«Die Volksarmee schiesst nicht auf das Volk»
1989 erlebte ich das Massaker auf dem Tian’anmen-Platz, doch ich brachte es nie fertig, meine Erfahrungen niederzuschreiben. Bis jetzt.

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Meine Ankunft in Peking war völlig überstürzt. Ich war als Postdoc am Institut für theoretische Physik der Academia Sinica ins Team des Nobelpreisträgers T. D. Lee aufgenommen worden. Eigentlich hatte ich geplant, meine Doktorarbeit erst im Sommer 1989 zu schreiben, doch das Institut bot mir an, bereits am 1. Mai anzufangen. So brachte ich meine dreijährige Forschungsarbeit eilig zu Papier und verteidigte meine Dissertation Ende April.
Etwa eine Woche später flogen meine damalige Freundin (und heutige Ehefrau) und ich von Amsterdam über Karachi nach Peking. Am Flughafen holte uns eine alte sowjetische Limousine ab. Dies war für mehrere Wochen das letzte Mal, dass wir ein Auto benutzten. Denn fortan bewegten wir uns fast ausschliesslich mit dem Fahrrad fort. Autos waren damals in China noch eine Seltenheit. Eine Seltenheit waren übrigens auch wir: Als Westler fielen wir überall auf, und die Menschen auf der Strasse drehten sich oft verwundert nach uns um.
Das Institut hatte für uns eine kleine, möblierte 3-Zimmer-Wohnung organisiert (ein echter Luxus im damaligen China), ganz in der Nähe des Instituts. Die Wohnung befand sich am nordwestlichen Stadtrand, im Dreieck der drei wichtigsten Universitäten: der Peking-Universität, der Tsinghua-Universität und der Renmin-Universität. Das Institut und ein Kollege stellten uns auch zwei «Flying Pigeons» zur Verfügung, jene allgegenwärtigen, schweren, aber unverwüstlichen chinesischen Fahrräder, mit denen wir diese riesige Stadt erkunden konnten.


Wie ein packendes Abenteuer
Die Proteste und Demonstrationen hatten schon im April begonnen. Bereits vor unserer Ankunft war uns klar, dass wir uns in eine aussergewöhnliche Situation begaben. Kurz nach unserer Ankunft warnten mich einige ältere Kollegen, die Regierung habe eine Ausgangssperre verhängt – wir sollten zu Hause bleiben. Natürlich hielten wir uns nicht daran und gingen stattdessen frohen Mutes mit Leuten in unserem Alter zum Tian’anmen-Platz, um die Menschenmenge zu beobachten und uns unter sie zu mischen. Zwar schlugen einige Kollegen vor, wir sollten lieber die Verbotene Stadt und andere Sehenswürdigkeiten in und um Peking besichtigen, doch wir wollten unbedingt die Demonstrationen miterleben und verschoben die touristischen Aktivitäten auf später. Dass unsere Pläne bald über den Haufen geworfen würden, ahnten wir nicht.
Wir besuchten den Tian’anmen-Platz mehrmals, zunächst in Begleitung chinesischer Bekannter, später auch alleine. Es fühlte sich jedes Mal wie ein packendes Abenteuer an, ohne dass wir uns je bedroht fühlten.
Ein riesiger Platz voller Menschen
Die lange Fahrt von den nordwestlichen Aussenbezirken ins Zentrum Pekings war bereits ein beeindruckendes Erlebnis: Ein unglaublich dichter, aber gleichmässiger Strom von Fahrrädern floss in beide Richtungen, begleitet von Lieferwagen und Lastwagen voller Demonstranten. Die Menschen trugen Banner und Protestutensilien. Zahlreiche Studentengruppen aus verschiedenen Fakultäten mischten sich mit Arbeitern aus Fabriken und Verwaltungen (die oft auf der Ladefläche von Firmenfahrzeugen mitfuhren), darunter auch uniformierte Polizisten und Militärangehörige (deren Uniformen ich kaum unterscheiden konnte). Obwohl die Studenten die Proteste anführten, waren Menschen aller Berufe und Altersgruppen vertreten.
Der Tian’anmen-Platz übertraf jedoch alles: Als einer der grössten Plätze der Welt war er nahezu vollständig gefüllt mit Menschen jeglichen Alters, Geschlechts, Berufs und Hintergrunds. Manche waren allein gekommen, die meisten jedoch in Gruppen. Die Mehrheit der Demonstranten stammte aus dem Grossraum Peking, doch unsere chinesischen Begleiter wiesen uns immer wieder auf Menschen hin, die von weiter her, auch vom Land, angereist waren.

Die Menschenmenge war bereits auf dem Weg zum Platz dicht gedrängt, doch auf dem Platz selbst wurde es noch enger. Nach einer groben Schätzung drängten sich gut eine Million Menschen auf dem Gelände. Die Atmosphäre blieb dennoch völlig entspannt, erinnerte fast an ein Volksfest, und viele Demonstranten strahlten eine geradezu heitere Stimmung aus.
Es gab allerdings eine Ausnahme: der sorgfältig abgesperrte Bereich um die Busse, wo Studenten ihre Kommilitonen im Hunger- (und Durst-!)streik betreuten. Dort herrschte eine deutlich ruhigere und ernstere Atmosphäre. Die Studenten wachten streng darüber, dass niemand den Bussen zu nahe kam und die Zugangswege für Krankenwagen stets frei blieben. Wie man uns berichtete, brachte etwa alle fünf bis zehn Minuten ein Krankenwagen einen der streikenden Studenten zur Infusion ins Krankenhaus.
Auseinandergehende Erwartungen
Obwohl der Tian’anmen-Platz das Epizentrum der Protestbewegungen war, fanden Demonstrationen auch andernorts statt, besonders an den Universitäten und auf belebten Plätzen wie Märkten. Die Studenten, von denen einige sehr redegewandt waren und oft Zuhörergruppen um sich versammelten, zeigten sich höchst enthusiastisch und sehnten sich nach einem grundlegenden Wandel in der chinesischen Gesellschaft: In den vergangenen zehn Jahren waren die Stadtbewohner zunehmend mit der westlichen Lebensweise, mit westlichen Ideen und Gütern in Berührung gekommen. Doch immer mehr Menschen waren unzufrieden mit der ungleichen Verteilung des neuen Wohlstands und kritisierten die Parteiführer samt deren Familien, die ihrer Ansicht nach einen unverhältnismässig grossen Teil dieses Reichtums für sich beanspruchten.
Sie forderten auch mehr Demokratie. Allerdings gingen ihre Vorstellungen davon, was dieser Begriff bedeutete und beinhaltete, weit auseinander und deckten sich nicht mit meinem Demokratieverständnis. Ein Student erklärte mir unverblümt, dass Bauern und andere «ungebildete» Bürger kein Wahlrecht haben sollten.
Von diesen weniger gebildeten Menschen auf der Strasse waren einige, wenn auch nicht so lautstark, ebenso begeistert von den Protesten. Aufgrund der Sprachbarriere war es für mich schwierig zu verstehen, warum. Ein Mann konnte mir jedoch vermitteln, dass ihn all dies an den Beginn der Kulturrevolution erinnerte – eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, an die er mit Freude zurückdachte und deren Wiederholung er herbeisehnte.

Die älteren Wissenschafter am Institut reagierten hingegen entsetzt: Auch sie sahen Parallelen zum Beginn der Kulturrevolution – für sie und ihre Familien hatte diese Zeit unermessliches Leid bedeutet. Vermutlich teilten die damaligen Parteiführer (die ebenfalls unter der Kulturrevolution gelitten hatten) diese Sichtweise. Dies mag erklären (ohne es in irgendeiner Weise zu rechtfertigen!), warum sie auf die wahrgenommene Bedrohung überreagierten und schliesslich das gewaltsame Massaker anordneten. Eine spontane Volksbewegung, die ohne zentrale Steuerung entstehen und gedeihen konnte, konnten sie sich wohl nicht vorstellen.
Ende Mai wurden wir eines Nachts von jungen Frauen geweckt, die auf der Strasse riefen: «Jūn duì lái le!» (Die Armee ist da!). Vom Fenster aus sprach ich eine von ihnen an und fragte, was genau passiert sei. Sie erzählte mir, dass Bürger am Stadtrand Militärfahrzeuge gestoppt hätten und Studenten mit den Soldaten verhandelten, die Demonstrationen unbehelligt zu lassen.
Am nächsten Morgen sahen wir mehrere Kreuzungen, die von jungen Menschen mit (rückblickend betrachtet nutzlosen) Barrikaden blockiert waren. Vom Militär war nichts zu sehen. Wie man uns erklärte, waren die Truppen unvorbereitet und ohne klare Befehle entsandt worden. Die Offiziere hätten sich leicht überzeugen lassen, in ihre Kasernen zurückzukehren.
Die Atmosphäre blieb zwar für einige Tage angespannt, doch die meisten unserer Gesprächspartner feierten dies als grossen Sieg des Volkes. Von da an bis zur verhängnisvollen Nacht hörten wir immer wieder denselben Slogan: «Die Volksarmee schiesst nicht auf das Volk.» War es Wunschdenken oder dunkle Vorahnung?
Eine schreckliche Erkenntnis
Am 3. Juni war meine Freundin für einige Tage in eine andere Stadt verreist. Am Morgen des 4. Juni beschloss ich daher, allein zum Fisch- und Vogelmarkt im Stadtzentrum zu gehen, den wir eine Woche zuvor besucht hatten. Wie stets in dieser Zeit hatte ich meine Kamera dabei.
Schon früh auf meinem Weg wurde mir klar, dass sich die Lage verändert hatte: Die Strassen waren zwar weiterhin voller Menschen, doch an diesem Morgen strömten weit mehr Menschen aus dem Zentrum heraus. Die Stimmung hatte sich völlig gewandelt – wo die Menschen zuvor noch fröhlich gewirkt hatten, wirkten sie nun tief niedergeschlagen. Einige weinten sogar, was in der chinesischen Kultur äusserst ungewöhnlich ist.

Unterwegs hielten mich einige Menschen an und versuchten, mir in gebrochenem Englisch oder auf Chinesisch ihre schrecklichen Erlebnisse zu schildern. Mir wurde klar, dass es in der Nacht zu Gewalt gegen die Demonstranten gekommen war. Doch auf das, was ich an der Chang-An-Allee sah – die nach einigen Kilometern zum Tian’anmen-Platz führt – war ich nicht vorbereitet: Zuerst sah ich eine lange Reihe verlassener Militärfahrzeuge, teils ausgebrannt, teils noch brennend. In der extremen Hitze explodierten immer wieder Patronenhülsen. Trotz der Gefahr versuchten einige Passanten mit langen Bambusstöcken, intakte Hülsen als Souvenirs darunter hervorzuholen.

Die Allee war voller Menschen, die die Zerstörung beobachteten – viele von ihnen völlig fassungslos, während andere wie Touristen entspannt umherschlenderten. Ich erinnere mich an eine kleine Rasenfläche mit Blutlachen, neben denen Menschen sassen und die Menge beobachteten. In meinen Gesprächen mit den Menschen (ob in meinem gebrochenen Chinesisch oder ihrem gebrochenen Englisch) spürte ich vor allem ihre vollkommene Fassungslosigkeit darüber, dass die Volksarmee tatsächlich auf das Volk geschossen hatte.
Merkwürdigerweise richtete sich ihr Zorn stärker gegen die Regierung als gegen das Militär. Ich erinnere mich lebhaft an eine Dame, die schnell auf mich zukam, mit dem Finger auf mich zeigte und auf Englisch schrie: «Li Peng muss sterben!» (Li Peng war damals Ministerpräsident und das Hauptziel des Unmuts der Demonstranten.)

An diesem Tag und auch später suchten die Menschen nach Erklärungen für das unfassbare Verhalten der Volksarmee. Manche vermuteten, dass die Soldaten unter Drogen gesetzt worden seien und nicht gewusst hätten, was sie taten. Oder sie seien von der südlichen Grenze zu Vietnam hergebracht worden und hätten den Pekinger Dialekt nicht verstanden. Oder sie seien vom Land gekommen und gegen die Stadtbewohner aufgehetzt worden. Was auch immer die Wahrheit sein mag, die Partei- und Regierungsvertreter hatten ihre Lektion aus der Nacht einige Wochen zuvor gelernt, als es den Demonstranten gelungen war, die Militärkonvois am Stadtrand zur Umkehr zu bewegen.
Ich ging die Chang-An-Allee in Richtung Tian’anmen-Platz entlang und machte Fotos mit meiner Kamera. An den Gebäudewänden zeigten sich zahlreiche Einschusslöcher, manche so gross wie eine ausgestreckte Hand. Augenzeugen, die das Vorrücken des Militärs durch die Allee zum Tian’anmen-Platz in der Nacht miterlebt hatten, hielten mich an und berichteten von den Geschehnissen. Ein Mann erzählte, wie er einen Soldaten beobachtet hatte, der eine ältere Dame erschoss, als sie aus ihrem Fenster auf die Verwüstung hinabblickte.
Später führten mich einige Menschen in ein Spital: Direkt hinter dem Eingang lagen Leichen in ihrem Blut. Während Helfer sie nacheinander auf Rollbahren hoben, kam ein Arzt und bat mich höflich zu gehen. Ich zögerte kurz und überlegte, dennoch weiter ins Spital vorzudringen, doch als ich sah, dass der Arzt kurz davor war zu weinen, verliess ich das Gebäude.

Als ich mich dem Tian’anmen-Platz näherte, veränderte sich plötzlich irgendwie das Verhalten der Menschen auf der Strasse. In der Ferne sah ich eine Reihe von Panzern, deren Geschütze in unsere Richtung gerichtet waren. Da packten mich mehrere Passanten am Arm und sagten mir, ich solle nicht weitergehen: Selbst aus der Entfernung war ich mit meinen hellen Haaren, meinem Bart und meiner auffälligen Kleidung eindeutig als Ausländer zu erkennen. Sie befürchteten, dass Scharfschützen mich gezielt ins Visier nehmen könnten; für die Passanten war ich ein zu wichtiger Zeuge! Viele erwarteten, dass die Regierung jegliches Fehlverhalten leugnen würde, und sie baten mich als unabhängigen Ausländer, die Beweise zu fotografieren und nach meiner Heimkehr öffentlich zu machen.

Plötzlich sprach mich jemand in ausgezeichnetem Englisch an. Es war ein Journalist der «People’s Daily», einer englischsprachigen Zeitung. Er erzählte mir, dass im Mai die staatliche Zensur vollständig ausgesetzt war und er und seine Kollegen in allen Medien frei publizieren konnten, was sie wollten. Das erinnerte mich an einen äusserst interessanten Artikel, den ich eine Woche zuvor in dieser chinesischen Zeitung (der einzigen, die ich lesen konnte) gesehen hatte. Es ging um die alarmierend hohe Rate von Abtreibungen weiblicher Föten in den ländlichen Gebieten Chinas – eine Folge der Ein-Kind-Politik in einer patriarchalischen Gesellschaft. Da ich stets in demokratischen Gesellschaften gelebt hatte, wo Pressefreiheit als selbstverständlich gilt, wurde mir erst jetzt bewusst, wie einzigartig und revolutionär diese Artikel waren.
Nachdem ich die Chang-An-Allee stundenlang auf und ab gelaufen war, Fotos geschossen und mit Augenzeugen gesprochen hatte, ertönte gegen Mittag ganz in der Nähe das Geräusch eines Maschinengewehrs. Sofort stob die Menge in alle Richtungen auseinander. Ich rannte in die Richtung, wo ich mein Fahrrad gelassen hatte, mit einem einzigen, bizarren Gedanken: «Es ist seltsam, dass ich überhaupt keine Angst verspüre; trotzdem renne ich um mein Leben. Eigentlich will ich nur nicht auf eine so dumme Art sterben!»

Von der Botschaft abgewiesen
Unmittelbar nach dem Massaker erwarteten alle einen Sturm der Armee auf die Universitäten, doch die Regierung brauchte mehrere Tage, um die Kontrolle über die Stadt zu erlangen. Dennoch blieben die Strassen weitgehend menschenleer. Nur an einigen Kreuzungen standen Busse, geschmückt mit weissen Blumen (der Farbe für Trauer in China). Alle anderen Protestaktivitäten waren verschwunden. Wie mir allerdings berichtet wurde, drangen Soldaten in die städtischen Krankenhäuser ein und verhafteten sämtliche Verwundeten. Ich sah zwar nur wenige patrouillierende Soldaten, doch von Zeit zu Zeit waren noch immer Gewehrsalven zu hören, wenn auch keine Maschinengewehre mehr.
Als belgischer Staatsbürger gelang es mir zwei Tage nach dem Ereignis, die belgische Botschaft anzurufen und um Rat zu fragen. Die Person am anderen Ende der Leitung war entsetzt, dass wir uns noch in der Stadt befanden, und teilte mit, sie würde sofort ein Auto schicken, um uns auf das sichere Botschaftsgelände zu bringen. Als ich erwähnte, dass meine Freundin Deutsche sei, antwortete die Person, es gehe in dieser Situation lediglich darum, Leben zu retten – dramatischer hätte man es kaum ausdrücken können …
Bei unserer Ankunft an der Botschaft war meine Freundin jedoch nicht mehr willkommen. Die belgischen Diplomaten liessen nicht mit sich reden: Ich durfte bleiben, aber sie musste das Gelände sofort verlassen.
Ich bat sie, uns zurück zu unserer Wohnung zu bringen, doch inzwischen war ihnen der Treibstoff ausgegangen: Offenbar hatte keine der Botschaften damit gerechnet, dass die Benzinversorgung unterbrochen werden könnte. Wir beschlossen daraufhin, unser Glück bei der deutschen Botschaft zu versuchen, die gleich um die Ecke lag. Diesmal erwähnten wir allerdings nicht, dass ich kein deutscher Staatsbürger war. Die deutsche Botschaft kümmerte sich sehr gut um uns, und wir verbrachten die Nacht zusammen mit anderen gestrandeten Deutschen in der Wohnung eines Botschaftsmitarbeiters.
Am nächsten Tag fanden wir einen Taxifahrer, der uns zu unserer Wohnung zurückbrachte. Im Gegensatz zu den ausländischen Botschaften war er bestens vorbereitet und erzählte uns, dass er in den vergangenen Wochen zahlreiche Benzinkanister zu Hause gelagert hatte – für den Fall, dass er sie brauchen würde.
In den vergangenen Wochen hatten wir einige Bekanntschaften geschlossen. Als wir diese Personen nach dem Massaker wiedersahen, wurde die Situation geradezu tragikomisch. Bei einigen von ihnen hegten wir den Verdacht, dass sie uns überwachten. (Dass wir einen von ihnen «rein zufällig» inmitten der Million Menschen auf dem Tian’anmen-Platz angetroffen hatten, war tatsächlich äusserst unwahrscheinlich.)
Kurz nach dem Massaker schauten wir in einem winzigen Zimmer, das einer unserer Bekannten mit fünf anderen Studenten teilte, die Nachrichten im Fernsehen. Ein Augenzeuge beschrieb emotional und gestenreich, wie das Militär auf Menschen um ihn herum schoss – währenddessen forderte ein Lauftext am unteren Bildschirmrand die Zuschauer auf, ihn bei den Behörden zu melden, falls sie ihn erkannten. Die Zensur hatte die Kontrolle über die Presse zurückgewonnen.

Vor dem Einschreiten der Regierung hatten meine Freundin und ich verschiedene Szenarien durchgespielt für den Fall, dass die Regierung die Demonstrationen gewaltsam niederschlagen würde. Wir hatten beschlossen, dass ich meine Stelle am Institut kündigen und wir das Land verlassen würden, falls die Zahl der Toten zwanzig übersteigen sollte. Das Ausmass des Massakers – einige Zeugen der nächtlichen Ereignisse berichteten von mehr als tausend Toten – übertraf bei weitem alles, was wir uns in unseren schlimmsten Befürchtungen ausgemalt hatten.
Das Unbehagen bleibt
Schon länger wollte ich meine Erfahrungen in China niederschreiben. Aber seltsamerweise hatte mich bisher etwas tief in mir davon abgehalten, sie schriftlich festzuhalten, während ich keine Probleme damit habe, sie mündlich zu erzählen. Es gab immer eine Art psychologische Barriere. Erst als ich zugesagt hatte, diesen Bericht zu schreiben, konnte ich mich endlich überwinden.
Ich frage mich unwillkürlich, was passiert wäre, wenn die chinesische Führung damals nicht in Panik geraten wäre. (Ich bin überzeugt, dass nur Panik die Anordnung eines solch entsetzlichen Massakers an unbewaffneten, friedlichen Demonstranten erklären kann.) Wo würden China und die Welt heute stehen? Ich bezweifle, dass das Land demokratischer wäre, denn Demokratie allein löst nicht die Ungleichheiten bei der Verteilung von Reichtum und Privilegien, was die zentrale und wiederkehrende Forderung der Demonstranten war. Zudem war das Demokratieverständnis, das ich in Gesprächen erlebte, in meinen Augen bestenfalls rudimentär und unvollständig.
Die Erfahrung dieses monströsen Massakers hat auf jeden Fall meine feste Überzeugung gestärkt: So schwierig die Lage in unseren Demokratien auch sein mag, in anderen Teilen der Welt ist es weitaus schlimmer. Über die Mängel unserer westlichen Demokratien zu jammern und dabei zu vergessen, was unter autokratischen Regimes passiert, ist engherzig und beschämend. Ich stehe solidarisch an der Seite all derer, die versuchen, einer brutalen und willkürlichen Herrschaft zu entkommen, in der Hoffnung, die gleichen grundlegenden Freiheiten und Rechte geniessen zu können, die wir selbst oft nicht zu schätzen wissen.
Ich bin nie nach China zurückgekehrt, doch den Medienberichten zufolge hat sich das Land in atemberaubendem Tempo in Bezug auf Wirtschaft und Technologie entwickelt. Dennoch scheint das grundlegende Unbehagen der Demonstranten von 1989 über eine korrupte Elite weiterhin zu bestehen. Allerdings ist der Ruf nach Demokratie heute nicht mehr die einhellige Antwort darauf.