
Mehr Integration führt nicht zu weniger Konflikt
Die Europhilen drängen ständig auf mehr Zentralisierung. Doch in ihrem Bestreben, den Nationalismus zu überwinden, reproduzieren sie dessen Gefahren.
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Zweifellos kann die Europäische Union einige Erfolge für sich verbuchen. Sie hat vielleicht nicht allein Frieden gebracht in einem Teil der Welt, der nicht gerade für seine Friedfertigkeit bekannt war (in den Augen vieler hat auch die Nato eine Rolle gespielt). Dennoch haben die Europäische Gemeinschaft und die daraus hervorgegangene EU die blosse Vorstellung von Konflikten zwischen ihren Mitgliedern ausgelöscht.
Der europäische Binnenmarkt ist nicht in dem Masse ein «freier Markt», wie es sich manche wünschen würden. Dennoch hat er eine entscheidende Rolle bei der Förderung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten gespielt sowie ihre Volkswirtschaften enger miteinander verflochten und effizienter gestaltet. Er vergrösserte den «Binnenmarkt» für europäische Produzenten einer breiten Palette von Waren und Dienstleistungen.
Als die gemeinsame Währung, der Euro, eingeführt wurde, prognostizierten viele Ökonomen ihr baldiges Scheitern, was nicht eingetreten ist. Die Europäische Zentralbank ist wie alle westlichen Zentralbanken in den letzten Jahren zunehmend politisch geworden und hat Human- und politisches Kapital verschwendet, nicht zuletzt durch ihre Fokussierung auf den Klimawandel, die sogenannte grüne Transformation und andere nichtmonetäre Themen. Auch ihre verzögerte Reaktion auf die Inflationswelle nach der Pandemie lässt sich kaum als angemessen bezeichnen. Dennoch könnte der Euro angesichts der Turbulenzen um den Dollar als internationale Währung an Bedeutung gewinnen. Sollte die EZB sich wieder auf ihre deutschen Wurzeln besinnen und wie früher der Preisstabilität Vorrang einräumen, könnte sich der Euro als verlässlichere Alternative zum Dollar erweisen.
Und dennoch sind selbst die glühendsten Verfechter der EU kaum zufrieden. Paradoxerweise neigen ausgerechnet jene, die das europäische Ideal am nachdrücklichsten verfechten, am stärksten dazu, die substanziellen Errungenschaften der Union, wie sie heute ist, zu ignorieren.
Für diese Menschen wird die EU erst dann genügen, wenn sie einem Nationalstaat gleicht. Das würde eine europäische Armee, einen deutlich engeren politischen Prozess und eine Europäische Kommission bedeuten, die ihre Exekutivgewalt ähnlich wie in Frankreich oder Portugal ausübt. Es würde eine «europäische Politik» entstehen, in der Bürger in einer vollständig europäisierten politischen Landschaft wählen – wo es, kurz gesagt, wichtiger wäre, «rechts» oder «links» zu sein als Italiener oder Litauer.
Europäisierung durch Krisen
Dies ist in mehrfacher Hinsicht ein Paradoxon. Erstens entsprang der europäische Traum aus der Notwendigkeit, die Nationalstaaten zu überwinden, deren Durst nach nationaler Souveränität als der wahre Auslöser der Konflikte galt, die das 20. Jahrhundert mit Blutvergiessen überzogen.
Heute wird stattdessen angenommen, dass die nationale Souveränität aufgegeben werden sollte – aber nur, um sie mit den gleichen Merkmalen in Brüssel statt in Warschau oder Berlin zu reproduzieren.
Zweitens scheint dieser Wunsch nach Einheit, der offenkundig den nationalen Einigungsbestrebungen des 19. Jahrhunderts ähnelt, zu übersehen, dass Einheit und Harmonie nicht zwangsläufig Hand in Hand gehen. Die EU hat Zusammenarbeit und Frieden vor allem deshalb gefördert, weil ihre wichtigsten Politikbereiche den Umfang möglicher Konflikte begrenzt haben. Die «gemeinsame Agrarpolitik» ist zwar kaum eine Errungenschaft, auf die Europäer besonders stolz sein sollten, doch gerade weil sie den Grossteil des EU-Haushalts verschlang, blieben Konflikte zwischen Mitgliedstaaten auf einen wirtschaftlich weniger bedeutenden Bereich beschränkt.
Die Befürworter einer immer engeren Union übersehen, dass eine gemeinsame Fiskalpolitik die Konflikte zwischen den Mitgliedstaaten eher verschärfen könnte. Dass die unterschiedlichen Mentalitäten des «sparsamen» Nordens und des «verschwenderischen» Südens bisher nicht aufeinandergeprallt sind, liegt auch daran, dass die fiskalische Umverteilung zwischen beiden begrenzt blieb.
Schliesslich war das Wesen Europas seit jeher die Vielfalt und der Wettbewerb – sowohl zwischen Unternehmen als auch zwischen nationalen Kulturen. Die wichtigsten Institutionen der EU, darunter der gemeinsame Markt und die stabile Währung, bilden die Grundlage dafür.
«Das Wesen Europas war seit jeher die Vielfalt und der Wettbewerb –
sowohl zwischen Unternehmen als auch zwischen nationalen Kulturen.»
Bisher ist die EU durch eine mangelhafte Governance vorangekommen, sehr zum Missfallen der Europhilen. Diese würden es vorziehen, wenn die Europäer ihre gemeinsame politische Zukunft enthusiastisch begrüssen würden, statt dass die EU-Institutionen einem Flickenteppich gleichen, dem planlos ein neuer Flicken hinzugefügt wird. Deshalb haben sie seit langem eine Europäisierung durch Krisen befürwortet: Sie nutzen Turbulenzen, um neue gemeinsame Institutionen durchzusetzen. Der Zerfall der traditionellen transatlantischen Allianz, gepaart mit einer – nicht ganz rational begründeten – Hysterie über Russlands Aussenpolitik, schürt nun eine neue Welle der Unruhe. Die Europäische Kommission wird diese Hysterie nutzen, um die Zentralisierung voranzutreiben.
Ein weiteres Paradoxon: Eine postnationale Institution bedient sich des ältesten Tricks des Nationalismus, der Suche nach äusseren Feinden.
In den nächsten Jahren wird sich zeigen, ob die Europäische Union ihren aussergewöhnlichen Charakter bewahrt, der sie zu einem fragilen, aber wahrhaft originellen Experiment des Institutionenaufbaus gemacht hat. Oder sie könnte sich in einen kontinentalen Nationalstaat verwandeln. In der Rhetorik ihrer Propheten mag Letzteres als die stabilere Option erscheinen. Ob dies in der Praxis zutrifft, bleibt jedoch fraglich.