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Die EU muss europäisch werden, sonst wird sie scheitern

Es ist grotesk: Nie waren sich die Völker Europas näher. Zugleich ist das institutionalisierte Europa in einer tiefen Krise.

Die EU muss europäisch werden, sonst wird sie scheitern
Bild: Generiert mit ChatGPT Pro.

Eigentlich läuft alles grossartig in Europa. Der alte Kontinent ist eine Oase des Friedens und des Wohlstandes. Nach Jahrtausenden andauernden Schlachtens herrscht tiefe Friedfertigkeit – zumindest in Mittel- und Westeuropa. Die Vorstellung, dass ehemals verfeindete Nationen wie Deutschland und Frankreich gegeneinander Krieg führen, erscheint heute geradezu grotesk.

Nie waren sich die Völker Europas näher. Kinder lernen in den Schulen Englisch, Spanisch oder Italienisch. Junge Menschen besuchen Sprachkurse in Perugia, Antibes oder London. Man studiert in München, Oxford, Paris oder Aarhus. Weit über sieben Millionen Europäer arbeiten in einem anderen europäischen Land. Entsprechend gibt es Millionen binationaler Ehen. Die ganz überwiegende Zahl der Menschen in Europa fühlt sich als Niederländer, Italiener oder Grieche, aber eben auch als Europäer. Nie zuvor in der Geschichte haben sich die Menschen Europas so sehr mit ihrem Kontinent als Ort mit einer spezifischen Geschichte, Kultur und Werteordnung identifiziert.

EU als politpädagogische Anstalt

Zugleich ist das institutionalisierte Europa in einer veritablen Krise. Den aussenpolitischen Anforderungen der Gegenwart ist es nicht gewachsen. Nach innen glänzt die EU vor allem durch einen umfassenden Katalog sinnbefreiter Vorschriften: genaue Normen für die Grösse oder Form von Obst und Gemüse, für den Salzgehalt von Brot, die elektrische Leitfähigkeit von Honig (bei Waldhonig 0,8 Mikrosiemens pro Zentimeter), die Beschaffenheit von Schnullerketten, Topflappen und Spülhandschuhen oder den Wasserausstoss von Duschköpfen. Die Liste liesse sich beliebig fortsetzen.

Der Regelungswahn der EU ist nicht nur unfreiwillig komisch, sondern hat auch einen enormen bürokratischen Aufwand zur Folge. Unternehmen, Gastronomen und Landwirte stöhnen unter dem Papierkram, den die EU ihnen abverlangt. Zudem regiert die Union auf vielen Rechtsgebieten massiv in nationales Recht hinein oder hebelt dieses vollständig aus. Das gilt etwa für das Medienrecht, das Sozialrecht, den Umweltschutz oder die Verkehrspolitik.

Besonders genervt sind viele Europäer von der ideologischen Schlagseite nicht weniger EU-Vorschriften. Egal ob Migrationspolitik, Antidiskriminierungsgesetze oder Umweltauflagen: Man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass die EU-Politik eine linke Politagenda umsetzt, die weit entfernt ist vom demokratischen Willen der Mehrheit der EU-Bürger.

Entsprechend empfinden viele Europäer die EU zunehmend als eine politpädagogische Anstalt, die ihre Bürger zu gesunder Ernährung, politisch korrektem Denken und Sprechen, zu Nachhaltigkeit und Wokeness erziehen möchte.

Das ist auch deshalb fatal, weil die EU somit als das Projekt einer abgehobenen, akademisch verbildeten Elite wahrgenommen wird. Es setzt sich der Eindruck fest, dass der einfache Handwerker, Arbeiter und Angestellte in Wien, Dortmund, Lyon, Rotterdam oder Mailand durch eine abgehobene Schicht selbstgefälliger «Anywheres» beziehungsweise «Bobos» erzogen werden soll – also durch ein links sozialisiertes, international ausgebildetes und entsprechend agierendes Akademikermilieu. Den Debatten zum Thema EU haftet daher zunehmend der Beigeschmack des Klassenkämpferischen an – mit verhängnisvollen Folgen.

Problemfeld demokratische Legitimation

Eine Hauptursache dafür, dass die EU von vielen Europäern als realitätsfernes und ideologisch agierendes Verwaltungsmonster wahrgenommen wird, ist ihre mangelnde Transparenz und demokratische Legitimation. Und dort, wo eine demokratische Legitimation besteht, wird sie den Realitäten Europas nicht gerecht. Letzteres betrifft vor allem das europäische Parlament. Alle fünf Jahre dürfen die derzeit etwa 357 Millionen wahlberechtigten Bürger der EU zur Urne schreiten und ein Parlament wählen, das keine eigenen Gesetze vorschlagen kann, sondern darauf beschränkt ist, entsprechende Initiativen von Kommission oder EU-Ministerrat nachzujustieren oder abzunicken. Die Europäische Kommission, faktisch die Regierung der EU, wird nicht etwa durch das Parlament gewählt, sondern von den nationalen Regierungen zusammengestellt. Das ist eine äusserst indirekte demokratische Legitimation.

Aber auch wenn das Parlament das Recht hätte, eigene Gesetzesvorschläge zu formulieren, oder die Kommission direkt wählen dürfte, blieb immer noch ein entscheidendes Problem: die Grösse und Heterogenität des zu regierenden Raumes.

Von Andalusien bis Lappland

Insgesamt leben etwa 448 Millionen Menschen in der EU. Sie leben verteilt über 27 Mitgliedsstaaten. Dabei vereint die EU unterschiedlichste Kultur- und Mentalitätsräume von der Ägäis bis an die portugiesische Atlantikküste, von Andalusien bis Lappland, von der Puszta Ungarns bis ans nordische Wattenmeer.

Ein gemeinsamer Wille dieser sehr unterschiedlichen Temperamente und Charaktere muss immer eine künstliche Konstruktion bleiben, eine Art «volonté générale européenne» – also ein Fantasiegebilde, das mit den realen Wünschen und Willen der Europäer nichts zu tun hat.

Den einen Willen der Europäer gibt es nicht und gemeinsame Interessen nur bedingt. Was etwa verbindet den Landwirt in Apulien mit dem Angestellten in Brügge, den Unternehmer in Barcelona mit dem Fischer in Turku, den Schreiner in Linz mit dem IT-Spezialisten in Dublin oder Beamten in Athen?

Diese Menschen unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer sozialen Schicht und individuellen Lebenserfahrung, sondern auch bezüglich ihrer kulturellen Prägung. Und es ist ein Kennzeichen Europas, dass diese Entwicklung zwar gemeinsame Motive hat, aber eben nicht aufeinander reduzierbar ist.

Mosaik statt Melting Pot

Das beginnt schon bei der Religion, die eben nicht aus einem gemeinsamen abendländischen Christentum besteht, sondern vielfältige regionale Ausformungen und Frömmigkeitsformen erfahren hat – von der bulgarisch-orthodoxen Kirche bis zur presbyterianischen Church of Scotland. Gleiches gilt für die Kunst, Literatur und Architektur. Französische Baumeister haben in England gotische Kathedralen gebaut, italienische Architekten und deutsche Handwerker St. Petersburg. Die Romantik ist ein gesamteuropäisches Phänomen – vielleicht sogar das europäischste schlechthin. Man könnte die Liste leicht verlängern. Doch all diese Epochen und Stile zeichnen sich durch ihre lokalen und nationalen Ausformungen aus. Das Allgemeine wurde hier zur Basis des Besonderen.

Europa ist daher kein Melting Pot, in dem ein Einheitsbrei namens europäischer Kultur entstanden ist, sondern ein Mosaik verschiedener Kulturen, entstanden auf einer gemeinsamen Grundlage. Europa war schon immer divers, lange bevor es den Begriff gab.

«Europa war schon immer divers, lange bevor es den Begriff gab.»

Die Europäische Union ist ein grosser zivilisatorischer Fortschritt. Sie ist viel zu wertvoll, um sie leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Allerdings braucht sie einen ganz grundlegenden Umbau. Eine Reform wird nicht ausreichen. Gefordert ist nicht weniger als eine Kernsanierung. Zahlreiche Gesetzgebungskompetenzen sollten an die nationale Ebene zurückgegeben werden, unnötige Angleichungen und Übergriffe in regionale Besonderheiten rückgängig gemacht werden, die Regionen institutionell gestärkt werden, zentralistische Institutionen wie Kommission und Rat in ihrer Befugnis begrenzt werden. Weg von Zentralsteuerung, Vorschriften und der Eliminierung des Nationalen, hin zu Pluralismus, Autonomie und Subsidiarität. Die EU muss europäisch werden, sonst wird sie scheitern.

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