
Um wettbewerbsfähiger zu werden, muss Europa das Scheitern erleichtern
Der alte Kontinent ist zu wenig wettbewerbsfähig. Ein wichtiger Grund sind die restriktiven Arbeitsgesetze, die innovative Unternehmer abschrecken.
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Europa ist nicht innovativ genug. Und das bedeutet, dass es immer weniger wettbewerbsfähig wird und ärmer wird. Lange haben die Entscheidungsträger das nicht wahrhaben wollen, aber jetzt können sie die ernüchternden Ergebnisse des Berichts von Mario Draghi vom vergangenen September nicht mehr ignorieren.
Doch Vorsicht vor den vielen falschen guten Ideen, die im Umlauf sind! Europa muss sein Sozialmodell nicht infrage stellen und sich in eine Art neoliberalen Wettlauf stürzen, um mit dem Rest der Welt mithalten zu können. Wenn es sich in einigen Punkten reformieren kann, hat es alle Trümpfe in der Hand, um aus seiner Lethargie zu erwachen und sogar die USA zu überholen.
Schwache Performance
Die Europäische Union war gegenüber den USA lange Zeit wettbewerbsfähig – ungefähr bis 2010. Das muss man im Hinterkopf behalten, wenn man über Lösungen für den Aufholprozess unserer Wirtschaft nachdenkt. Warum sollte gerade der Mangel an Finanzmitteln plötzlich so schädlich sein? Sicherlich sind die Finanzmärkte in Europa weniger entwickelt als in Amerika, aber internationale Investoren haben dies weitgehend ausgeglichen, solange die Rentabilität europäischer Projekte hoch genug war.
Wenn man mit Vertretern grosser Staatsfonds und internationalen Unternehmenschefs spricht, sagen sie alle, dass sie mehr in Europa investieren wollten (nur schon aus Gründen der Diversifizierung ihrer Portfolios), aber von der mangelnden Performance der Investitionen abgehalten würden. Die amerikanische Dominanz kommt von der besseren Leistung einer Volkswirtschaft, die sich in der Zusammensetzung der internationalen Aktienindizes widerspiegelt, die stark auf amerikanische Unternehmen konzentriert sind – zum Beispiel sind über 70 Prozent des MSCI-Index in den USA investiert.
Disruptive Innovationen sind riskant
Wie ist es dazu gekommen? Draghi schreibt in seinem Bericht auch, dass der grösste Teil des Rückstands Europas auf die digitale Revolution zurückzuführen sei, die von sogenannten «disruptiven Innovationen» oder «radikalen Innovationen» angetrieben werde. Wir müssen uns also eine einfache Frage stellen: Was ist das Besondere an der Tech-Branche, das sie von anderen Wirtschaftssektoren unterscheidet? Mein Co-Autor Olivier Coste und ich haben in einer Studie1 herausgefunden, dass die grosse Besonderheit von radikalen Innovationen in ihrer hohen Ausfallquote liegt, die sehr nachteilig sein kann, wenn die Kosten des Scheiterns ebenfalls hoch sind.
Und hier liegt der Grund für Europas Probleme: Die Kosten für Misserfolge sind hier viel höher als in den USA. Wenn europäische Unternehmen mit abrupten technologischen Veränderungen konfrontiert sind, sind sie nicht flexibel genug, um ihre strategische Ausrichtung schnell und zu vertretbaren Kosten zu überdenken.
«Wenn europäische Unternehmen mit abrupten technologischen
Veränderungen konfrontiert sind, sind sie nicht flexibel genug, um ihre strategische Ausrichtung schnell und zu vertretbaren Kosten zu überdenken.»
Im Jahr 2023 hat der Facebook-Mutterkonzern Meta seinen Fokus auf künstliche Intelligenz verlegt, indem er 20 000 Mitarbeiter (25 Prozent der Belegschaft) entliess, gleichzeitig Dutzende Milliarden Dollar in Sachanlagen investierte und Tausende neuer Mitarbeiter einstellte – das alles in weniger als sechs Monaten und zu Kosten, die einigen Monatsgehältern der entlassenen Angestellten entsprechen. Demgegenüber hat der deutsche Stahlkonzern ThyssenKrupp mehr als vier Jahre gebraucht, um 13 000 Mitarbeiter zu entlassen: Ende 2024 hatte das Unternehmen erst 95 Prozent einer 2019 beschlossenen Umstrukturierung umgesetzt. Wenn es um Zukunftstechnologien geht, kann eine so langsame Reaktion fatal sein. Ein weiterer Umstrukturierungsplan, den das gleiche Unternehmen für 2024 beschlossen hat, soll drei Jahresgehälter pro entlassenen Mitarbeiter kosten.
Dieser riesige Unterschied hat klare Auswirkungen auf die Bewertung von Projekten mit hohem Risiko: Die sehr hohen Kosten der vielen negativen Szenarien können ihre Rentabilität leicht beeinträchtigen, sodass dieselbe Investition in den USA rentabel sein kann, in Europa aber überhaupt nicht tragbar ist. Zahlreiche wissenschaftliche Studien zeigen, wie die starren europäischen Arbeitsgesetze die Unternehmen dazu zwingen, sich auf sogenannte «marginale» Innovationen zu beschränken.2
Den Sozialstaat flexibilisieren
Unsere Erkenntnisse wurden im Draghi-Bericht, dann vom Europäischen Innovationsrat und im «Kompass für Wettbewerbsfähigkeit» der Europäischen Kommission aufgegriffen, die die Frage der Kosten des Scheiterns zu einem zentralen Punkt ihres Aktionsplans gemacht hat.
Was ist also zu tun? Reformbeispiele sind nicht in den USA zu suchen, sondern eher in europäischen Ländern wie Dänemark oder der Schweiz. Sie praktizieren eine Form der «Flexicurity», die eine grosse Flexibilität bei Umstrukturierungen für Unternehmen mit einem grosszügigen und effizienten Sozialsystem für Arbeitnehmer verbindet. Diese europäischen Modelle sind in zweierlei Hinsicht überzeugend: Zum einen fördern sie die wirtschaftliche Entwicklung und den Wohlstand, zum anderen kann ein hohes Mass an sozialer Gerechtigkeit und sozialem Schutz erhalten bleiben. Gemäss unseren Schätzungen betragen die privaten Investitionen in Forschung und Entwicklung im Bereich radikaler Innovationen in der Schweiz 2,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gegenüber nur 1,6 Prozent in den USA – ein Beweis dafür, dass ein europäisches Modell sehr leistungsfähig sein kann!
Es ist übrigens nicht nötig, eine allgemeine Flexicurity für alle Arbeitnehmer einzuführen. Das könnte zwar langfristig nützlich sein, aber für manche Länder ist das ein ziemlich grosser Kulturwandel. Da Umstrukturierungen im Zusammenhang mit radikalen Innovationen vor allem gut bezahlte Ingenieure mit einer soliden technischen Ausbildung betreffen, deren Kenntnisse leicht auf andere Unternehmen übertragbar sind, könnte man die Flexicurity auf die obersten 5 oder 10 Prozent der Gehälter beschränken.
Langsame Fortschritte
Sicherlich hat die EU in einigen Bereichen (Datenschutzregulierung, Richtlinien zur Nachhaltigkeitsberichterstattung) den Unternehmen zuweilen zu strikte Regulierungen auferlegt. Aber im Bereich des Arbeitsrechts, wo sie keine besonderen Kompetenzen hat, könnte sie als Vermittlerin zwischen den nationalen Regierungen fungieren und sie dazu anregen, entweder auf nationaler Ebene Reformen durchzuführen oder ein 28. Sozialsystem für die gesamte EU einzuführen. Tatsächlich erwägt die Europäische Kommission diesen Weg, der mit den nationalen Systemen koexistieren könnte.
Trotz der Dringlichkeit, die europäische Wirtschaft zu reformieren, kommen die Fortschritte nur sehr langsam voran, angefangen beim Bewusstsein der nationalen Regierungen und der Öffentlichkeit. Die Ironie dabei ist, dass innovative Ideen in der Politik viel langsamer vorankommen als in der Industrie. Dabei würden von den hier vorgeschlagenen Reformen am Ende alle profitieren.