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Francis Cheneval, fotografiert von Joanna Joos.

Der politische Moment Europas

Die Verteidigung obliegt den Nationalstaaten, das Normieren von Plastikflaschendeckeln ist Sache der Union. Die EU hat ein historisches kleines Zeitfenster, diese absurde Arbeitsteilung vom Kopf auf die Füsse zu stellen.

Die Europäische Union ist Europas grosse gemeinsame Errungenschaft. Aber sie steht auf dem Kopf. Die «High Politics» der Verteidigung und Aussenbeziehungen sowie wesentliche wirtschaftliche Steuerungskompetenzen sind «unten» bei den Mitgliedstaaten angesiedelt. Die «Low Politics» hingegen, zum Beispiel die Regulierung der Plastikflaschendeckel, sind in der Kompetenz der obersten EU-Organe.

Die Lage ist nachvollziehbar. Nach dem Zweiten Weltkrieg dachten die klugen Macher der europäischen Integration, dass man den Völkern Europas die bundesstaatliche Einigung nicht aus dem Stand zumuten könne, wohl aber ein Marsch in diese Richtung durch eine kontinuierliche Integration von Marktstandards in einem gemeinsamen Raum des Rechts.

Während einiger Zeit war der politische Kopfstand Europas gesund. Es ist aber ein Irrtum, zu meinen, dass sich die EU mit der Zeit von selbst vom Kopf auf die Füsse stellt. Im Gegenteil, die juristisch und ökonomistisch vorangetriebene Vertiefung der oberen EU-Ebene provoziert rote Köpfe an der Basis. Um die EU vom Kopf auf die Füsse zu stellen, bedarf es eines politischen Gründungsaktes zum richtigen Zeitpunkt, der mit den Völkern und den Bürgern hinreichend abgegolten ist.

In der politischen Theorie nennt man solche Momente «Constitutional Moments»: historisch seltene Zeitfenster, während denen ein Ruck, sprich Momentum, durch eine Gesellschaft geht und diese sich politisch von Grund auf neu aufstellt. Es bedarf dazu aber der Führungspersonen und Citoyens, die die Republik bauen wollen. Das gilt auch dann, wenn diese Republik – wie die EU – nicht mehr als eine subsidiäre Republik von Republiken mit freiwilliger Mitgliedschaft sein soll.

«Um die EU vom Kopf auf die Füsse zu stellen, bedarf es eines politischen Gründungsaktes zum richtigen Zeitpunkt.»

Das zurzeit vorangetriebene Aufrüsten von zig nationalen Armeen wird diesen Gründungsakt nicht von selbst herbeiführen, auch dann nicht, wenn es ein gemeinsames militärisches Kommando gibt. Es bedarf eines politischen Direktoriums. Es ist nie leicht, die Geschichte richtig zu lesen. Aber wann, wenn nicht jetzt, ist ein Moment gegeben, in dem man sich dazu durchringen sollte, der EU einen Kopf aufzusetzen, der die Aussen- und Verteidigungspolitik leitet und die gemeinsame Währung erdet?

Hin zur politischen Union

Es braucht auch Druck von aussen, man nennt es den «External Federator». Dass die Sowjetunion als Drohfaktor nie in diese Rolle kam, war der Nato geschuldet. Durch die verteidigungspolitische Dezentrierung der EU via Nato sicherten sich die USA ihre Stellung als stets gebrauchter, gutmeinender Hegemon. Den Europäern war es recht, denn es war billig und ersparte ihnen zusätzlichen Einigungsstress. Falls der US-Präsident so weitermacht, schlüpft er als «Terminator» der Nato nolens volens in die Rolle des «Federator» der EU. Der durch die USA nicht mehr gebändigte militärische Druck von Russland ist jedoch auch nur die Erklärung eines weiteren notwendigen, aber nicht hinreichenden Grundes zur politischen Union.

Persönlichkeiten aus der europäischen Führungsriege müssten jetzt den politischen Moment ausnutzen, für die EU eine minimale bundesstaatliche Gründungsakte vorschlagen und einflussreiche Gleichgesinnte dazu bringen, sie durchzuziehen. Lange wird das «Window of Opportunity» nicht anhalten, denn Wahlen in Frankreich und Deutschland könnten schon in wenigen Jahren die EU von innen her in die Einflusssphäre Russlands treiben. Dann hätte man nicht nur eine günstige Gelegenheit zur Neuaufstellung der EU verpasst. Auch die Errungenschaften des Binnenmarkts und der europaweiten Rechtsstaatlichkeit wären ernsthaft gefährdet.

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