Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos
Die bequeme Stagnation
Lukas Leuzinger, fotografiert von Daniel Jung.

Die bequeme Stagnation

Die Vollkaskomentalität frisst sich in westliche Gesellschaften: Individuelle Verantwortung wird zurückgefahren zugunsten eines Staates, der uns immer mehr Bürden abzunehmen verspricht.

Die Rechnung ist da. Über ein Jahrzehnt lang haben die Notenbanken ihre Bilanzen aufgeblasen, als gäbe es kein Morgen. Ging es anfangs noch darum, die Geldversorgung der Wirtschaft in einer Krisensituation sicherzustellen, wurde bald das kleinste Anzeichen einer konjunkturellen Eintrübung zum Anlass genommen, die Wirtschaft weiter mit frischem Geld hochzupumpen. Die Geldpolitik gaukelte uns vor, dass es im Leben immer nur aufwärtsgehe, dass wir uns Wohlstand gratis drucken könnten. Die Rückkehr der Inflation bringt diese falsche Vorstellung wie ein Kartenhaus zum Einsturz. Nun müssen Notenbanker und Politiker wieder schmerzhafte Entscheidungen treffen, die geldpolitischen Zügel anziehen und eine Rezession in Kauf nehmen – oder aber die Teuerung galoppieren lassen und Widerstand aus der Bevölkerung riskieren.

Womöglich ist die wirtschaftliche Entwicklung ein Vorbote für den Zusammenbruch anderer Illusionen. Die expansive Geldpolitik steht sinnbildlich für eine Vollkaskomentalität, die sich in wohlhabenden westlichen Demokratien ausgebreitet hat. Für alles muss gesorgt sein, die Selbstverantwortung weicht der Selbstverwirklichung. Herausforderungen, Schwierigkeiten sind nicht zumutbar, sofort muss der Staat einspringen und sie beseitigen. Die Prioritäten verschieben sich: Statt Neues zu denken und zu schaffen, wird vor allem der eigene Besitzstand mit aller Kraft verteidigt.

Teuer erkaufte Reformen

Die Angleichung des Rentenalters der Frauen an jenes der Männer in der Schweiz ist mit grosszügigen Zuschüssen «kompensiert» worden; trotzdem mobilisierten die Gewerkschaften lautstark gegen die Minireform, die im September 2022 sehr knapp angenommen wurde. Seit 20 Jahren lautet das Rezept gegen die Schieflage des Vorsorgesystems: mehr Geld. Mehr Geld vom Bund (will heissen: mehr Schulden, die hauptsächlich von der jungen Generation beglichen werden müssen). Mehr Geld durch höhere BVG-Beiträge, die ebenfalls hauptsächlich von der jungen Generation bezahlt werden. Mehr Geld durch höhere Mehrwertsteuern, welche die Menschen mit geringeren Einkommen stärker belasten. Die Kosten sind so breiter verteilt und weniger sichtbar, eine «Reform» lässt sich leichter umsetzen.

Vielleicht hat der Weg des geringsten Widerstands damit zu tun, dass sich die wirtschaftlichen Voraussetzungen verändert haben. Als in der Nachkriegszeit die Konjunktur brummte, war es einfacher, den Kuchen zu verteilen. Nun stagniert das Wirtschaftswachstum, und es rücken weniger junge Steuer- und Abgabenzahler nach. Es braucht daher einschneidende Massnahmen. Und schneiden tut man am einfachsten bei den Jüngeren, die weniger sind und weniger Einfluss haben. Bei ihnen dauert es länger, bis sie die Folgen wirklich spüren.

Die AHV-Reform passt dabei ins Muster: «Mehr Geld ausgeben» ist zunehmend das einzige, worauf sich die Politik einigen kann. Parteien und Interessengruppen lassen sich ihre Zustimmung zu Vorlagen teuer bezahlen. Beispielsweise durch Subventionen wie in der Klimapolitik, neue Umverteilungen wie bei der Umsetzung der OECD-Mindeststeuer oder durch neue Sozialleistungen wie bei der Überbrückungsrente.

In der Wirtschaftspolitik ist die Folge, dass erfolgreiche Unternehmen nicht zwingend jene sind, die ein gutes Produkt haben, sondern jene, die über den politischen Einfluss verfügen, um sich einen Vorteil gegenüber anderen zu verschaffen. In Kombination mit der jahrelangen Nullzinspolitik lässt dies Firmen überleben, die ohne staatliche Unterstützung keine Chance hätten. Der Prozess der kreativen Zerstörung ist heruntergefahren, ersetzt wurde er durch die einfallslose Sklerose. Wer durch Geld vom Staat überlebt statt durch gute Produkte, hat auch keinen Anlass, innovativ zu sein.

Übersensibel und rücksichtslos

Kein Wunder, sind junge Erwachsene wenig geneigt, Mut zu zeigen und Verantwortung zu übernehmen. Viele haben gelernt, dass es das gar nicht braucht, dass ihnen alles zusteht und für sie gesorgt wird, sobald Probleme auftauchen. Eine Erziehungskultur, die jede Gefahr und jedes Risiko ausschliesst, hat ihr Übriges dazu beigetragen. Manche Gemeinden klagen über Staus vor Schulhäusern, weil so viele Eltern ihre Kinder mit dem Auto zur Schule fahren. Kinder, die dermassen überbehütet aufwachsen, werden zu Erwachsenen, die sich nicht verantwortlich fühlen, ihren Abfall selber wegzuräumen oder sich aus freien Stücken in einem Milizamt oder einem Verein für andere einzusetzen. Wenn etwas wirklich wichtig ist, so die Vorstellung, wird es der Staat oder sonst jemand schon machen. Die Zunahme von Littering und die Abnahme der Freiwilligenarbeit gehen Hand in Hand.

Die zunehmende Selbstzentrierung befördert Übersensibilität ebenso wie Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen. Während die Debattenkultur – befördert durch neue Kommunikationsformen – verroht, nehmen psychische Probleme zu.

Postmaterielle Bequemlichkeit

Die politischen Prioritäten verändern sich: Weil Wohlstand als gegeben angesehen wird, verschiebt sich der Fokus auf Verteilungsfragen und auf absurde Forderungen, welche angebliche Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen von immer spezifischeren Gruppen aus dem Weg schaffen sollen. Als Diskriminierungen werden dabei bereits kleinste Äusserungen oder sprachliche Feinheiten gewertet. Redner oder Diskussionsteilnehmer werden von öffentlichen Veranstaltungen ausgeladen, weil sie eine Meinung haben, die irgendwem nicht genehm ist. Die ganze Gesellschaft soll sich den Standards der empfindlichsten Gruppen anpassen. Eine Herabsetzung grundlegender Freiheitsrechte wie Meinungsäusserungsfreiheit untergräbt das westliche Erfolgsmodell.

«Die ganze Gesellschaft soll sich den Standards

der empfindlichsten Gruppen anpassen.»

Die Pandemie hat die Entwicklung akzentuiert. Die Regierungen haben die Vermeidung gesundheitlicher Risiken an oberste Stelle gesetzt. Bedenken über wirtschaftliche, soziale oder psychische Folgen der Massnahmen wurden beiseitegewischt. Die Lösung lautete einmal mehr: Mehr Geld ausgeben, mehr Kompetenzen an den Staat delegieren.

Doch diese Rechnung geht nicht auf, in der Pandemiepolitik ebenso wenig wie in der Geld- oder Klimapolitik. Denn das Geld muss von Leuten bereitgestellt werden, die es erwirtschaftet haben. Es fehlt dann für andere Dinge – oder wird, wenn der staatliche Appetit zu gross wird, gar nicht erst erwirtschaftet. Und die Zentralisierung von Kompetenzen führt zu Ineffizienz und Machtmissbrauch.

Resilienz stärken

Um diesen Trend zu brechen, braucht es einen Bewusstseinswandel. Individuelle Verantwortung muss wieder einen höheren Stellenwert erhalten. Das beginnt bei der Erziehung: Statt zu glauben, man schütze Kinder durch Überbehütung, sollten wir sie früh eigene Erfahrungen und Fehler machen lassen. Nur wer als Kind lernt, dass Handlungen Konsequenzen haben, dass man manchmal auf die Nase und einem nicht alles in den Schoss fällt, ist auf die Unbill des Lebens vorbereitet, der man spätestens im Erwachsenenalter zwangsläufig begegnet.

Individuelle Widerstandsfähigkeit ist die Grundlage von gesellschaftlicher Resilienz. Wir müssen lernen, dass wir Verantwortung übernehmen und zuweilen harte Entscheidungen treffen müssen, um das Gemeinwohl zu fördern, dass Wohlstand nicht gratis und die liberale Demokratie nicht gottgegeben ist. Wenn wir das nicht rechtzeitig erkennen, lernen wir es wohl bald auf die bittere Art.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!