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Die Regierung in die Schranken der Verfassung weisen
Andreas Glaser, zvg.

Die Regierung in die Schranken der Verfassung weisen

Die Eingriffe der Behörden während Corona waren beispiellos. Dennoch bleibt die Politik mehrheitlich unwillig und untätig, eine Wiederholung bei einer nächsten Krise zu verhindern.

Die Bundesverfassung kennt den Begriff «Notrecht» nicht. Dennoch verwenden ihn Bundesbehörden, Staatsrechtslehre und Medien heute flächendeckend. Die Bundesbehörden verstehen darunter vor allem den Erlass von Verordnungen durch den Bundesrat gestützt auf die Artikel 184 (Beziehungen zum Ausland, Abs. 3) und 185 (äussere und innere Sicherheit, Abs. 3) der Bundesverfassung.

Gedeckt von diesen Ermächtigungsgrundlagen sind Verordnungen zur Bewältigung aussenpolitischer und innerer Krisen. Daneben finden sich in Spezialgesetzen Ermächtigungen des Bundesrates zum Erlass von «Notrecht»: Zu nennen sind die ausserordentliche und die besondere Lage im Epidemiengesetz (Art. 7 und 6) sowie die schwere Mangellage im Landesversorgungsgesetz (Art. 31 und 32). Unter der im Jahr 2000 in Kraft getretenen Bundesverfassung hat der Bundesrat wiederholt von seiner «Notrechtsbefugnis» Gebrauch gemacht – von der Rettung der UBS 2008 über die Rettung der Axpo 2022 bis zur Rettung der Credit Suisse 2023.

Bescheidene Korrekturen

Was Bedeutung und Umfang der Eingriffe angeht, war das Regime von «Notverordnungen» während der Covid-19-Pandemie in den Jahren 2020 und 2021 einmalig: Grundrechte wurden massiv eingeschränkt, die föderalistische Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Kantonen wurde vielfach übersteuert.

Die verfassungsrechtlich erschütternden Ereignisse während der Covid-19-Pandemie haben das Parlament nur zu bescheidenen Korrekturen veranlasst. Der Bundesrat muss auf der Grundlage von Art. 151 Abs. 2bis Parlamentsgesetz nun immerhin die zuständigen Kommissionen zu den Entwürfen für Verordnungen und Verordnungsänderungen konsultieren, die er gestützt auf Art. 185 Abs. 3 der Bundesverfassung oder gestützt auf eine gesetzliche Ermächtigung zur Bewältigung einer Krise erlässt. Hierunter fallen unter anderem das Epidemiengesetz und das Landesversorgungsgesetz. Kommissionsmotionen, die sich auf Notverordnungen beziehen, müssen in der nächsten oder in der laufenden Session traktandiert werden (Art. 121 Abs. 1ter ParlG). Und der Bundesrat muss unverzüglich berichten, wenn er eine derartige Kommissionsmotion nicht erfüllt (Art. 122 Abs. 1bis lit. b ParlG).

Seit dieser 2023 in Kraft getretenen, in ihrer Tragweite begrenzten Reform hat die Politik das Thema «Notrecht» ad acta gelegt. Der Bundesrat äussert in seinem Bericht «Anwendung von Notrecht» von 2024 die Auffassung, dass die Verfassungsartikel 184 und 185 als Rechtsgrundlage genügten. Die dem Bericht zugrunde liegenden Postulate sind damit erfüllt.

Bundesrat und Bundesgericht widersprechen sich

Doch die im Bericht enthaltenen Aussagen belegen dringenden verfassungsrechtlichen Klärungsbedarf. Es bleibt nämlich nach wie vor unklar, wie weit die notrechtlichen Befugnisse des Bundesrates reichen. So heisst es an einer Stelle, der Schutz verfassungsrechtlich relevanter Interessen könne es im Einzelfall rechtfertigen, von der Bundesverfassung abzuweichen. Normen könnten zeitweise ausser Kraft gesetzt werden, um «die Rechtsordnung als Ganzes» zu schützen. Ausnahmsweise müsse von einer Verfassungsnorm abgewichen werden können, um das ihr zugrunde liegende Interesse bestmöglich zu schützen.

Demgegenüber hat das Bundesgericht in seinem Urteil vom 24. März 2021 festgestellt, dass der in der Covid-19-Verordnung Kultur angeordnete Ausschluss jeder Beschwerdemöglichkeit gegen die Rechtsweggarantie in Art. 29a der Bundesverfassung verstiess und die Vorschrift daher nicht angewendet werden durfte. Auf Art. 185 Abs. 3 gestützte Notverordnungen des Bundesrates müssen nämlich laut Bundesgericht verfassungsgemäss sein.1 Das Bundesgericht bestätigte diese Rechtsprechung mit Urteil vom 6. November 2022.2 Im Bericht des Bundesrates werden diese beiden bedeutsamen Urteile nicht erwähnt.

Bundesrat und Bundesgericht widersprechen sich somit hinsichtlich der entscheidenden Frage, ob die Regierung mit einer «Notverordnung» Verfassungsbestimmungen ausser Kraft setzen darf. Ein eindrücklicher Anwendungsfall, der in einer künftigen Krise erneut relevant werden könnte, ist das vom Bundesrat in Abweichung von der Bundesverfassung angeordnete Verbot von Unterschriftensammlungen für Volksinitiativen und Referenden im Anschluss an einen Fristenstillstand bei den demokratischen Rechten.

Dringend nötige Diskussion

Mit Blick auf die nächste Krise sollte das Parlament eine verfassungsrechtliche Klärung anstreben. Volk und Stände hätten dann Gelegenheit, die Grenzen des «Notrechts» zu definieren. In der Bundesverfassung selbst wäre zu regeln, ob der Bundesrat von deren Bestimmungen abweichen darf oder ob er seine Befugnisse nur «innert den Schranken der gegenwärtigen Verfassung» ausüben darf, wie das unter der bis 1999 geltenden Bundesverfassung von 1874 geregelt war.

Die Eingrenzung der Notrechtsbefugnisse des Bundesrates würde zum einen Klarheit schaffen, dass das Bundesgericht «Notverordnungen» im Einzelfall vorfrageweise auf deren Vereinbarkeit mit der Bundesverfassung überprüfen darf – so wie es dies in der Covid-19-Pandemie bereits vereinzelt getan hat. Zum anderen würde im Fall, dass eine Durchbrechung der Bundesverfassung politisch erwünscht ist, zwingend das Parlament auf den Plan gerufen. Es müsste jeweils ein dringliches Gesetz ohne Verfassungsgrundlage erlassen. Dieses wäre entweder auf höchstens ein Jahr zu befristen oder unterstünde bei längerer Geltungsdauer der obligatorischen Abstimmung von Volk und Ständen.

«Die Eingrenzung der Notrechtsbefugnisse des Bundesrates würde

Klarheit schaffen.»

Die Präzisierung der verfassungsrechtlichen Notstandsbefugnisse des Bundesrates ist ein anspruchsvolles Vorhaben, denn die politischen Auswirkungen sind nicht genau absehbar. Die Einengung der Notrechtsbefugnisse des Bundesrates birgt die Gefahr, dass der politische Wille zu einer Auslagerung der Rechtsetzung aus dem Verfassungsgefüge führt. Der Ausweg aus den verfassungsrechtlichen Fesseln könnte in einem erneuten Vollmachtenregime liegen, wie es in den beiden Weltkriegen der Fall war. Ob das im Vergleich zur heutigen Rechtslage das kleinere verfassungsrechtliche Übel wäre, ist nicht gesichert.

Die Schweiz ist heute jedoch eine gefestigte rechtsstaatliche Demokratie. Es ist zu erwarten, dass Politik und Gesellschaft in der Lage sind, Krisenbewältigung und Verfassungsrecht in Einklang zu bringen. Verfassungsrechtliche Hürden schützen vor übereilten Entscheiden und mildern drastische Massnahmen im Interesse des Grundrechtsschutzes ab. Um nicht im rechtlichen Blindflug in die nächste Krise zu schlittern, ist eine grundlegende Verfassungsdiskussion über das «Notrecht» dringend nötig.

  1. BGE 147 I 333 E. 1.5

  2. BGE 149 V 2 E. 9

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Anders Tegnell, zvg.
«Es ist erstaunlich, wie leicht es war, die Massnahmen
einzuführen – und wie
unglaublich schwierig, sie
wieder aufzuheben»

Die Eigenverantwortung spielte bei der Bewältigung der Pandemie eine entscheidende Rolle, sagt Schwedens früherer Chefepidemiologe Anders Tegnell. Der schwedische Ansatz erwies sich nicht nur als wirksam, sondern stärkte auch das Vertrauen der Bevölkerung.

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