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Verloren im Brüsseler Kosmos

In der EU-Hauptstadt leben Beamte, Amtsträger und Lobbyisten in ihrer eigenen Welt. Doch die Abkapselung von der Realität stösst an ihre Grenzen.

Verloren im Brüsseler Kosmos
Vor dem EU-Parlament können Besucher sich mit dem Schriftzug «Democracy in Action» fotografieren lassen. Oder sollte es eher «Inaction» heissen angesichts der Trägheit der Politiker? Bild: Lukas Leuzinger

«Gleicher Lohn für gleiche Arbeit», «Keine Lügen in der Werbung!», «Unterstützung für die europäischen Unternehmen», «Gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen» – so tönt es, wenn die EU ihre eigenen Regulierungen preist. Die Slogans in verschiedenen Sprachen stehen auf Tafeln im «Parlamentarium», dem Besucherzentrum des Europäischen Parlaments in Brüssel. Was manche als übergriffiges Mikromanagement eines weltfremden Regulierungsmonsters sehen, wird hier als grosse Errungenschaften der europäischen Einigung beworben.

Eine einzige grosse Erfolgsgeschichte: So sieht sich die EU selber. Und das aufwändig gestaltete Parlamentarium zeigt, dass sie offensichtlich keinen Aufwand scheut, um dieses Bild der Öffentlichkeit zu vermitteln. Im Shop können die Besucher Tassen, Krawatten, Weihnachtskugeln mit der EU-Flagge erwerben, und viele Fanartikel mehr.

Europäische Vielfalt auf ein paar Quadratkilometern

Es ist ein für Brüssel ungewöhnlich schöner Frühlingstag. Wovon man im Innern des Parlaments allerdings nicht viel mitbekommt. Hier eilen Abgeordnete, Bürokraten, Assistenten, Lobbyisten, Journalisten und Diplomaten emsig umher, um die Maschine am Laufen zu halten, die Unmengen von Verordnungen, Gesetze und Regulierungen produziert. In unzähligen Ausschusssitzungen, Fraktionssitzungen, Plenarsitzungen und informellen Gesprächen werden die Paragrafen in Eisen gegossen, die dann von Hammerfest bis Heraklion Gültigkeit beanspruchen.

Ich irre durch das Labyrinth von Gängen, Rolltreppen, Wendeltreppen und Konferenzräumen und finde mich schliesslich in einer Sitzung des Haushaltskontrollausschusses wieder. Ein Bericht wird präsentiert, der eine steigende «Fehlerquote» bei den Ausgaben der EU feststellt; ein Hinweis auf Betrug und Veruntreuung, auch wenn das die Autoren der Studie nicht so klar benennen. Es entspannt sich eine ziemlich technische Diskussion unter den Abgeordneten, unterbrochen durch schwammige Appelle für mehr Transparenz.

Die Personen, die sich im Labyrinth des Parlamentsgebäudes tummeln, sind allesamt Teil eines eigenen Kosmos. Das Quartier européen, wo sich alles konzentriert, was mit der EU zusammenhängt, unterscheidet sich nur schon im Strassenbild vom Rest von Brüssel. Stattliche Häuserzeilen werden durch kleine Parks unterbrochen, es ist relativ ruhig und sauber. Hier sind die wichtigen Institutionen, die Botschaften – auch jene der Schweiz. Sie ist in einem prunkvollen Gebäude an der Place du Luxembourg – «Plux» im Jargon der Eurokraten – untergebracht, zwei Minuten Gehdistanz entfernt vom EU-Parlament.

Im Café Karsmakers gleich daneben spricht mich die Barista hinter der Theke wie selbstverständlich auf Englisch an. Die Stammkundin vor mir wird dagegen auf Spanisch bedient, der Kunde nach mir auf Französisch. Am schwarzen Brett hinten im Café wird für einen «Women Circle» geworben, in dem die Teilnehmerinnen ihre kommunikativen Fähigkeiten trainieren können; Sprachkurse werden ebenso angeboten wie Jachtferien im Atlantik.

Das Quartier européen ist ein Symbol von Europas Vielfalt, konzentriert auf ein paar Quadratkilometer. Doch eben auch eine ganz eigene, andere Welt mit EU-Angestellten, Amtsträgern, Lobbyisten. Hier vermieten Firmen möblierte Wohnungen zu gehobenen Preisen an Expats aus aller Herren Ländern. Ein paar Strassen weiter zeigt sich eine ganz andere Form der Multikulturalität. Arabischstämmige Lebensmittelhändler stehen vor ihren kleinen Läden. Frauen in Kopftüchern drängen sich im Aldi an die Kasse. Viele Einwohner Brüssels stammen aus Nordafrika; ein Viertel der Bevölkerung sind Muslime. Im Quartier européen sind sie aber höchstens als Sicherheitskräfte oder Bedienungen in Cafés sichtbar.

Drei Tage lang spreche ich mit Abgeordneten, Mitarbeitern, Lobbyisten, Beratern, Journalisten, ehemaligen Politikern und Diplomaten. Viele von ihnen sind seit dem Abschluss ihres Studiums hier, oft auch in ganz verschiedenen Funktionen. Verwaltungspraktikanten werden Lobbyisten. Assistenten von Parlamentariern werden NGO-Mitarbeiter. Ehemalige Abgeordnete werden Berater. Wer einmal hier ist, bleibt oft. Brüssel scheint wie ein schwarzes Loch, das Menschen verschluckt und nebenbei jede Menge Steuergeld.

An einer Abendveranstaltung zu den Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine spreche ich mit einer polnischen Mitarbeiterin der EU-Kommission. Auch sie ist schon seit Jahrzehnten in Brüssel. «Wer den ‹Concours› absolviert hat, hat hier einen sicheren Job», sagt sie. Als «Concours» wird das Auswahlverfahren bezeichnet, das man bestehen muss, um für die EU zu arbeiten. Wenn man einmal für die EU arbeite, sei es schwierig, wegzukommen, so die Kommissionsmitarbeiterin, weil man all die Annehmlichkeiten verlieren würde, die zum Job gehörten. So sind die EU-Beamten in der Steuerhölle Belgien von der Einkommenssteuer ausgenommen (stattdessen werden sie direkt von der EU zu einem tieferen Satz besteuert).

Wenigstens der Lobbyismus floriert

Die Abgehobenheit der Eurokraten zeigt sich exemplarisch an der Place Schuman, wo das grosse kreuzförmige Gebäude der Kommission steht. Ganz zuoberst thront ein ovales Metallkonstrukt. Hier treffen sich die 26 Kommissare jeden Mittwoch und fällen die neuesten Entscheide. Das ovale Objekt wird von den Einheimischen «Ufo» genannt. Der Übername passt: Hier oben, hoch über Brüssel schwebend, ist man maximal entschwebt von der Realität von Europas Bürgern.

Doch ganz kann man sich auch in der Bubble nicht von der Realität abkapseln. Die EU wirkt geopolitisch orientierungslos, politisch zerstritten. Gelähmt durch die Bürokratie und die Masse der Regulierungen und – als Folge davon – wirtschaftlich stagnierend.

Einen Katzensprung vom Sitz der Kommission entfernt feiert das Museum «Haus der europäischen Geschichte» die historischen Innovationen Europas. Auf mich wirkt das Ganze eher deprimierend: Die Eindrücke der historischen Errungenschaften der industriellen Revolution schärfen nur den Kontrast zur gegenwärtigen Sklerose Europas. Regulieren ist das Einzige, worauf sich Europa noch zu verstehen scheint.

In Brüssel selber ist die einzige florierende Branche offenbar der Lobbyismus. Den 35 000 Beamten stehen 30 000 Interessenvertreter gegenüber. «Der Lobbyismus ist hier eine eigene Industrie», erzählt mir der Vertreter eines Schweizer Unternehmens. Die EU sei zwar ursprünglich ein Liberalisierungsprojekt. Doch in einem Gebilde wie der EU versuchten etablierte Marktteilnehmer regelmässig, den Wettbewerb durch Regulierung ausschalten.

«In Brüssel ist die einzige florierende Branche offenbar der Lobbyismus. Den 35 000 Beamten stehen 30 000 Interessenvertreter gegenüber.»

Dabei hilft ihnen die schiere Masse der Vorlagen, die von der Kommission ausgebrütet werden. Ein ehemaliger Abgeordneter erzählt mir, er habe vor Plenarsitzungen jeweils einen ganzen Stapel Papier mit den Vorlagen erhalten, über die das Parlament abstimmte. «Bei 80 bis 90 Prozent wusste ich nicht, worum es geht.»

Die Ahnungslosigkeit der Abgeordneten öffnet Lobbyisten Tür und Tor, für sie günstige Klauseln in Vorlagen einzubauen. Sie birgt aber auch das Risiko, dass Dinge beschlossen werden, die unausgereift sind und unerwünschte Nebenwirkungen haben. Eine Lobbyistin erzählt mir vom Plan der Kommission, Ethanol als krebserregenden Stoff einzustufen. Dabei gehe vergessen, dass Ethanol zum Beispiel in Kosmetika völlig harmlos sei.

Allmächtiger EU-Rat

Eine Aussage, die ich in den Gesprächen immer wieder höre, ist, dass die EU eigentlich ein gutes Projekt sei – gefolgt von einem grossen Aber. Viele Gesprächspartner sind überzeugt, dass die gegenwärtige Krise ein stärkeres Europa erfordere, sprich: noch mehr Zentralisierung und Macht in den Händen der Eurokraten in Brüssel.

Die Aussagen verwundern mich nicht. Wer hier lebt, in diesem Biotop, kann sich kaum vorstellen, dass gerade das, was die 35 000 Beamten und Amtsträger fabrizieren, das Problem sein könnte, nicht die Lösung. Hast du einen Hammer, sieht jedes Problem wie ein Nagel aus.

Wobei: Zumindest in einer Hinsicht haben die EU-Enthusiasten auch einen Punkt: Das Machtgleichgewicht ist schief. Die Kommission produziert Gesetzesprojekte am laufenden Band, das Parlament bastelt daran herum – doch am Ende hat der EU-Rat, also das Gremium der EU-Staats- und -Regierungschefs, das Sagen. «Der Rat ist allmächtig», sagt eine ehemalige Parlamentarierin frustriert.

So umfangreich die Kompetenzen, die in den vergangenen Jahrzehnten von der nationalen auf die EU-Ebene gewandert sind: Sie sind zur Hauptsache zum Rat gewandert – also zu den nationalen Regierungen. Diese können hier weitgehend ohne Belästigung durch nationale Parlamente oder Bürger bestimmen. Aber eben auch ohne wesentliche Mitsprache durch das EU-Parlament. Kein Wunder, sehen vor allem im Parlament viele die Lösung darin, die europäische Demokratie, das EU-Parlament zu stärken.

«We are the Zeitgeist!»

Dort weht inzwischen indes auch ein anderer Wind. In den letzten Wahlen vor einem Jahr haben die tonangebenden Parteien – Konservative, Sozialdemokraten, Grüne und Liberale –alle Federn lassen müssen. Gewonnen haben mit den «Patrioten für Europa» und den «Europäischen Konservativen und Reformern» Gruppierungen, welche die EU zurückfahren möchten.

An einer Konferenz der ungarischen Denkfabrik Mathias Curvinus Collegium beraten die Rechtsnationalen, wie sie das erreichen wollen. Das Selbstbewusstsein ist mit den Händen zu spüren. «We are the Zeitgeist!», ruft die britische Publizistin und Politikerin Alex Phillips triumphierend in den Konferenzraum.

So richtig scheint man sich aber auch auf rechter Seite nicht im Klaren darüber zu sein, was man erreichen möchte. Einen Austritt aus der EU propagieren jedenfalls weder das Rassemblement National in Frankreich noch die AfD in Deutschland, noch die FPÖ in Österreich.

Das hat vielleicht auch mit der geopolitischen Situation zu tun: Auf der anderen Seite des Atlantiks ist das Interesse an Europa erkaltet. Die USA sind nicht mehr bereit, die europäische Sicherheit zu gewährleisten, während die EU-Regierungen lieber Geld für ihre grosszügigen Wohlfahrtsstaaten ausgeben. Somit steigt der Druck, dass die Europäer sicherheitspolitisch mehr machen und stärker kooperieren.

Doch auch das wird die grundsätzlichen Probleme der EU nicht aus der Welt schaffen. Und auch die selbstbewussteste Eigenwerbung der Eurokraten, das lauteste Schwärmen von der europäischen Idee werden daran nichts ändern.

Was würde Zweig sagen?

Als ich das Parlament verlasse, um meine Heimreise anzutreten, komme ich an einem Gebäude vorbei, das den Namen «Stefan Zweig» trägt. Ich muss an den grossen österreichischen Schriftsteller denken, der in «Die Welt von gestern» 1941 melancholisch auf das untergegangene alte Europa zurückgeblickt hatte, bevor er sich das Leben nahm. Und frage mich: Stehen wir erneut am Ende einer europäischen Ära? Jener Ära des wirtschaftlichen Aufschwungs der Nachkriegszeit, des Friedens und politischen Integration?

Nach dem Ende des Kalten Kriegs schien diese Welt einen Höhepunkt erreicht zu haben. Die ehemaligen Ostblockländer schlossen sich dem (einigermassen) liberalen, demokratischen Projekt an und traten der EU bei.

Heute ist dieses Projekt ein Schatten seiner selbst. Die Europäer sind so entzweit wie schon lange nicht mehr. Aber nicht, weil die grosse Vereinigung, von der Zweig geträumt hatte, ausgeblieben wäre. Im Gegenteil: Gerade diese Vereinigung war es, die in Europa neue Konflikte geschaffen hat. Sie ist weit über Freihandel und wirtschaftliche Integration hinausgegangen. Stattdessen ist ein politischer Koloss entstanden, der durch immer neue Regulierungen die wirtschaftliche Dynamik abgewürgt hat. Und der sich durch Zentralisierung und Bürokratisierung von den Bürgern zunehmend entfremdet hat.

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