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Update für eine Ära der Disruptionen
Georg Kohler, zvg.

Update für eine Ära der Disruptionen

Globalisierung und Urbanisierung bringen neue Herausforderungen mit sich. Zeit, das föderalistische System neu zu denken.

 

Die Sympathie für die Organisationsprinzipien des politischen Föderalismus – Subsidiaritätsnorm plus nonzentralistische Distanz gegenüber jeder hoheitlichen Macht – gehört zum Kern des helvetischen Common Sense; Sympathie wohlverstanden, ich rede vom basiskonsensuellen Geist der Eidgenossenschaft und nicht nur von ihren Institutionen. Die Legitimität von Verfassung und Gesetz hängen am Ende ja stets von einem informellen Fundament ab, dem Esprit général, um es mit Montesquieu zu sagen, von jenem grundlegenden Bürgersinn, der eine politische Grossgruppe zusammenhält, ohne den sie und ihre Gesetzesordnung brüchig werden.

Die politische Kultur der Schweiz wird bestimmt von einem Geflecht von Ideenkräften gleichen Ursprungs, die eng ineinander verwoben sind; Föderalismus ist deshalb von der direkten Demokratie so wenig zu trennen wie beide zusammen erst das Funktionieren und die Einheit der von grossen Gegensätzen durchzogenen, vielsprachigen Schweiz ermöglicht haben und ermöglichen.

Diese Wahrheit ist elementar und einleuchtend für alle, die die im Grunde hochunwahrscheinliche Konstanz und Resilienz der Schweiz im Lauf der Jahrhunderte erklären wollen. Umso heikler wird es, wenn gefragt werden muss, ob und inwiefern der Föderalismus und seine Gestaltungsimperative noch zeitgemäss sind. Doch was bedeutet das Prädikat der «Nicht-mehr-Zeit­gemässheit»?

Mindestens zweierlei: Erstens, dass sich in der Gegenwartsmoderne politisch-zivilisatorische Zusammenhänge und Problemlagen gebildet haben, mit denen der herrschende Föderalismus nicht ohne weiteres umzugehen weiss; zweitens, dass die ­gesellschaftlichen Grundlagen föderalistischer Politik von neuen sozialen Netzwerken durchkreuzt werden, die zwar auch non­zentralistisch agieren, dabei aber anderen Logiken gehorchen als denen, die den schweizerischen Föderalismus mit Zuspruch und Energie versorgen.

Die beiden Entwicklungen werde ich im Folgenden darstellen.

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Es ist nicht falsch zu sagen, dass föderalistische Strukturen den Wettbewerb zwischen den bundesstaatlichen Einheiten, also den Kantonen, fördern. Und Wettbewerb ist für Liberale prima vista eine gute Sache. Aber ist Wettbewerb immer gut, d.h. nützlich und lebensverbessernd, für das Ganze auch einer föderalen Gemeinschaft?

Am Beispiel des kantonalen Steuerwettbewerbs lässt sich die Frage mit einem klaren «Jein» beantworten. Zwar bricht die Möglichkeit, vom steuerbelastenden Kanton X in den steuergünstigen Kanton Y zu wechseln, nicht nur die Fiskalgewalt von X, sondern aller «Steuervögte», aber umgekehrt sorgt sie rasch für Trittbrettfahrerverhalten und Reichenenklaven, für soziale Spannungen, die den gemeinsamen Bund gefährden, und für wachsende Ungleichheiten, die man irgendwann zu Recht ungerecht nennen muss.

Analog sieht es aus, wenn man das Problem der subsidiären Zuständigkeiten betrachtet: Ist es vorteilhaft oder nicht, beispielsweise den Gesundheitsbereich der kantonalen Oberhoheit zu überlassen? Auch hier stehen den Pro- gewichtige Contra-­Argumente entgegen.

Wenn also «Jein» die richtige Antwort ist, kommt es darauf an, im jeweiligen Einzelfall – ergo immer wieder – bestehende ­Regelungen anzupassen oder neu zu suchen, um die Gleich­gewichte zwischen Bund und Kantonen, Gliedstaat und anderen Gliedstaaten, Gemeinwohl und Wettbewerbsgewinnern stabilitätsförderlich zu justieren.

Föderalismus funktioniert allein dann auf Dauer gut fürs Ganze, wenn er getragen ist vom nichtegozentrischen, buchstäblichen Common Sense aller, die sich als Mitglieder eines über­greifenden Bundes verstehen. Sonst dreht sich, was für ihn spricht, ins Gegenteil: «Ja, der Föderalismus mag in vielem effizienter, demokratischer und für kulturelle Vielfalt geeigneter sein als ein Zentralstaat. Aber er bietet jede Menge Gelegenheit, zu streiten und zu feilschen. Immer wieder raufen die Gliedstaaten mit der Bundesebene, manchmal auch untereinander, und in Ausnahmesituationen wie der Coronakrise beharken sich alle. Dann kommt zuverlässig der Wunsch auf, jemand solle mit der Faust auf den Tisch hauen.»1

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Die Idee des Föderalismus ist vernünftig und zu verteidigen, sofern man ihre Schwächen nicht übersieht, sondern korrigiert. Diese triviale Einsicht ist freilich um Erkenntnisse zu ergänzen, die 1848, in der institutionellen Geburtsstunde des schweizerischen Föderalismus, jenseits jedes Vorstellungsvermögens waren.

Das unvermeidliche Stichwort lautet «Globalisierung». Mit diesem Grosstrend der superindustriellen Zivilisation, der von vielen und nicht nur von technologischen Faktoren genährt wird, sind mächtige Akteure entstanden, die nicht mehr ins Schema subsidiär-gliedstaatlicher Befugnisse und bundesstaatlicher Souveränität passen: internationale Organisationen (von der UNO über IWF, OECD bis zur ILO), transnationale Konzerne, NGOs usw.; ausserdem ein suprastaatliches Gebilde wie die EU und, nicht zu vergessen, nach 1945 das atlantische Verteidigungsbündnis Nato. Sie alle zersetzen zunehmend die selbstverständliche Voraussetzung der neuzeitlichen Idee des Staates und so auch die Abgrenzungsorientierung des Föderalismus: die Gegebenheit ­eines ohne Zweifel souveränen Zentralstaates, der seine Grenzen nach aussen und seine Letztentscheidungskompetenz im Inneren zuverlässig und überall zu behaupten vermag.

Die real sich vollziehende Entmächtigung der zentralstaatlichen Institutionen entmächtigt ebenso ihre subsidiären Körperschaften. Und sie sorgt für Zentralisierungsdruck. Was der Zentralstaat nicht mehr zu regulieren vermag und womit er dem ­Diktat postnationaler Diktate gehorcht, schränkt unmittelbar die Spielräume auf der unteren Ebene ein.

Um wieder ein Exempel aus der Fiskalsphäre zu bemühen: Die Anpassung der Körperschaftssteuern, die die Schweiz auf Druck der OECD vornehmen musste, hatte sogleich die Neujustierung der kantonalen Steuerregimes zur Folge.

Diese Evolutionslogik, die die Herausbildung neuer Funktionseinheiten jenseits partikularstaatlicher Hoheitsmacht verursacht, ist freilich kein sanfter Prozess. Sie sorgt für Spannungen sowohl zwischen althergebrachten nationalstaatlichen Kulturen wie für Konflikte innerhalb der alten Zentralstaatlichkeit; Konflikte, die zu moderieren eine der wichtigsten Aufgaben föderaler Politikphilosophie immer schon gewesen ist. Fraglich ist bloss, ob sie das in der jetzigen Verfassungsgestalt auch wirklich zu leisten vermag…

Die seit je bestehenden Gegensätze zwischen Stadt und Land werden durch die postnationale Konstellation ja nicht überbrückt, sondern im Gegenteil erst recht verstärkt und bis ins Kulturkämpferische verlängert. Nicht wenige der eidgenössischen Abstimmungen der letzten Jahre liefern dafür Belege. Und es braucht kein Prophetentalent, um die gegenwärtigen Probleme des Landes mit der EU auf die Stadt/Land-Differenz zu beziehen – was freilich die oben gestellte Frage erneuert, etwa im Blick auf das Ständemehr.

Diese Bestimmung scheint mir eine erste Kandidatin für grundsätzliche Modifikationen bestehender Föderalismusregelungen; hierzulande, aber mehr noch in den USA (von wo sie in die Schweiz eingewandert ist). Denn wenn durch sie die demokratische Mehrheitsmeinung allzu oft und allzu stark konterkariert wird, entsteht eine Kluft, die überbrückt werden sollte, bevor die privilegierte Minderheitsposition zum Bruch der allgemeinen ­Zustimmung zur gemeinsamen Ordnung führt.

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Es ist nicht urbane Arroganz, wenn konstatiert wird, dass sich in den Städten neue soziale Strömungen – und deren Wirkungen – früher und heftiger als anderswo zeigen. Städte waren schon immer die Laboratorien des Wandels, der die konstitutiv konservativen Träger hoheitlicher Macht (gleich auf welcher Ebene) ­beunruhigte. Anders gesagt: Die Eigeninteressen urbaner Zentren haben in aller Regel keine natürlichen Verbündeten in den Regierungen auf jeder Stufe.

Daher überrascht es wenig, dass sich nicht erst heute informelle und formelle, zu den vorgegebenen föderalen Strukturen quer stehende Netzwerke zwischen Städten herauskristallisiert haben und dass eigentliche Metropolitanräume entstehen, mit besonderen, die vorhandenen Grenzen föderaler Einheiten überschreitenden Kooperationsbedürfnissen. Das zeigt sich auch – oder gerade – in einem Land wie der Schweiz, das geografisch vom krassen Gegensatz zwischen dem infrastrukturell dicht erschlossenen Mittelland inmitten zweier Ruralgebiete (Alpen/Voralpenregion und Jura) bestimmt wird.

Das «Stadtland Schweiz» des 21. Jahrhunderts ist daher eine nach wie vor unterschätzte Herausforderung für die vom 19. Jahrhundert (oder noch sehr viel früher) geprägten Kantonsstaaten der Eidgenossenschaft.

Verlängert man diese Überlegungen über die hiesigen Verhältnisse hinaus, wird erst recht die generelle Dynamik der heutigen Zivilisation im Zeitalter disruptiv-technologischer Möglichkeiten deutlich: Selbst die nationalstaatlichen «Container» könnten zu eng für den Eigensinn des globalen Städtewachstums werden. So regte der US-amerikanische Politologe Benjamin Barber schon 2013 ein «Parlament der Bürgermeister» an, wenn und wo die internen Abhängigkeiten der grossen Städte mit deren anderen Bindungen an die politischen Oberinstanzen föderaler oder nationaler Art nicht gut kompatibel sind, ergo das dringende Interesse an eigenen Vereinbarungen unabweisbar wird.2

Fazit: In einer Welt, in der sich – Pandemien bestätigen es – alle räumlichen Verhaftungen und kommunikativen Bezüge verändern, sind die guten Gründe für die Vorzüge föderalistisch-subsidiärer Organisationsprinzipien nicht hinfällig geworden; doch das bedeutet eben nicht, dass sie in ihrer bisherigen Form nicht veralten und fragwürdig oder sogar obsolet werden. Wenn es stimmt, dass wir im Zeitalter der Disruptionen leben, muss also auch unser Föderalismus neu durchdacht werden.

  1. Niels Boeing: Der Föderalismus. In: Zeit Wissen, März/April 2021, S. 83.

  2. Vgl. Benjamin Barber: «Wenn Bürgermeister die Welt regierten», 2013.

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