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Wie ein getrenntes Ehepaar, das noch für die gemeinsamen
Kinder sorgen muss: Eine kurze Geschichte der schweizerisch-
europäischen Hassliebe

Die EU und die Schweiz können nicht wirklich miteinander, aber auch nicht ohneeinander. Die Geschichte einer komplizierten Beziehung.

Wie ein getrenntes Ehepaar, das noch für die gemeinsamen Kinder sorgen muss: Eine kurze Geschichte der schweizerisch-europäischen Hassliebe
Im Bundeshaus wird die Europafahne gehisst: Am 18.Mai 1992 verabschiedet der Bundesrat den EWR-Vertrag und den Bericht über den angestrebten Beitritt der Schweiz zur EG. Bild: Keystone.

Ich sitze im Zug von Basel über Frankfurt nach Brüssel, natürlich mit Verspätung; Rückwärtsfahren mit Diesel-Ambiente. Die Unterschiede der Bahnhöfe Schweiz, Deutschland und Belgien sind eklatant: Bei uns sind sie intakt und ziemlich sicher – in den EU-Ländern dagegen geht’s chaotisch zu, die Perrons sind überfüllt. Die letzten Neuerungen dürften aus den 1990er-Jahren stammen. Mehr als zwanzig Jahre lebte ich mit meiner Familie in Brüssel. Ich gehörte zur ersten Generation der digitalen Nomaden, die sich ein Unternehmen schufen und in unterschiedlichen Ländern arbeiteten. Seit 2023 besitze ich neben dem schweizerischen auch einen europäischen Pass. Doch (nicht nur) als EU-Bürgerin blicke ich zunehmend sorgenvoll auf die Union. Bankenkrise, Migrationskrise und Eurokrise – die EU findet aus dem ungesunden Ausnahmezustand nicht mehr heraus.

Paradoxerweise verfolgt die Schweizer Polit- und Kulturelite ihren Pro-EU-Kurs umso beharrlicher, je schlechter es Europa geht. Es ist wirklich absurd: Je mehr alle Schweizer Universitäten die europäische Geschichte als koloniale verachten und zugunsten postkommunistischer Curricula sogar das europäischste aller Fächer, nämlich die Schweizer Geschichte, abschaffen, umso heftiger, dominanter und medienpräsenter plädieren die hier amtierenden Professoren dann für den Schweizer Beitritt zur EU. Bei den Rechten in der Schweiz verweist man im Unterschied dazu gerne auf europäische Geschichte und Zivilisation und den schweizerischen Sonderweg, auf den man stolz sein könne, verachtet indessen gleichzeitig die Brüsseler Mechanik.

Beide Positionen liegen falsch, das zeigt der Blick auf die Vergangenheit. Die Europäische Union unserer Tage erinnert nämlich an den Völkerbund in Albert Cohens «Die Schöne des Herrn» – ein prachtvoller Bau aus Protokollen, Dekreten und gepflegten Tischreden, bevölkert von gutgekleideten Funktionären, die längst vergessen haben, was Demokratie, historische Verantwortung und optimistische Zukunft bedeuten. Der Putz glänzt und die Balken knarzen, doch das Fundament ist aus Selbsttäuschung und medienaffinem Selfism gegossen. Diese EU soll die Schweiz in die Zukunft führen? Wäre es nicht vielmehr die Schweiz, die der EU zeigen kann, wie ein Burka-Verbot und eine dreizehnte AHV-Rente politisch durchgesetzt werden können?

Der letzte Gast auf der Party

Doch fangen wir vorne an. Oder besser: ganz hinten. Wie wir wissen, blieb die Schweiz im Zweiten Weltkrieg ein Hort der Glückseligkeit und kaufte sich aus der Nazi-Mittäterschaft bei den Alliierten mit erklecklichen Geldbeiträgen raus. So blieb Helvetien das Land der vielen Sprachen, der linken Romandie, des rechten Zürichs, blieb wehrhaft durch Milizsoldaten, die auf die Banken aufpassten, und hielt sich Kühe mit Glocken, die das Wahlvolk regelmässig an die Urne schellten. Nur knapp dem Kriegsverbrecherstatus entkommen, winkte die Schweiz bei den Römischen Verträgen 1957 und auch bei anderen internationalen Verpflichtungen höflich ab. Die Schweizer Aussenpolitik benahm sich jahrzehntelang wie das Kind der Bourgeoisie, das gelernt hat, dass man sich beim Spielen draussen mit den armen Kids durchaus auch mal Flöhe holen kann.

«Die Schweizer Aussenpolitik benahm sich jahrzehntelang wie das Kind der Bourgeoisie, das gelernt hat, dass man sich beim Spielen draussen mit den armen Kids durchaus auch mal Flöhe holen kann.»

1960 gründete die Schweiz dann doch noch was Internationales: Zusammen mit sechs anderen Staaten entstand die Europäische Freihandelsassoziation (Efta), eine Art Ikea-Version der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Die Efta war europäisch ohne Zollunion, ohne politische Ambition, dafür mit viel Handelsfreiheiten. Es war ein Pakt für jene Länder, die lieber mitreden, aber sich nicht dreinreden lassen wollen. 1992 wäre es dann fast zur Verlobung mit der EU gekommen: Der EWR, brillant ausgehandelt von allen Beteiligten, schien die perfekte Lösung für die Schweiz. Keine lästige EU-Mitgliedschaft, dafür alle Kapital- und Warenfreiheiten inklusive Zollfreiheit. Doch schon 1992 war Verlass genau auf die Parteien, die auch heute oft den Traum einer neuen, anderen Zukunft vermasseln: Die Grünen und die SVP erreichten zusammen 50,3 Prozent.

Die Efta implodierte, die EU expandierte, die Schweiz blieb zurück wie der letzte Gast auf einer Party, die längst die Location gewechselt hatte. Immerhin: Mit den Bilateralen I 2002 und Bilateralen II 2005 fand die Schweiz eine engere Bindung zur EU, ohne sich aufzugeben. Kein Staat hat sich je so geschickt durch die institutionellen Fallstricke der EU laviert wie die Schweiz. 120 Abkommen regeln bis heute den Zugang zum Binnenmarkt, zur Forschung, zur Luftfahrt – ein Spinnennetz aus Juristerei, das jeden Brüsseler Beamten in den Wahnsinn treibt und die Schweizer Fränkli rollen lässt. Migration und eine angeblich deutsche Invasion in die öffentlichen Institutionen brachten zwar auch in der Schweiz die Rechtspopulisten in Rage und auf rund 30 Prozent Wähleranteil – doch das helvetische Geschäftsmodell läuft nach wie vor geschmiert.

Die EU verfügt übrigens über ein politisches Produkt made in Switzerland: 2009 gab ich der Europäischen Bürgerinitiative den Startschuss; über eine Million Europäer können eine Initiative unterzeichnen, die von der EU-Kommission verpflichtend behandelt werden muss. Aufgrund der wachsenden EU-Skepsis in der Bevölkerung setzen Brüssel und seine linksglobale NGO-Elite nun alles daran, dass die Bürgerinitiativen nicht öfter umgesetzt werden. Doch ganz grundsätzlich: Brüssel interessiert sich für die Schweiz nur bei Verkehrsfragen, wenn es um die Einnahme von Kohäsionsmilliarden geht oder um den freien Zugang der europäischen Elite zur Bilderbuchlandschaft. Die Schweiz gilt als Uhrwerk, das nebenbei tickt, ab und zu nervt und ärgert, aber auf das grundsätzlich Verlass ist. Ob private Vermögen, Innovationsfinanzierung oder Rohstoffhandel: Die Schweiz bleibt verlässliche Drehscheibe – nicht zuletzt auch für europäische Akteure und Elitepolitiker, die das aber liebend gerne verschweigen.

Dilettantische Aussenpolitik

Grundsätzlich hat die EU ganz andere Probleme als Auseinandersetzungen mit der Schweiz. Die EU-Bürokratie (einflussreiche EU-Parlamentarier beschäftigen sich nicht mit der Schweiz) ist froh, wenn die Schweizer diskret weitergeschäften und sich nicht allzu grosse Korruption bei internationalen Skandalen leisten.

Weshalb es immer wieder laute innenpolitische Kräfte gibt, die ausgerechnet jetzt die friedlich schlafenden schweizerisch-europäischen Hunde wecken wollen, ist mir ein Rätsel. Könnte es sein, dass es den eifrigen Akademikern im Aussendepartement und den Diplomatinnen, die seit der Ära Calmy-Rey vorwiegend aus dem links-grünen Milieu stammen, etwas langweilig ist?

«Weshalb es immer wieder laute innenpolitische Kräfte gibt, die

ausgerechnet jetzt die friedlich schlafenden schweizerisch-europäischen Hunde wecken wollen, ist mir ein Rätsel.»

Als der Bundesrat 2018 während der ersten Trump-Präsidentschaft überstürzt ein institutionelles Rahmenabkommen präsentierte, wusste ich: Hier springen grad alle Sicherungen aus ihrer Halterung. Glücklicherweise wurde das dilettantische Abkommen beerdigt, noch bevor es irgendwelche Schäden in Brüssel verursachen konnte. Die Retorsionen waren für mich persönlich zwar ärgerlich: Die Schweizer Teilnahme am EU-Forschungsprogramm Horizon wurde kurzfristig eingefroren. Aber die Schweizer Unis und ich fanden in Grossbritannien und den USA locker Ersatz; mittlerweile «expertieren» wir Akademiker wieder europa- und schweizweit.

Doch nach Covid kam es zum nächsten Sprung in der Schüssel: 2023 wurde zum Jahr feuchter Europaträume. Ein «Neustart» wurde angekündigt, diesmal mit Paketlösung, Dynamik, Streitbeilegung; die Gewerkschaften jubelten, man habe fast alles erreicht. Doch während Brüssel von «institutionellem Gleichgewicht» spricht, murmelt man in Bern von «nationaler Souveränität», und beide Parteien wissen: Alles wird weitergehen wie gehabt; dass neue Abkommen geschlossen werden, liegt derzeit in der Schwebe.

Europa muss verschweizert werden

Sicher ist nur, dass die Schweiz der EU mit Milliarden entgegenkommen muss, um den Status quo zu behalten. Das wird letztlich der Deal sein, ganz egal, was uns die sich aufplusternden Akteure von Economiesuisse und Gewerkschaften inklusive Medien verkünden. Die Schweiz will rein ins Finanz- und Wirtschaftsherz des Binnenmarkts, aber ohne sich den Puls fühlen zu lassen. Die EU will klare Regeln und viel mehr Geld, die Schweiz frei geschäften. Was soll’s? Der Handel boomt; die Schweiz wird einer der wichtigsten EU-Partner bleiben, selbst ohne Beteiligung an grossen Institutionen, selbst mit einer sperrigen direkten Demokratie. Hauptsache, der Franken rollt: Pharmaprodukte, Energie, technisches Zubehör, hohe Migration in die Schweiz, Luftfahrt, Forschung – man kann nicht wirklich miteinander, aber auch nicht ohneeinander. Ein klassischer Fall von funktionaler Ko-Abhängigkeit, wie bei Ex-Liebenden, die noch je einen Hausschlüssel haben und allenfalls für gemeinsame Kinder sorgen müssen.

Vielleicht liegt genau darin die Magie: eine Beziehung, die nervt, die verzweifelt, aber auch nie ganz zerbricht. Denn tief drinnen in all der institutionellen Frustration liegt auch die Erkenntnis: Ohne Europa wäre die Schweiz weniger reich, weniger vernetzt und weniger gut vor Krieg geschützt. Ohne die Schweiz würde die EU eine zentrale Geografie, ein Wohlstandslabor sowie eine reiche Tante, auf die man sich im Notfall verlassen kann, verlieren. Seit meiner Zeit in der EU plädiere ich deshalb für eine Verschweizerung Europas und eine Europäisierung der Schweiz.

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