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Die Annahme der Bestechlichkeit
Jovana Dikovic, fotografiert von Daniel Jung.

Die Annahme der Bestechlichkeit

Psychologen raten davon ab, Kinder mit einem System von Erpressung und Belohnung zu erziehen. Mit dem Covid-Zertifikat kommt ein ähnliches Vorgehen nun aber bei der breiten Bevölkerung zum Einsatz. Aus wissenschaftlicher Sicht ist das hochspannend.

 

Zu den neusten Massnahmen gegen die Coronapandemie gehören insbesondere Covid-Zertifikate. In ihnen enthalten ist die Annahme der Bestechlichkeit, was aus anthropologischer Sicht äusserst interessant ist. Der Zweck der Zertifikate besteht darin, das Leben der Ungeimpften zu erschweren und somit zusätzlichen Druck in Richtung Impfung auszuüben: Wenn die Menschen sich in ihrer Lebensqualität beeinträchtigt fühlen, weil sie nicht mehr in Restaurants oder ins Theater gehen oder an Sportveranstaltungen teilnehmen können, dann wäre die Impfung der einfachste Ausweg. Sicherlich werden sie sich nun impfen lassen – so die Annahme.

Kinderpsychologen raten davon ab, Heranwachsende mit einem System von Erpressung und Belohnung zu erziehen. Sie warnen davor, dass ein solches System eine käufliche Persönlichkeit hervorbringt, die nicht in der Lage ist, eigene Entscheidungen zu treffen. Mit den neuen Anti-Covid-Massnahmen behandelt der Beschützerstaat erwachsene Menschen wie Kinder, in der Erwartung, dass sie auf die Belohnung richtig reagieren werden: Wer sich nicht impfen lässt, kann nicht ins Restaurant gehen und sein Zürcher Geschnetzeltes geniessen. Mancherorts werden auch direkt Glücksspiele zur Belohnung von Impfwilligen geschaffen.

Aus wissenschaftlicher Sicht wird es wichtig sein, die Reaktionen der Menschen auf die auferlegten Massnahmen zu verfolgen. Falls die Massnahme tatsächlich zu einer höheren Impfrate führt, könnte das zeigen, dass die Menschen schon in ihrer frühen Kindheit ein Muster von Erpressung und Belohnung als wichtige Form der Kommunikation verinnerlicht haben. Kinderpsychologen würden vielleicht sagen, dass diese Menschen falsch erzogen wurden. Falls die Impfrate nicht deutlich steigt, sagt uns dies vielleicht, dass die Menschen in ihrer Kindheit intuitive moralische Reaktionen auf Erpressung und Bestechung entwickelt haben und dass es ihnen wichtiger ist, ihren Prinzipien treu zu bleiben – egal wie fragwürdig diese sind –, als Zürcher Geschnetzeltes oder Theaterbesuche zu geniessen.

Die epidemiologische Wirkung von Covid-Zertifikaten ist weitgehend unklar. Ihre Ausweitung trägt kaum direkt zur Verminderung der Ausbreitung der Delta-Variante bei. Wäre dies das Ziel, dann würde wohl eine Lösung vorgeschlagen, die sowohl die Ungeimpften als auch die Geimpften, die das Virus ebenfalls verbreiten, daran hindert, andere zu infizieren. Covid-Zertifikate begünstigen einseitig geimpfte Bevölkerungsgruppen, weil sie während der Pandemie ein wünschenswertes Verhalten gezeigt haben. Im Gegensatz dazu sind Lockdowns zwar eine harte, aber ziemlich egalitäre Massnahme. Die neuen Massnahmen zielen darauf ab, diejenigen zu konditionieren, die sich freiwillig nicht impfen lassen wollen.

Eine Studie in Grossbritannien ist zum Schluss gekommen, dass Impfpässe zögernde Menschen noch unwilliger machen, sich impfen zu lassen.1 Untersucht wurden die Einstellungen von 16 000 Menschen, von denen 14 000 ungeimpft waren. In dieser Gruppe äusserten 87 Prozent die Ansicht, dass sie ihre Entscheidung auch dann nicht ändern würden, wenn ein Covid-Pass erforderlich würde. Die Umfrage zeigt auch, dass es Ungeimpfte gibt, die Covid-Pässe dann für akzeptabel halten, wenn sie für internationale Reisen, nicht aber für Inlandsreisen erforderlich sind, und solche, die Covid-Pässe grundsätzlich ablehnen.

Für Wissenschafter werden die Covid-Zertifikate ein wichtiger Indikator sein, um die Käuflichkeit der Bevölkerung zu beurteilen – und die Art des Drucks, unter dem Menschen von ihren Prinzipien abweichen oder nicht. Für Ethiker wird dies von Bedeutung sein, weil es ihnen eine Fülle von neuem Material bietet, um das bestehende Spektrum moralischer Rechtfertigungen und Argumente besser zu erklären. Für Anthropologen wird es neue Einblicke in die Gesellschaft und die Werte geben, die sich auf diese Weise dauerhaft herausbilden. Für Epidemiologen, Infektiologen und Mediziner kann dieses «Experiment» Aufschluss geben, ob die neuen Massnahmen effektiv zur Bekämpfung der Pandemie beitragen. Für Politiker wird nun sichtbar, ob die Gesellschaft auf lange Sicht durch die Anwendung des historisch problematischen Konzepts der Segregation regiert werden kann – wobei die Trennung diesmal zwischen Geimpften und Ungeimpften besteht.

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