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Der «American Dream» lebt in der Schweiz
Patrick Chuard-Keller, zvg.

Der «American Dream» lebt in der Schweiz

Auch wer keine reichen Eltern hat, verfügt hierzulande über intakte Chancen, gut zu verdienen. Das hat wesentlich mit der dualen Berufsbildung zu tun.

 

Die Idee, dass alle Kinder die gleiche Chance auf Erfolg haben sollen, ist tief in unserem gesellschaftlichen Zusammenleben verankert. Wer hart arbeitet, soll auch die Früchte ernten – unabhängig von der familiären Herkunft. Doch Chancengleichheit ist nicht nur aus Gründen der Fairness wünschenswert. Es gibt auch handfeste ökonomische Gründe dafür: Können Kinder aus finanziellen Gründen nicht die Ausbildung machen, die ihren Fähig­keiten entspricht, dann lassen wir als Gesellschaft diese Talente brachliegen. Die Wissenschaft spricht von «verlorenen Einsteins».

Wie misst man, wie es um die Chancengleichheit in einem Land bestellt ist? Ganz einfach: Man vergleicht, wie stark ein ausgesuchtes Merkmal, zum Beispiel Bildung oder Gesundheit, zwischen Eltern und Kindern zusammenhängt. Je schwächer dieser Zusammenhang, desto geringer ist der Einfluss der Eltern und desto mobiler die Gesellschaft.

Obwohl die Einkommensmobilität ein wichtiger Indikator für die Durchlässigkeit einer Gesellschaft ist, verfügen erst wenige Länder über präzise Schätzungen. Das Problem: Die Datenanforderungen für eine solide Messung sind hoch. Man braucht zuverlässige und repräsentative Einkommensdaten von möglichst ­vielen unterschiedlichen Einwohnern und über einen möglichst langen Zeitraum. Ziel ist es, sowohl das Einkommen der Eltern als auch jenes der Kinder zu einem Zeitpunkt zu erfassen, der einigermassen gut das Einkommen über die gesamte Lebensspanne ­widerspiegelt.

In einer Studie1 messen Veronica Grassi und ich die Einkommensmobilität für die Schweiz erstmals mit anonymisierten Daten der AHV-Statistik. Dort werden seit 1982 sämtliche Löhne von Amtes wegen erfasst, um die Altersrente zu berechnen. Die Einkommensdaten sind also zuverlässig, vollständig und über mehrere Jahrzehnte verfügbar. Diese Löhne verknüpfen wir zwischen Eltern und Kindern und fügen weitere Merkmale aus der Volkszählung hinzu. Insgesamt können wir so das Einkommen von rund 1,1 Millionen Kindern, die zwischen 1967 und 1984 geboren sind, mit demjenigen ihrer Eltern vergleichen.

Aus statistischen Gründen vergleichen wir weder die Eltern noch ihre Kinder anhand des Einkommens in Franken. Statt­dessen betrachten wir die jeweilige relative Position in der Einkommensverteilung: den Einkommensrang. Alle Einkommen innerhalb eines Jahrgangs teilen wir in eine Rangliste von 1 bis 100 ein, wobei Rang 1 für das tiefste Einkommen steht. Es hat sich gezeigt, dass die Rangierung bereits im frühen Alter des Erwachsenseins ein guter Indikator für den Rang im späteren Leben darstellt.

Vergleichsweise hohe Mobilität

Um im Datenmeer den Überblick zu behalten, braucht es griffige Vergleichswerte, die den komplexen Sachverhalt kurz und prägnant zum Ausdruck bringen. In der Forschung haben sich dabei zwei Kennzahlen herauskristallisiert: die «Rang-Rang-Steigung» und die «American Dream»-Kennzahl.

Die «Rang-Rang-Steigung» misst, wie stark das Einkommen der Eltern mit demjenigen der Kinder zusammenhängt. Je höher diese Zahl, desto stärker der Einfluss der Eltern und desto tiefer somit die Einkommensmobilität. In der Schweiz beträgt diese Steigung 0,15. Das heisst, Kinder aus dem tiefsten Einkommensrang 1 enden im Schnitt ungefähr 15 Ränge tiefer als jene aus dem höchsten Einkommensrang 100. In Franken umgerechnet, entspricht das zum Messzeitpunkt ungefähr 12 000 Franken pro Jahr. Damit steht die Schweiz nicht schlecht da: In den USA beträgt der Unterschied 34 Ränge, in Italien 25. Sogar in Schweden und Dänemark ist der Rangunterschied mit 18 Rängen höher als in der Schweiz.

Auch bei der «American Dream»-Kennzahl schneidet die Schweiz gut ab. Diese betrachtet nur Kinder aus den ärmsten 20 Prozent der Elternverhältnisse. Gesucht wird der Anteil von ihnen, der es ausgehend von dieser Startposition im Erwachsenenalter in die reichsten 20 Prozent schafft – also die Leiter von unten nach oben aufsteigt. Falls das Einkommen der Eltern keinen Einfluss hat, würden es im Sinne einer zufälligen und unbeeinflussten Verteilung genau 20 Prozent in die obersten 20 Prozent der Einkommensverteilung schaffen. In der Schweiz messen wir rund 13 Prozent. Zum Vergleich: In den USA sind es 8 Prozent, in Italien 10 Prozent, in Dänemark 11 Prozent und in Kanada 12 Prozent. Nur in Schweden ist der «American Dream» mit 16 Prozent noch lebendiger.

«Dank der dualen Berufsbildung spielt es letztlich

eine vergleichsweise kleine Rolle für das Einkommen,

ob die Kinder jemals eine Universität besuchen.»

Es überrascht, dass die Schweiz ähnlich oder gar etwas besser als die skandinavischen Länder abschneidet. Eigenschaften, denen gemeinhin eine ausgleichende Wirkung auf die Ungleichheit zwischen Generationen zugeschrieben wird, wie zum Beispiel ein Wohlfahrtsstaat nach nordischem Beispiel, sind hierzulande weniger vorhanden. Die hohe Einkommensmobilität erscheint sogar noch erstaunlicher, wenn man den Faktor der Bildung mitberücksichtigt: Der Anteil Arbeiterkinder an Universitäten ist in der Schweiz verschwindend klein, wie unsere Studie bestätigt: Nur etwas mehr als 10 Prozent der Kinder aus tieferen Einkommensschichten besuchen das Gymnasium (siehe Abbildung). Umgekehrt findet man bei den reichsten Eltern mehr ­Kinder an Gymnasien als an Berufsschulen.

Theoretisch geht man davon aus, dass eine tiefe Bildungs­mobilität zu einer tiefen Einkommensmobilität führt. Dafür gibt es zwei Erklärungsansätze: Entweder ist das Erziehungspaket, das wohlhabende Familien ihren Kindern anbieten können, schlicht überlegen. In diesem Fall wäre es ökonomisch effizient, wenn die Kinder aus einkommensstarken Haushalten in den hohen Bildungsschichten überrepräsentiert bleiben – so unfair das auf den ersten Blick erscheinen mag. Gefährlicher wäre für eine Gesellschaft der zweite Erklärungs­ansatz: Was, wenn das Erziehungspaket von Geringverdienern und Wohlhabenden zwar gleich­wertig ist, das Einkommen aber einen direkten Einfluss auf die Bildungsentscheidung hat? In diesem Fall könnte es sein, dass eine Gesellschaft aufgrund einer ineffizienten Verteilung Talent verschwendet.

Was erklärt die starren Bildungsverhältnisse? Es ist anzunehmen, dass die elterlichen Finanzen auch in der Schweiz weiterhin eine Rolle spielen. Auch wenn ein universitäres Studium günstiger ist als in vielen anderen Ländern: Die Kosten für ein universitäres Studium sind für die ­Eltern wesentlich höher als bei einer Berufsausbildung. Oftmals sind es sie, die finanziell für den Einkommensausfall im frühen Erwachsenenalter geradestehen müssen.

Nun aber die gute Nachricht: Die Schweiz bietet Möglichkeiten, den Einkommensaufstieg auch ausserhalb des aka­demischen Bildungswegs zu erreichen. Im internationalen Vergleich ist das eher unüblich: Dank der dualen Berufsbildung spielt es letztlich eine vergleichsweise kleine Rolle für das Einkommen, ob die Kinder jemals eine Universität besuchen. Auch nach einer Lehre gibt es zig Möglichkeiten, sich weiterzubilden, sei es mit einem Studium oder einer höheren Berufsausbildung. Sprich: Das Einkommen der Eltern ist zwar entscheidend für Gymnasium oder Lehre, aber weit weniger entscheidend dafür, ob man eine höhere Ausbildung absolviert. Schweizer Kinder sind dadurch im Vergleich zum Ausland unabhängiger vom Einkommen ihrer Eltern.

Abb. Anteil der Kinder, die eine Berufslehre oder das ­Gymnasium abschliessen, nach Einkommensrang der Eltern.

Ein weiterer Punkt spricht dafür, dass das Berufsbildungs­system eine ausgleichende Wirkung auf die Ungleichheit hat: Auf Bildungswegen, die mit einer Berufslehre beginnen und einer Weiterbildung enden, begegnet man besonders vielen Aufsteigerinnen und Aufsteigern. Der Schweizer Trumpf scheinen vor ­allem die höheren Berufsausbildungen zu sein. Dabei sind zwei Faktoren wichtig: Erstens finden sich auf diesen Bildungs­wegen viele Kinder aus tieferen Einkommensklassen (hohe ­Zugangs­quote). Zweitens bieten sie eine hohe Lohnaussicht, ­wodurch diese Kinder auch eher aufsteigen (hohe Aufstiegschance). Einen Nachteil hat das Ganze: Wer nach der Lehre keine weitere Ausbildung ab­solviert, hat nur geringe Aufstiegschancen. Nicht das Berufs­bildungssystem an sich treibt die Mobilität an, sondern dessen Durchlässigkeit.

Die Gefahr der «verlorenen Einsteins»

Wie in anderen Ländern sehen wir in der Schweiz ­keinen klaren Trend, wohin sich die Einkommensmobilität ent­wickelt. Für die Jahrgänge 1967 bis 1984 gibt es eine leichte Verbesserung der Mobilität – obwohl die Einkommensungleichheit eher zugenommen hat. Entwicklungen wie die «Passerelle» oder die Berufsmaturität hatten vermutlich ­einen positiven Einfluss.

Ob die Schweiz eine hohe oder tiefe soziale Mobilität hat, hängt also davon ab, ob man auf die Bildung oder das Einkommen schaut. Die hohe Einkommensmobilität soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass nur wenige Kinder aus tiefen Einkommensschichten eine akademische Ausbildung absolvieren. Ausserdem ist unklar, ob wir durch die tiefe Bildungsmobilität nicht doch ein paar Einsteins verlieren. Vor allem ist unser Blick auf das Bildungswesen oftmals auf die Vergangenheit gerichtet: Es ist denkbar, dass allgemeinbildende Ausbildungen, wo man vor allem lernt zu ­lernen, in Zukunft wichtiger werden. Bleibt die Bildungsmobilität tief, würde dies dann zu einer tieferen Einkommensmobilität führen.

  1. Patrick Chuard und Veronica Grassi: Switzer-Land of Opportunity: Inter­generational Income Mobility in the Land of Vocational Education, Universität St. Gallen (2020).

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