
Weniger statt mehr Europa
Ein Plädoyer für ein schlankeres und effizienteres «Europa à la carte».
Die Juncker-Kommission stand noch unter Brexit-Schock, als sie 2017 ein Weissbuch mit dem Titel vorstellte: «Die EU der 27 im Jahr 2025 – Überlegungen und Szenarien». Man tat so, als hätten EU-Bürger die Wahl zwischen fünf Szenarien: (1) «Weiter wie bisher»; (2) «Schwerpunkt Binnenmarkt»; (3) «Wer mehr will, tut mehr»; (4) «Weniger, aber effizienter» oder (5) «Viel mehr gemeinsames Handeln».
Acht Jahre später, 2025, finden wir uns in einer Kombination von Szenario 1 und 5 wieder. Wie bisher wird in gemeinsamem Schachern die Kompetenz der EU über die Mitgliedstaaten ausgeweitet, nur jetzt auch mit gewaltigen gemeinsamen Schulden. Die von mir bevorzugten Szenarien 2, 3 und 4 wurden dagegen kaum ernsthaft verfolgt. Das Binnenmarktprojekt bleibt unvollendet, Harmonisierung dominiert weiterhin Differenzierung und von «weniger, aber effizienter» kann keine Rede sein. Noch immer lautet die Lösung für jedes Problem «mehr Europa».
Kosten übersteigen das Potenzial
Aus demokratischer Sicht sind die Legitimitäts- und Solidaritätsressourcen einer weiteren EU-Integration nach dem Prinzip des «One size fits all» bereits weitgehend ausgelaugt. Das Gefühl des Kontrollverlusts gegenüber einer Verwaltung in Brüssel, die eine Zurechnung von Verantwortung an Personen oder Parteien nahezu unmöglich macht, kreiert zudem Verdruss und treibt Populisten Wähler zu.
Wirtschaftlich hat die EU den Punkt erreicht, an dem die Kosten zunehmender Regulierung und Bürokratie das ungenutzte Potenzial zusätzlicher Marktöffnung übersteigen. Das galt schon 2017, als sich indes die geopolitische Lage dramatisch änderte. Die Länder östlich der EU galten bisher als Nachbarn mit Hang und Drang zum Westen, mit denen man eine Annäherung weit jenseits einer Mitgliedschaft in Ruhe sondieren konnte. Heute ist dieser «Hinterhof» umkämpftes Gelände, auf dem Russland kriegerisch und andere Länder wie China oder die Türkei wirtschaftliche Einflusssphären erobern.
«Wirtschaftlich hat die EU den Punkt erreicht, an dem die Kosten
zunehmender Regulierung und Bürokratie das ungenutzte Potenzial
zusätzlicher Marktöffnung übersteigen.»
Um diesen Feinden des Westens Paroli bieten zu können, muss man etwas anbieten können. Eine nach dem «One size fits all»-Prinzip forcierte Vollmitgliedschaft für die Ukraine oder weitere acht Beitrittskandidaten würde freilich sowohl die «alte EU» als auch die neuen Mitglieder überfordern. Fast alle bisherigen Nettoempfänger von EU-Transfers würden zu Nettozahlern, und die neuen Mitglieder würde der regulatorische «Acquis communautaire» der EU wirtschaftlich und administrativ lähmen.
Optimale Clubgrösse beim Handel unendlich
Deshalb diskutieren Thinktanks und Experten derzeit wieder Integrationsszenarien «konzentrischer Kreise», ein Europa der «verschiedenen Geschwindigkeiten» oder mit «variabler Geometrie». Teile der EU dürften sich als Kerneuropa enorm integrationsfähiger und -williger Staaten weiter untereinander harmonisieren; andere Länder können später oder gar nicht dazukommen.
Den (internen) Freihandel im EU-Binnenmarkt will indes keiner missen. Ihn sollte die EU auch Drittländern wie der Schweiz anbieten – hier ist die optimale Clubgrösse nahezu unendlich (auch wenn es bei der Freizügigkeit haken muss). Die optimale Clubgrösse der EU-Agrarpolitik oder der Währungsunion ist indes begrenzt. Ob sie bei null oder zehn oder sonst wo liegt, mögen schlaue Ökonomen ausrechnen. Besser noch wäre, es würden betroffene Bürger entscheiden dürfen.
Das ist die Grundidee eines Europas à la carte: Demokratische Regierungen (und damit auch indirekt (oder besser noch: direkt) deren Bürger entscheiden, welche Integrationsangebote und damit auch welche gemeinsamen Regeln und Finanzierungsbeiträge sie für vorteilhaft halten. Freihandel für alle – plus strukturierte Zusammenarbeit, zum Beispiel bei Währung, Umwelt, Forschung, innerer und äusserer Sicherheit für die Willigen und Fähigen!