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«Der Kampf gegen Desinformation ist eine Methode, kritische und unliebsame Äusserungen bekämpfen zu können»

In der EU gebe es zu viel legale Korruption, sagt Europaparlamentarier Martin Sonneborn. Der Schweiz empfiehlt er keine engere Anbindung.

«Der Kampf gegen Desinformation ist eine Methode, kritische und unliebsame Äusserungen bekämpfen zu können»
Martin Sonneborn, fotografiert von Lukas Leuzinger.

Wer eine Audienz bei Martin Sonneborn will, muss auf langen verschlungenen Wegen durch das EU-Parlamentsgebäude in Brüssel gehen. Hier hat der frühere Chefredaktor des deutschen Satiremagazins «Titanic» und heutige EU-Parlamentarier sein Büro, direkt neben Abgeordneten der AfD und einer spanischen Partei namens «Se Acabó La Fiesta» («Die Party ist zu Ende»). Ist die Platzierung im hintersten Winkel des Gebäudes eine Strafaktion gegen Sonneborn, der das Brüsseler Establishment immer wieder aufs Korn nimmt? Der Vorsitzende von «Die Partei» nimmt es mit Humor. Er setzt sich in seinem Büro, an dessen Wand ein Banner mit dem Slogan #PilsforEurope hängt, hinter den Schreibtisch und erzählt mit ernstem Gesichtsausdruck, aber immer wieder auch mit Witz.

Martin Sonneborn, Ende März wurden Marine Le Pen und acht Parteikollegen von einem Gericht in Paris schuldig gesprochen, weil sie als EU-Abgeordnete Gelder veruntreut haben sollen. Gleichzeitig wurde sie von den nächsten Präsidentschaftswahlen ausgeschlossen. Was sagt das über die Demokratie in Europa?

Ich kann Le Pen nicht leiden, aber ich finde es demokratietheoretisch extrem problematisch, Leute auf juristischem Weg aus dem politischen Rennen zu nehmen. Was Le Pen vorgeworfen wird, kann man vielen Parteien und Abgeordneten hier vorwerfen. Manfred Weber zum Beispiel liess sich im deutschen Wahlkampf von einem EU-Fahrer herumchauffieren. Man würde Le Pen oder auch die AfD besser mit einer vernünftigen Politik statt mit juristischen Mitteln bekämpfen.

 

Das Gericht beziffert den Schaden auf fast 3 Millionen Euro. Als Bürger fragt man sich: Wie können ein paar wenige Parlamentarier überhaupt so viel Geld veruntreuen?

Sie können das, weil sie bestens ausgestattet werden. Als Abgeordneter habe ich einen Etat von rund 30 000 Euro pro Monat, mit denen ich Assistenten einstellen kann. Dazu kommt eine Pauschale von ungefähr 60 000 Euro im Jahr. Über einen längeren Zeitraum kommt da schon einiges zusammen.

 

Wofür geben Sie das Geld aus?

Es ist mir ein wenig peinlich: Wir geben das gar nicht komplett aus. Vergangenes Jahr hatten wir noch Budget übrig, deshalb haben wir in aller Eile noch dieses Buch produziert. (Sonneborn zeigt auf ein edel gestaltetes Büchlein mit dem Titel «Handbuch der europäischen Werte», das weitgehend mit leeren Seiten gefüllt ist.) Ansonsten geben wir das Geld für Gimmicks aus wie Sonnenbrillen mit meinem Gesicht. Oder für Bürgersprechstunden, an denen wir Champagner oder Bier ausschenken.

«Als Abgeordneter habe ich einen Etat von rund 30 000 Euro pro Monat, mit denen ich Assistenten einstellen kann. Dazu kommt eine Pauschale von ungefähr 60 000 Euro im Jahr.»

 

Wie gross ist die Geldverschwendung in der EU?

Riesig. Der Rechnungshof hat gerade kritisiert, dass die Vergabe von 650 Milliarden Euro Coronahilfen komplett intransparent und unkontrolliert verlaufen ist … Aber das ist eigentlich nicht das, was mir Sorgen macht.

 

Sondern?

Zwei Dinge. Zum einen die legale Korruption: Zusätzlich zu ihren Diäten beziehen Abgeordnete oft ein Vielfaches davon in Form von Vergütungen von Firmen oder anderen Staaten, zum Beispiel den Vereinigten Arabischen Emiraten. Hinzu kommen Reisen und Luxushotelaufenthalte. Ich könnte mir vorstellen, dass man dafür entsprechende Gegenleistungen erwartet.

 

Wurden Ihnen solche Sachen schon angeboten?

Nein, leider nicht. Ich bekam nur einmal von Huawei Erdnüsse und Champagner. Offenbar habe ich aber nicht zufriedenstellend mitgespielt. Seitdem habe ich keine Angebote mehr erhalten.

 

Und was ist die zweite Sache, die Ihnen Sorgen macht?

Seit Ursula von der Leyen hier das Regiment führt, fliessen Milliardensummen an Grosskonzerne – zum Beispiel an Pharmafirmen für Coronaimpfstoffe. Die Kommission hat dabei über 35 Milliarden Euro in den Sand gesetzt. Aktuell bezahlen wir Pfizer dafür, dass sie keine Coronaimpfdosen mehr produzieren. Statt für soziale Sicherung, Bildung und Infrastruktur geben wir das Geld für Arzneimittel und Waffen aus.

 

Sie haben als Spasspartei-Politiker angefangen. Aber wenn man Sie so reden hört, scheinen Sie ernsthaft empört zu sein.

Als ich das erste Mal gewählt wurde, sah ich die EU als ein Projekt für Frieden und Wohlstand, in dem man Dinge graduell verbessern müsste. Jean-Claude Juncker und Martin Schulz, unsere alten Chefs, waren mir ein bisschen zu neoliberal, aber im Prinzip dachte ich: Die EU ist ein gutes Konstrukt, das mit den falschen Leuten besetzt ist. Von der Leyen dagegen vertritt nicht mal mehr die Bedürfnisse der europäischen Grosskonzerne, sondern ganz offen amerikanische Interessen.

 

Und sie wird zunehmend dominanter.

Die Kommissionspräsidentin ist eigentlich nur die Sprecherin dieses Kollegiums. Sie aber schwang sich zu einer ungekrönten Königin auf, indem sie alle Personen, die ihr widersprachen oder die Erfahrung in der Wirtschaft hatten, aussortierte. Nun regiert sie durch. Mit einem kleinen Kreis von vier oder fünf nicht gewählten Beratern, mit denen sie schon im deutschen Verteidigungsministerium Schlagzeilen wegen Korruption und Intransparenz gemacht hatte.

«Statt für soziale Sicherung, Bildung und Infrastruktur geben wir das Geld für Arzneimittel und Waffen aus.»

 

Sie glauben also nicht mehr, dass die EU an sich ein gutes Konstrukt ist?

Ich glaube schon, dass man in einem grösseren Zusammenschluss mehr Gewicht hat und in der heutigen Welt besser bestehen kann. Bloss müsste man dafür eine gute Strategie haben. Stattdessen ist es der EU gelungen, es sich mit allen drei grossen Mächten zu verderben: den Russen, den Chinesen und den Amerikanern. Das ist nur mit Arbeitsverweigerung oder Dummheit zu erklären.

 

Sie äussern sich immer wieder kritisch über die Politik in der EU oder auch in den Mitgliedsländern. Müssen Sie sich nicht den Vorwurf gefallen lassen, dass Sie demokratische Institutionen schlechtreden und letztlich Parteien wie der AfD oder dem Rassemblement National in die Hände spielen?

Das glaube ich nicht, es wäre mir aber auch egal. Ich habe mein Handwerk bei «Titanic» gelernt und lange genug Rechte aufs Korn genommen. Ich bin jetzt auch zu alt, um mich mit dämlichen Vorwürfen auseinanderzusetzen. Das ist ein Problem der Presse, die denkt, wer Kritik an der EU übe, helfe Putin oder der AfD. Aber wenn keine Kritik mehr geübt wird, werden die Zustände permanent schlimmer.

 

Was bedeutet Europa für Sie?

Während Jahrzehnten bedeutete die EU für mich Frieden und Wohlstand. Das ist nicht mehr gegeben. Wir wurden als Friedensmacht gegründet, die Diplomatie wurde in Europa, in den italienischen Stadtstaaten, erfunden. Aber seit Beginn des Ukrainekrieges hat es in Brüssel keine einzige diplomatische Bestrebung gegeben.

 

Gibt es auch etwas Gutes an der EU?

Ja, die Bezahlung hier ist sehr gut. Wir sind bestens ausgestattet.

 

Wird man da reich?

In Schweizer Augen nicht, aber für europäische Verhältnisse reicht’s.

 

Man lebt also nicht schlecht als EU-Parlamentarier. Hat man auch Macht?

Nein. Das EU-Parlament ist das einzige Parlament, das ich kenne, das kein Initiativrecht hat. Wir können im Prinzip nichts einbringen, wir können nur Vorlagen des Rates und der Kommission abnicken.

 

Sollte die Macht des Parlaments gestärkt werden? Oder wäre es besser, die nationalen Parlamente zu stärken und Kompetenzen von Brüssel zurückzunehmen?

Vor fünf Jahren hätte ich anders gesprochen. Aber heute ist für mich klar, dass dem Subsidiaritätsprinzip nicht mehr entsprochen wird. Je näher die Politiker am Bürger sind, desto besser. Dinge, die im eigenen Land passieren, kann man besser beobachten, einschätzen und kann sie auch juristisch oder durch die vierte Gewalt besser kontrollieren. Was wir hier machen, wird in den Mitgliedsländern viel zu wenig verfolgt. Zumal wenn keine kritischen Medien existieren.

 

Die Eurokraten sind also ziemlich abgehoben.

Ich glaube, die meisten sind nicht bösartig. Viele sind naiv und glauben, dass sie vielleicht noch Schlimmeres verhindern oder etwas graduell verbessern können. Aber es gibt nur wenige, die grundsätzlich am Kurs zweifeln.

 

Im EU-Wahlkampf 2014 haben Sie eine Mauer um die Schweiz gefordert. Warum?

Wir hatten zuvor bereits eine neue Mauer zwischen West- und Ostdeutschland gefordert. Gemäss Umfragen können sich 25 Prozent der Bürger mit dieser Idee identifizieren – wir dachten, damit einfach neue Wähler gewinnen zu können. Seither stellen wir die gleiche Forderung gegenüber vielen unsympathischen Ländern.

 

Die Schweiz ist unsympathisch?

Habe ich unsympathisch gesagt? Pardon, ich meinte natürlich hochsympathisch! Ich finde die Schweiz so sympathisch, dass ich versuche, ein Schweizer Bankkonto zu eröffnen. Aber keine Bank will einem EU-Abgeordneten ein Konto geben, wir haben einen zu schlechten Ruf.

 

Trotzdem sind Sie für einen EU-Beitritt der Schweiz.

Ja, wir suchen händeringend zahlungskräftige Nettozahler. Wer dumm genug ist, beizutreten, den nehmen wir mit offenen Armen auf: roter Teppich, Militärkapelle, alles, was Sie wollen.

 

Wir geben der EU doch schon Milliarden an Kohäsionszahlungen. Reicht Ihnen das nicht?

Nein. Wenn Sie mal nach Berlin fahren, dann werden Sie verstehen, dass gerade Deutschland das Schweizer Geld dringend braucht.

 

Die Schweizer Regierung und die EU haben sich auf ein Vertragspaket geeinigt, das die Beziehungen auf eine neue institutionelle Basis stellen soll. Unter anderem ist vorgesehen, dass die Schweiz neues EU-Recht in bestimmten Bereichen obligatorisch übernehmen muss und der EU-Gerichtshof über Konflikte entscheidet. Ist die EU vertrauenswürdig genug, dass wir uns ihr enger anbinden sollen?

Nein, selbstverständlich nicht. Sie müssten dann alle unsere Regulierungen übernehmen. Natürlich ohne sie alle zu kennen, sonst würden Sie ja nicht … Sie verstehen.

 

Erlässt die EU zu viele Vorschriften?

Natürlich. Ich höre das immer wieder, ob ich mit Architekten oder Bauunternehmern spreche. Das Problem verschärft sich noch dadurch, dass wir in Deutschland diese Vorschriften ernst nehmen. Wenn eine 24-seitige Verordnung vorgibt, wie bei einem Neubau Fahrradständer gestaltet werden müssen, pfeifen die Leute in Spanien einfach drauf. Bei uns kommt jemand vom TÜV und sagt: Das ist falsch, das muss man zurückbauen. Das ist deutsch.

«Wenn Sie mal nach Berlin fahren, dann werden Sie verstehen, dass gerade Deutschland das Schweizer Geld dringend braucht.»

 

Apropos Vorschriften: Vor der Bundestagswahl im Februar liess eine Behörde in Brandenburg Wahlplakate von «Die Partei» verbieten, unter anderem eine Regenbogenflagge mit dem Spruch: «Fickt euch doch alle!» Der zuständige Amtsdirektor erklärte: «Ich musste ein Signal setzen. Ich kann den Leuten doch nicht erklären, warum unsere Kinder und Rentner solche Sprüche lesen müssen.» Was sagt uns das über die Meinungsäusserungsfreiheit in Deutschland?

Dass der Amtsdirektor offenbar nicht ganz sattelfest ist in Sachen Grundgesetz. Natürlich sind satirische Äusserungen auch auf Wahlplakaten geschützt. Die Plakate hat er dann auch wieder aufgehängt. Es geht aber um ein grösseres Problem.

 

Welches?

Politiker wie Robert Habeck und Annalena Baerbock verklagen Leute, die sie als «Schwachkopf» oder als «dümmste Aussenministerin der Welt» bezeichnen. Politiker gehen mit der Staatsanwaltschaft und dem ganzen Apparat, den sie kontrollieren, auf kleine Leute los, die ihrem Unmut im Netz Luft gemacht haben. Helmut Kohl hätte «Titanic» mehrfach verklagen können; er war klug genug, es nicht zu tun. Inzwischen ist das weit verbreitet: Frau Strack-Rheinmetall (gemeint ist Marie-Agnes Strack-Zimmermann) verdient mit dem Abmahnen von Leuten wohl mehr, als sie als Parlamentarierin erhält. Das führt zu einer Meinungsunfreiheit, die man in Deutschland bisher nicht gekannt hat.

 

Zugleich haben sich die EU und verschiedene nationale Regierungen die Bekämpfung von «Desinformation» auf die Fahne geschrieben. Das führt ebenfalls zu einer Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit.

«Desinformation» ist ein Begriff aus dem Geheimdienstwesen. Eigentlich gibt es das gar nicht – es gibt Informationen, die stimmen, und solche, die nicht stimmen. Der Kampf gegen «Desinformation» ist lediglich eine Methode, kritische und unliebsame Äusserungen bekämpfen zu können. Die EU hat in den letzten drei Jahren 7 Milliarden Euro ausgegeben, damit NGOs Werbung machen für die Ideen der EU-Kommission. Es gibt also auf der einen Seite grossangelegte Versuche, auf die Bürger unlauter Einfluss zu nehmen, und auf der anderen Seite eine grassierende Sucht, missliebige Äusserungen und Informationen zu zensieren. Willkommen in der EU!

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