibt es in Deutschland nicht mehr. Heute ist die AfD eine Partei, die völkisch-autoritäres Gedankengut pflegt, eine Sammlungsbewegung von Rechten und Verschwörungstheoretikern. Die eurokritischen bürgerlichen Ursprünge der AfD sind komplett ausgelöscht.

Zeigt die Tatsache, dass die AfD weiterhin eine Rolle spielt, nicht auch, dass sie legitime Fragen aufwirft, die die anderen Parteien offensichtlich nicht zufriedenstellend beantworten, beispielsweise in der Pandemiepolitik, der Europapolitik oder der Migrationspolitik?

Ich kenne keine Frage, die die AfD aufwerfen würde, wo die FDP nicht eine bessere Antwort hätte.

Davon müssen Sie die Wähler überzeugen.

Die Wähler der AfD sind oft genug Menschen, die das autoritäre Weltbild der Partei teilen, die nicht das Individuum im Blick haben wie wir, sondern Deutschland als eine völkische Gemeinschaft mit einem einheitlichen Willen begreifen. Dieses antiliberale, antipluralistische Bild teilen wir nicht. Deshalb ist die AfD für mich kein Gesprächspartner. Es gibt einen Teil der Wähler der AfD, die diese Partei aus anderen Motiven wählen – weil sie etwa das Gefühl haben, dass der ländliche Raum vernachlässigt wird, weil es kein Glasfasernetz gibt. Dieser Eindruck ist richtig. Andere fühlen sich vom Staat behelligt mit Bürokratie, während er auf der anderen Seite nicht in der Lage war, die Migration nach Deutschland zu ordnen und zu kontrollieren. Diesen Menschen muss man sagen, dass sie recht haben und dass die FDP dafür Lösungen hat. Wenn die Menschen mit Blick auf Europa das Gefühl haben, es gehe in die falsche Richtung, muss man ihnen sagen, dass der Austritt aus der EU, für den die AfD ist, unser Land massiv beschädigen würde. Aber die finanzpolitische Eigenverantwortung der Mitglieder der Währungsunion muss erhalten bleiben; es braucht auch eine wirksame Politik zum Schutz der Aussengrenzen. Darüber hinaus brauchen wir bei Fragen wie Freihandel oder dem digitalen Binnenmarkt eher mehr Europa als weniger.

Die EU hat im Zuge der Pandemie erstmals gemeinsame Schulden aufgenommen. Die Schuldenunion ist Tatsache. Macht Ihnen das Sorgen?

Ja, diese Entwicklung müssen wir ganz aufmerksam beobachten. Der Charakter dieser Entscheidung wird aber erst in den nächsten Jahren festgelegt. Ursprünglich war ja geplant, dass sehr viel Geld ohne Gegenleistung verteilt wird und dass dieser Mechanismus auf Dauer bestehen bleiben könnte. Es ist auch der Intervention des niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte zu verdanken, dass diese Absicht von Frau Merkel und Herrn Macron modifiziert wurde. Es handelt sich um ein einmaliges Programm; Gegenleistungen in Form von Reformen werden verlangt; der Europäische Rat überwacht die Auszahlung der Mittel. Insofern hat das einen ganz anderen Charakter.

Was sagt es über die EU, dass sie sich nur noch einig ist, wenn es darum geht, Geld auszugeben?

Ich glaube, dieses Bild der EU ist verkürzt. Wenngleich es grossen Handlungsbedarf gibt, brauchen wir die Europäische Union. Der Binnenmarkt ist der beste und grösste Wachstumsmotor, er muss vertieft werden. Freihandelsabkommen schliessen wir am besten als Europäer gemeinsam, dann haben wir etwas in die Waagschale zu werfen. Aber es gibt fraglos Dinge, die gegenwärtig nicht hinreichend funktionieren: die gemeinsame Aussen- und Sicherheits­politik, der Schutz der europäischen Grenze und ein gemeinsames Migrationsmanagement. Auch über die Wirtschafts- und Währungsunion wird es in den nächsten Jahren Auseinandersetzungen geben. Manche wollen Risiken vergemeinschaften. Davon kann man nur abraten: Wer nicht haften muss für seine Entscheidungen, geht nicht zu verantwortende Risiken ein. Deshalb muss das Prinzip der Haftung in der Wirtschafts- und Währungsunion erhalten bleiben.

Die Schweiz hat ja ihre eigenen Probleme mit der Europäischen Union. Der Bundesrat hat jüngst die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen abgebrochen. Wie sehen Sie die Zukunft der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU?

Die Schweiz braucht gute Verbindungen in die EU, und die EU kann sich glücklich schätzen, einen Partner wie die Schweiz zu haben. Deshalb sollte Brüssel nach der Entscheidung der Schweiz nicht nachtreten. Auf der anderen Seite muss die Schweiz überlegen, was sie will und wo sie bereit ist, auf die EU zuzugehen. Nach dem Brexit hat es eine gewisse Verkantung gegeben: Brüssel macht weniger gern Zugeständnisse. Ob es da besonders diplomatisch war von der Schweiz, nicht ein europäisches Flugzeug für ihre Luftwaffe zu beschaffen, sollte in Bern genau überdacht werden. Ich setze mich für gute bilaterale Beziehungen ein, dafür, dass die rechtlichen Beziehungen auch aktualisiert werden, damit nicht die beiden Rechtssysteme irgendwann auseinanderfallen. Das wäre für die Schweiz wie für die EU, zumal auch für Deutschland, die schlechteste Nachricht.

Welche Frage ist in den nächsten Jahren die drängendste für Liberale?

Die Frage der individuellen Freiheit. Angesichts der entfesselten Kräfte auf den Kapitalmärkten und der Notenbankpolitik, auf die der einzelne Mensch keinen Einfluss hat; angesichts der Auseinandersetzungen zwischen den Weltregionen, auf die der einzelne keinen Einfluss hat; angesichts der Transformation von Gesellschaft und Wirtschaft für den Klimaschutz, auf die der einzelne keinen Einfluss hat, wenn allein der Staat bestimmt mit Verboten und Entscheidungen über Technologien – angesichts all dessen könnten das Individuum und seine Freiheit unter Druck geraten. Deshalb muss die Aufgabe für Liberale sein, mit einer 360-Grad-Perspektive die Freiheit einer jeden einzelnen und eines jeden einzelnen zu verteidigen. Das heisst konkret: gegen Shitstorm-Kultur und Cancel Culture; gegen Überbürokratisierung des Lebens, gegen finanzielle Überforderung durch den Staat; gegen den Machtanspruch des Silicon-Valley-Plattformkapitalismus und anderer Unternehmen, welche die Regeln des Marktes selbstherrlich diktieren könnten. Man kann als Liberaler nicht sagen: Ich bin für freien Markt, also bin ich liberal. Der Orientierungspunkt ist nicht die Ordnung, in dem sich die Menschen bewegen, die Orientierung ist der einzelne Mensch, und danach ist die Entscheidung über die Ordnung zu treffen.

In Afghanistan sind die Taliban wieder an die Macht gekommen, die Welt geht klar in eine weniger liberale, weniger demokratische Richtung. Ist die freiheitliche Weltordnung am Ende?

Die freiheitliche Weltordnung ist herausgefordert, aber sie ist nicht am Ende. In Afghanistan stellt sich die Frage, ob Nation-Building von aussen funktionieren kann, wenn es von innen keinen starken Wunsch danach gibt. Unabhängig davon sehen wir eine Volksrepublik China mit einem geradezu imperialen Anspruch, die Vereinigten Staaten, die sich gerade von verschiedenen Schauplätzen zurückziehen, ein Russland, das in jedem Konflikt mit wenig Ressourcen, aber grosser Entschlossenheit intervenieren kann. Was ist die Antwort darauf? Erstens muss die Europäische Union wieder lernen, sich auf Gemeinsamkeiten zu verständigen. Zweitens müssen wir das transatlantische Verhältnis intakt halten. Es ist insbesondere eine Aufgabe für die Europäer, auf die USA zuzugehen. Drittens gibt es viele gleichgesinnte Staaten wie Japan, Australien, Südkorea oder Kanada, die unsere Werte teilen. Diese Angehörigen des globalen Westens sollten wir stärker zusammenbringen, vielleicht unter der Überschrift einer «League of democracies». Das ist ein grosser Anspruch, aber eine solche Koalition von Multilateralisten, Demokraten und Anhängern des Rechtsstaats hätte eine prägende Wirkung auf die Welt.

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