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Gefangen im ideologischen Patt
Dominik Pietzcker, zvg.

Gefangen im ideologischen Patt

Die Grundlagen von Europas einzigartiger Kultur, Wohlstand und Sicherheit werden kontinuierlich unterminiert. Nicht etwa durch russische Hacker, chinesische Elektroautos oder amerikanische Zölle, – sondern von uns Europäern selbst.

Welches ist das wahre Europa? Das Europa des christlichen Glaubens, der Nationalismen und des homogenen Gesellschaftsentwurfs – oder das Europa der Vielfalt und Toleranz, des bunten Miteinanders und der friedlichen Diversität? Die Antwort darauf fällt nicht eindeutig aus. Denn beide Grundhaltungen, sowohl die konservative als auch die pluralistische, die autoritäre ebenso wie die anarchische, können sich auf tiefreichende europäische Geistestraditionen berufen.

Schliesslich ist ja nicht nur der kosmopolitische Universalismus, sondern auch der konfliktive Nationalismus – und mit ihm die Vorstellung der ethnischen und kulturellen Homogenität innerhalb eines Staates – Teil des genuin europäischen Ideenreservoirs. Rabiate Nationalisten und militante Ausländerfeinde können sich daher ebenso auf europäische («abendländische») Werte berufen, wie es ihre leidenschaftlichen Gegner tun. Ausbeutung, strukturelle Gewalt und soziale Segregation lassen sich, in bester europäischer Manier, genauso gut oder schlecht begründen wie die Vorstellung einer egalitären und befriedeten Gesellschaft.

Die tiefe Kluft zwischen partizipativen und autoritären gesellschaftlichen Vorstellungen, die heute überall in Europa schmerzhaft aufreisst, ist letztlich eine Langzeitfolge von Aufklärung und Französischer Revolution. Seit 1789 ist das Lager der Konservativ-Restaurativen (der «Rechten») vom Lager der Verfechter egalitärer Ideen (der «Linken») durch einen unüberwindbaren ideologischen Wassergraben getrennt. Die Dialogunfähigkeit beider Lager, ihre Unversöhnlichkeit und erklärte Feindschaft treten bis heute offen zutage. Politische Kompromisse sind auf diese Weise nicht zu erzielen, breiter Konsens schon gleich gar nicht. Damit zerfallen die europäischen Gesellschaften (und die EU als Ganzes) in verfeindete politische Lager und Fraktionen, die sich gegenseitig zu neutralisieren trachten. Eine übergeordnete Leitidee gibt es nicht – das ist eine kostspielige Illusion.

Der doppelköpfige Janus, widersprüchlich und rätselhaft, ist ein weitaus treffenderes Symbol für Europas Ambivalenz als die heilig nüchterne Minerva. Doch die ungelöste Mehrdeutigkeit führt dazu, dass immer mehr politische Bereiche und Funktionen in einen Zustand fortschreitender Paralyse übergehen. Der Umgang mit Ambivalenz ist massiv gestört. Geschichtsphilosophen könnten jetzt hinzufügen: Vielleicht ist dieser Antagonismus der letzte dialektische Kniff des Hegel’schen Weltgeistes, eine Camouflage der europäischen Ideentradition und ihrer historischen Ausformung.

Stillstand ohne Dialog

Wer ist Europäer und wer nicht – und wer entscheidet eigentlich über diese zentrale Frage? Europa ist in einem ideologischen Patt gefangen. Auf der einen Seite stehen die selbsternannten konservativen Patrioten, die sich auf tradierte Werte und ein homogenes Gesellschaftsverständnis berufen. «Europa den Europäern!» lautet der polemische Schlachtruf; man kann ihn entsprechend auf jedes einzelne Land und jede Region herunterbrechen. Herkunft, Religion und Familie sind für sie die Säulen der eigenen kulturellen Identität und persönlichen Lebensrealität. Gesellschaft in dieser Variante ist ein exklusiver Club, der nur in Ausnahmefällen neue Mitglieder aufnimmt. Die Brutalität der Ausgrenzung wird als notwendige Konsequenz, Härte als Tugend betrachtet.

Auf der anderen Seite des gesellschaftlichen Spektrums stehen kosmopolitische Progressisten. Sie sehen gesellschaftliche Strukturen als fluide, offen und konstruiert – und daher als dynamisch und jederzeit veränderbar. Geschlechterrollen, die Autorität von historischen Vorbildern, soziale Hierarchien und ihre Ausprägungen als Macht-, Geld- und Bildungselite werden von ihnen rundum abgelehnt. Zugehörigkeit ist keine Frage der Herkunft, sondern der Haltung. Jeder Mensch ist willkommen.

Keine Kompromissbereitschaft

Beide gesellschaftlichen Lager, die Traditionalisten und die Progressiven, stehen sich unversöhnlich gegenüber. Ihre jeweiligen ideologischen Positionen schliessen einander aus; ein ergebnisoffener Dialog zwischen beiden Lagern ist daher unmöglich. Hier gibt es keine politische oder gesellschaftliche Schnittmenge, sondern nur noch ideologische Verhärtung. Beide können sich mit Friedrich Schillers «Don Karlos» gegenseitig vorwerfen: «Soll ich verehren, was du höhnst?» Das ist die ultimative Form der gegenseitigen Verachtung, die keine Worte mehr für den ideologischen Gegner findet.

«Beide gesellschaftlichen Lager, die Traditionalisten und die

Progressiven, stehen sich unversöhnlich gegenüber. Ihre jeweiligen

ideologischen Positionen schliessen einander aus; ein ergebnisoffener Dialog zwischen beiden Lagern ist daher unmöglich.»

In diesen konsequent antagonistischen Grundhaltungen ist gesellschaftlicher Konsens bereits aufgekündigt. Ein Kompromiss, eine übergeordnete Instanz, der sich alle beugen und die daher auch alle miteinander verbindet, ist bei dieser Konstellation gar nicht vorgesehen. Im diffusen Licht der Ideologien werden selbst höchstrichterliche Entscheidungen lediglich als eine Form von Fake News interpretiert, nämlich als böswillige Missachtung der alleinigen Wahrheit. Das Erstarken radikaler Ideologien fordert zunehmend auch die Herrschaft des Rechts heraus.

So entsteht ein Gesellschaftsklima der Intoleranz, des Misstrauens und der Negativität. Es gibt keine verbindende Synthese, schon gar keine Annäherung der politischen Lager. Der Knoten innergesellschaftlicher Widersprüche wird – wie in Polen und Ungarn, den Niederlanden und der Slowakei (die Liste liesse sich fortsetzen) – von den Vertretern der Extrempositionen zerschlagen. Während die einen lauthals jubeln, denken die andern schon ans Exil. Damit geht ein neuer Politikstil einher, dem der politische Gegner und die Anliegen seiner Klientel vollkommen gleichgültig, ja lachhaft sind. Schadenfreude und Häme als rhetorischer Stil sind in europäischen Parlamenten als Ort des sprachlich-argumentativen Austausches längst normalisiert. Das ist ein eklatanter Zerfall der politischen Kultur.

Wo bleibt eigentlich die Mitte?

Der Streit der politischen Extreme könnte eigentlich zu einer Stärkung der moderaten Mitte führen – allerdings nur theoretisch. Nicht die Mitte wächst, sondern die radikalen Ränder auf der linken und rechten Seite des politischen Spektrums. Doch selbst wenn die Machtfrage an der Wahlurne gelöst ist, wie kürzlich bei den Präsidentschaftswahlen in Polen, bleibt der breite Konsens aus. Die Positionen des Verlierers und seiner Anhänger bleiben in dieser politischen Logik immer unterrepräsentiert. Gesellschaftliche Widersprüche werden dadurch gerade nicht befriedet. Polarisierung führt zu Eskalation.

Im Prinzip befinden sich die europäischen Gesellschaften im Zustand eines polemisch geführten Bürgerkriegs, bei dem beide Seiten ideologisch aufrüsten und die ultimative Niederlage des anderen anstreben. Das Gesellschaftsklima ist dadurch komplett vergiftet. Das Ergebnis dieser fortschreitenden Radikalisierung lässt sich überall in Europa beobachten: Randale, Zerfall, Kontrollverlust.

Die globalen Hauptakteure betrachten die kulturelle und strukturelle Selbstzerstörung der europäischen Gesellschaften mit grossem Interesse. Der endlose Streit, die Unversöhnlichkeit der Positionen und die Unmöglichkeit konsensualer Lösungen führen im Ergebnis zu einer irreparablen Schwächung Europas. Schlecht für uns – gut für andere.

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