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Experimentieren geht über Zentralisieren
Paul Ormerod, zvg.

Experimentieren geht über Zentralisieren

In komplexen Systemen, wie es Gesellschaften sind, stossen Top-down-Strukturen an ihre Grenzen.

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Im Zuge der Covidkrise ist in Europa ein wichtiges politisches Prinzip in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Die EU versucht, wie stets vom Streben nach einer «immer engeren Union» motiviert, Kontrolle nicht bloss über den Kauf und die Verteilung von Impfstoffen an Mitgliedsstaaten auszuüben, sondern auch über das Tempo der Umsetzung. Eine einheitliche Geschwindigkeit ist das Ideal der zentralen Planer in Brüssel. Im Gegensatz dazu entdecken einzelne Staaten plötzlich ihre Begeisterung für dezentralisiertere Entscheidungsprozesse. Als Ungarn aus der Reihe tanzte und auf eigene Faust Impfstoff aus Russland importierte, schien dies das Bild des Sonderfalls innerhalb der EU zu bestätigen. Inzwischen erwägen aber auch Frankreich und Deutschland ein ähnliches Vorgehen.

In diesen Spannungen scheinen jedoch nur alte Gegensätze innerhalb Europas auf. Deutschland und Frankreich stellen sich hinter das Streben der Europäischen Kommission und der EZB nach stärkerer Zentralisierung. In den Regionen etlicher Länder gibt es dagegen grosse Unterstützung für eine massiv ausgeweitete regionale Autonomie oder sogar Unabhängigkeit. Gross­britannien ist dabei am weitesten gegangen, indem es aus dem Treck in Richtung eines zentralisierten Europas ausscherte. Doch auch innerhalb des Vereinigten Königreiches gibt es separatis­tischen Druck, vor allem in Schottland, aber auch in Nordirland und Wales. Alle drei Regionen, besonders die beiden letztgenannten, sind stark von Unterstützung aus England abhängig, um ­ihren Lebensstandard aufrechtzuerhalten.

Die Grenzen der Kontrollierbarkeit

Generationen wirtschaftspolitischer Akteure wuchsen mit einem mechanistischen, zentralplanerischen Weltbild auf, nach dem Ziele dadurch erreicht werden konnten, dass man eine Liste von Massnahmen anfertigte und dann einfach Punkt für Punkt abarbeitete. In einer solchen Welt mit ihrer Verlässlichkeit, Vorhersagbarkeit und Kontrollierbarkeit lässt es sich angenehm leben.

Die Grenzen dieser Denkweise zeigten sich jedoch in einem massiven natürlichen Experiment in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in dem zentralplanerische und marktorientierte Ökonomien gegeneinander antraten. Ob USA gegen Sowjetunion, BRD gegen DDR oder auch China mit planwirtschaftlichem gegen China mit kapitalistischem Antlitz – stets siegten letztlich die ­dezentralisierten Systeme.

Vor 60 Jahren allerdings war der Ausgang noch unklar. Das sowjetische System schien überlegen. Es generierte technischen Fortschritt weit schneller als der Westen. 1957 schoss die Sowjetunion den ersten Menschen ins All. Die Sowjets wollten eine ­Rakete entwickeln, die einen Satelliten in die Erdumlaufbahn schicken konnte – eine grosse Herausforderung, aber eine mit ­klarem Ziel. Das Projekt war erfolgreich.

Doch das zentralistische System der Sowjets war völlig unfähig, mit den verschiedenen Herausforderungen einer konsumorientierten Wirtschaft fertigzuwerden. In einer solchen Wirtschaft werden Entscheidungen nicht von oben getroffen und dann systematisch nach unten weitergereicht, sondern es wird durch Nachfrage von unten ein Strom in entgegengesetzte Richtung erzeugt. Millionen Individuen treffen ihre eigenen Entscheidungen – und das in einer Weise, die sich von Unternehmen in einem Markt kaum vorhersagen lässt.

Gut im Impfen, schlecht in Krebsbehandlungen

Stärken und Schwächen zentralistischer Systeme lassen sich gut am britischen Gesundheitssystem beobachten, das 2021 die Systeme anderer europäischer Länder beim Impfen weit übertroffen hat. Einer der Hauptgründe dafür ist sein hoher Zentralisierungsgrad, der weit über dem anderer westlicher Länder liegt. Seine ­Ursprünge liegen in der Nachkriegszeit, als der zentralplanerische Ansatz normal schien. Das Ziel der Impfkampagne war klar: Millionen Menschen innerhalb weniger Monate zu impfen. Nachdem es festgelegt worden war, pflanzten sich die Anweisungen zu seiner Erreichung systemabwärts fort.

Ausserhalb solcher ausserordentlichen Lagen ist das zentralisierte britische Gesundheitssystem jedoch weniger effektiv als die Systeme anderer europäischer Länder. Viele verschiedene Ziele müssen erfüllt werden, die einander zum Teil widersprechen. Wie sollen da die Prioritäten gesetzt werden? Welche Krankheiten ­sollen bevorzugt bekämpft werden? Wer soll davon zuerst profitieren? Wie sollen die Behandlungen ausgerollt werden?

«Zentralisierte Bürokratien neigen zu zentralistischen Lösungen,

da diese vom Zentrum aus betrachtet höchst effizient wirken.»

Das britische Gesundheitssystem steht in Sachen Leistungsfähigkeit, etwa bei der Überlebensrate bei Krebserkrankungen, schlecht da. Ebenso bei der Präventivmedizin. Ein wichtiger Grund für die hohen Covid-19-Sterberaten im Vereinigten Königreich liegt darin, dass Fettleibigkeit hier stärker verbreitet ist als in anderen Ländern Europas. Dieses Problem hat das zentra­lisierte Gesundheitssystem bislang nicht lösen können.

Das Schachbrettproblem

Unter bestimmten Bedingungen sind zentralisierte Systeme, ob politisch oder wirtschaftlich, durchaus effektiv. Wo es etwa ein klares, eindeutiges Ziel zu erreichen gilt, kann ein hierarchisches System zur geordneten Weitergabe von Befehlen funktionieren. Moderne Ökonomien und Gesellschaften sind jedoch meist nicht derart mechanistisch organisiert. Sie ähneln eher biologischen Systemen, bei denen es auf subtile Interaktionen zwischen ihren einzelnen Bestandteilen ankommt. Der wissenschaftliche Sprachgebrauch kennt dafür den Begriff des «komplexen Systems».

Das Verhalten komplexer Systeme lässt sich meist anhand weniger simpler Regeln beschreiben. Ihre Bestandteile interagieren jedoch auf eine Weise, dass das Verhalten des einen das Verhalten eines anderen oder mehrerer anderer beeinflusst. Eine ­präzise Steuerung wird so fast unmöglich. Ein Beispiel ist das ­Phänomen der Segregation in urbanen Wohngebieten, wie es vor 50 Jahren vom amerikanischen Wirtschaftsnobelpreisträger Thomas Schelling modelliert wurde.

Städte in den USA sind stark ethnisch segregiert. Wohnviertel sind meist von einer bestimmten ethnischen Gruppe dominiert. Der hohe Grad der Segregation legt den Schluss nahe, die Bewohner müssten starke Vorurteile gegenüber anderen Ethnien haben. Schelling zeigte jedoch, dass es auch auf andere Weise dazu kommen konnte – dadurch nämlich, dass jeder bloss eine minimale Präferenz für Angehörige der eigenen Ethnie als Nachbarn hegt. Ausgeprägte Vorurteile sind gar nicht nötig.

Schelling stellte sich ein riesiges Schachbrett vor, auf dem schwarze Figuren in gleicher Anzahl wie weisse Figuren zufällig verteilt sind. Nur einige wenige Felder sind leer. Nun wird eine ­Figur zufällig ausgewählt. Sie soll entscheiden, ob sie auf ein ebenfalls zufällig ausgewähltes leeres Feld ziehen will. Die Entscheidungsregel ist denkbar einfach: Jede Figur ist von acht ­Feldern umgeben, die zusammen mit dem Feld, auf dem die Figur steht, das «Wohnviertel» der Figur bilden. Die Figur ist «zufrieden», wenn fünf der Figuren in ihrem Wohnviertel die eigene Farbe haben und vier Figuren die andere. Menschen leben demnach durchaus gerne in gemischten Wohnvierteln. Die Figuren ziehen nur dann auf ein anderes Feld, wenn sie in ihrem Wohnviertel in der Minderheit sind.

Recht bald zeigt sich ein überraschendes Ergebnis. Trotz aller individuellen Toleranz zeigen sich starke segregatorische Muster auf höherer Ebene. Es kann nicht vorhergesagt werden, wie genau sich die Figurenverteilung entwickelt. Prinzipiell kann jeder beliebige Bereich des Brettes von entweder der einen oder der anderen Farbe dominiert werden.

Komplexe Systeme unterscheiden sich fundamental von mechanischen Systemen. Zutreffende Vorhersagen lassen sich unter Bedingungen der Komplexität kaum treffen. Es ist äusserst schwierig, die Folgen einer Intervention nachzuvollziehen. Kurz: Komplexe Systeme lassen sich nur schwer steuern.

Diese These bestätigt sich in der äusserst geringen Erfolgsquote wirtschaftlicher Prognosen. Die renommierte Survey of Professional Forecasters – die genau tut, was ihr Name aussagt, nämlich die Qualität professioneller Prognosen zu erheben – ­betrachtet ein weites Spektrum wirtschaftlicher Vorhersagen in den USA, und zwar seit 1968. Für den Zeitraum bis heute beträgt die Korrelation zwischen den BIP-Wachstumsprognosen für das jeweils nächste Jahr und dem tatsächlichen Wachstum exakt null. Das hat nichts damit zu tun, dass Ökonomen dumm wären. Bloss damit, dass es angesichts der unzähligen, voneinander abhängigen Entscheidungen von Millionen von Unternehmen und Konsumenten nahezu unmöglich ist, gute Vorhersagen zu treffen. Ebenso schwierig ist es, Kontrolle auszuüben. Wie soll nun die Politik damit umgehen?

Ein starkes Argument dafür, Entscheidungsprozesse innerhalb föderaler Strukturen zu delegieren, ist, dass sich so die Auswirkungen vieler verschiedener Problemlösungsstrategien beobachten lassen. Das oben erwähnte natürliche Experiment, das ­einen empirischen Vergleich zwischen planwirtschaftlichen und marktwirtschaftlichen Ökonomien ermöglichte, war nicht wohldurchdacht im Labor aufgesetzt worden, sondern ergab sich aus Entscheidungen, denen gänzlich unwissenschaftliche Motive zugrunde lagen. Je mehr solcher Erkenntnisse zusammengetragen werden können, desto fundierter kann die Politik entscheiden. Und in dezentralen Systemen ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sich natürliche Experimente ergeben.

Natürlich lässt sich, was in einer bestimmten Region funktioniert, nicht ohne weiteres auf eine andere Region übertragen. Dennoch ist es wichtig, Erfahrungen mit verschiedenen Lösungsansätzen zu sammeln und die realen Folgen bestimmter Massnahmen zu beobachten.

In komplexen Systemen kommt selbst bei sorgfältigster ­Planung meist etwas anderes heraus als beabsichtigt. Komplexe Systeme setzen der Wissbarkeit prinzipielle Grenzen.

Die Vorteile dezentraler Systeme scheinen bereits in Friedrich A. Hayeks bahnbrechendem Aufsatz «Die Anwendung von Wissen in der Gesellschaft» von 1945 auf. Darin argumentiert er, Information sei quer über eine Gesellschaft verteilt und kein Zen­tralplaner könne sie jemals vollständig erfassen. Zu dieser ­Erkenntnis gelangte er, Jahrzehnte bevor komplexe Systeme erstmals mathe­matisch formalisiert wurden. Ein verwandtes Konzept ist das vom «impliziten Wissen», entwickelt in den späten 1950er Jahren von Michael Polanyi: Menschen verfügen über Fähigkeiten, Ideen und Wissen, die sich nicht ohne weiteres kodifizieren lassen.

«Die EU-­Kommission geht von einerüberholten Vorstellung

aus, wie Gesellschaften funktionieren.»

Ein aktuelles Beispiel sind die gegenwärtigen Covid-Impfkampagnen. In Grossbritannien ist die Akzeptanz seitens der Bevölkerung allgemein hoch, doch einige ethnische Gruppen zeigen sich skeptisch. Natürlich könnte ein zentralistischer Ansatz helfen, die Skepsis zu überwinden – etwa durch Anzeigenkampagnen mit Prominenten, denen diese Gruppen vertrauen. Deutlich effektiver ist jedoch die Überzeugungsarbeit auf lokaler Ebene. Stadträte oder religiöse Amtsträger kennen ihre Gemeinden genau. Sie sind in idealer Position, um Botschaften bis zum einzelnen Haushalt hinunter massgeschneidert zu übermitteln.

Darüber hinaus ist das Beharrungsvermögen zentralistischer Bürokratien nicht zu unterschätzen. Lenin befand 1919, die Revolution werde von Zentralismus und Bürokratie verschlungen. Also setzte er eine Kommission ein, die das Problem untersuchen sollte. Ein Jahr später beschäftigte die Kommission 100 000 Angestellte.

Der Preis der Dezentralisierung

Gewiss braucht es ein gewisses Mass zentralisierter Entscheidungsfindung. Grossbritannien ist eine Nuklearmacht; es wäre aber kaum wünschenswert, jedem Bürger seine eigene Kernwaffe zu geben, selbst wenn das technisch machbar wäre.

Wieder halten die Wirtschaftswissenschaften einige Anregungen dafür bereit, wie sich die Angelegenheit betrachten liesse. Ronald Coase erhielt 1991 den Wirtschaftsnobelpreis unter anderem für einen Aufsatz, den er in den 1930er Jahren als Student ­geschrieben hatte. Die Frage, wie sich Coases Erkenntnisse in ­politische Systeme umsetzen liessen, ist heute Gegenstand einer ständig anwachsenden Literatur. Coase fragte: Warum gibt es überhaupt Unternehmen? Grundsätzlich könne ja jeder Aspekt der Herstellung und Verteilung von Gütern durch einzelne Akteure – verbunden durch bilaterale Handelsverträge – verwirklicht werden.

Seine Antwort: Der Daseinszweck von Unternehmen gründet darin, dass sich in allen Markttransaktionen jeweils eine Vielzahl unterschiedlicher Kosten verbirgt. Produkte kosten real mehr als den Betrag ihres Kaufpreises. So fallen etwa Kosten dabei an, dass Käufer sich über Alternativen zum Produkt informieren und diese Informationen einordnen. Oft kommen Verhandlungskosten hinzu, da es Zeit und Aufwand kostet, den Preis für ein Produkt auszuhandeln. All solche Kosten können durch die Gründung ­eines Unternehmens, in dem einzelne kollaborieren, deutlich ­gesenkt werden.

Es handelt sich im Kern um eine Abwägung. Wie oben erwähnt, bringen zentralistische Systeme bestimmte Kosten mit sich, insbesondere ihre Unfähigkeit, wertvolle lokalspezifische Informationen zu sammeln. Durch diese Unfähigkeit sind zen­tralistische Systeme in ihrer Wirkung eingeschränkt.

Mit dezentralen Strukturen wiederum sind Transaktions­kosten verbunden. Fans von Kryptowährungen träumen von einer Zukunft, in der jeder einzelne seine eigene Währung kreieren kann. Doch selbst unter der Annahme, dass die dafür nötigen ­Rechenkapazitäten und Netzwerke zur Verfügung stehen, wird ein solches System kaum effizienter sein als eines, in dem nationale Zentralbanken das Monopol auf die Herausgabe einer gemeinsamen Währung innehaben. Natürlich kann es vorkommen, dass eine Zentralbank einen katastrophalen Fehler begeht – etwa, indem sie eine Hyperinflation auslöst. Doch so etwas ist in entwickelten Volkswirtschaften höchst unwahrscheinlich. Die Transaktionskosten hingegen, wie sie in einem System persönlicher Währungen anfallen, sind real und allgegenwärtig.

Ideologischer Irrweg

Die Gesellschaften des Westens haben eine Evolution hinter sich, die jene beiden Arten von Kosten in ein mehr oder weniger akzeptables Gleichgewicht gebracht hat. Zentralisierte Bürokratien ­neigen allerdings zu zentralistischen Lösungen, da diese vom Zentrum aus betrachtet höchst effizient wirken. In ihnen herrscht ständiger Druck in Richtung stärkerer Zentralisierung. Wo immer sich eine Gelegenheit zu mehr Zentralisierung ergibt, werden ­solche Bürokratien sie auszunutzen suchen.

Derartige Zentralisierungskräfte sehen wir bei der EU-­Kommission. Sie geht von einer überholten Vorstellung aus, wie Gesellschaften funktionieren. Doch sie wurde von der vorherrschenden Ideologie der führenden Mitgliedsstaaten gestützt, ­getrieben von der historischen Notwendigkeit, das Risiko eines weiteren katastrophalen Krieges in Europa zu minimieren.

Vielleicht sorgt ja der Schlamassel, den die Kommission bei der Covid-Impfung angerichtet hat, dafür, dass die Mitgliedsstaaten innehalten – und sich den übermässig zentralistischen Tendenzen entgegenstellen.

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