Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos
Die Strompolitik muss sich an der Realität ausrichten
Eduard Kiener, fotografiert von Adrian Moser.

Die Strompolitik muss sich an der Realität ausrichten

Die vom Volk beschlossene Energiestrategie 2050 strebt den Ausstieg aus der Kernkraft an. Weil es zwischen Klimaschutz, Atomausstieg und Versorgungssicherheit jedoch Zielkonflikte gibt, müssen die Prioritäten jetzt neu gesetzt werden.

 

Am 21. Mai 2017 sagten die Schweizer Stimmbürger mit 58,2 Prozent Ja zur Energiestrategie 2050. Wie stünde es heute um die Schweizer Energieversorgung, wenn die Vorlage abgelehnt worden wäre? Die Antwort auf diese mir vom «Schweizer Monat» gestellte Frage ist zwangsläufig zu einem guten Teil spekulativ.

Der politische Kern der vom Volk angenommenen Energiestrategie 2050 ist das Verbot von Rahmenbewilligungen für neue Kernkraftwerke und damit der Ausstieg aus dieser Energie. Der nuklear erzeugte Strom hat bisher gegen 40 Prozent der inländischen Stromerzeugung beziehungsweise 10 Prozent des Gesamtenergieverbrauchs gedeckt. Gemäss der Energiestrategie soll er durch Elektrizität aus erneuerbaren Quellen ersetzt werden.

Ein Ja fürs Vorwärtsmachen

Die Abstimmungsanalyse zeigte, dass der Kernenergieausstieg nur für 38 Prozent der Stimmenden der Hauptgrund für ein Ja war. Wichtigere Motivation war die Forderung, es müsse energiepolitisch endlich vorwärtsgehen. Das Ja zur Energiestrategie 2050 war also nicht primär eines gegen die Kernenergie, sondern eines für mehr Energieeffizienz und für den Ausbau der erneuerbaren Energien.

Die Sparbemühungen und die Förderung der erneuerbaren Energien standen seit langem im Fokus der Energiepolitik, das Ja der Stimmbürger zur Energiestrategie 2050 hat diesen Anliegen indes politisch Schub verliehen. Eine Ablehnung der Strategie hätte aber kaum dazu geführt, dass die Bemühungen um Energieeffizienz und Erneuerbare stark nachgelassen hätten. Es kann sogar vermutet werden, dass das revidierte Energiegesetz und die übrigen Gesetzesänderungen, unter Ausklammerung des Kernenergieausstiegs, ebenfalls beschlossen worden und in Kraft getreten wären, und dies wohl ohne eine Referendumsabstimmung. Somit zeigt sich ein Unterschied zwischen Annahme und Ablehnung der Energiestrategie erst dann, wenn die bestehenden Kernkraftwerke stillgelegt werden.

Netto-Null: Die Energiestrategie 2050 ist überholt

Bevor diese Thematik vertieft wird, ist darauf hinzuweisen, dass die Energiestrategie heute bereits überholt ist. Die Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaschutzabkommen verlangen nämlich, dass auch die Schweiz ihren Treibhausgasausstoss rasch und möglichst stark reduziert. Der Bundesrat hat deshalb im Jahr 2019 mit dem sogenannten Netto-Null-Beschluss festgelegt, dass ab 2050 keine Treibhausgasemissionen mehr zulässig sein sollen. Das Parlament ist ihm im Herbst 2022 gefolgt. Man kann davon ausgehen, dass Versorgungssicherheit und Klimaschutz auch im Falle einer Ablehnung der Energiestrategie die übergeordneten Ziele geblieben wären und damit Netto-Null zur neuen energiepolitischen Forderung geworden wäre.

Netto-Null bedeutet, dass die fossilen Brenn- und Treibstoffe (Erdöl, Erdgas und Kohle), also 60 Prozent unseres heutigen Energieverbrauchs, einzusparen oder zu ersetzen sind (siehe Grafik 1). Diese Dekarbonisierung muss technisch im wesentlichen durch Strom geschehen. Der deutlich steigende Stromverbrauch soll gemäss den offiziellen energiepolitischen Vorstellungen durch den massiven Ausbau der erneuerbaren Energien gedeckt werden. Die neuen erneuerbaren Energien – Wind, Biomasse, Geothermie und vor allem Photovoltaik – müssen zusammen mit der Wasserkraft, deren Energiebeitrag höchstens bescheiden vergrössert werden kann, spätestens ab 2050 die Energieversorgung sicherstellen.

Netto-Null verschärft die energiepolitischen Herausforderungen entscheidend. Die quantitativen Vorstellungen dazu sind in den 2020 präsentierten Energieperspektiven 2050+ festgehalten, dem neuen energiepolitischen Massstab. Die mit der Energiestrategie 2050 beschlossenen gesetzlichen Massnahmen bleiben weitgehend in Kraft, sie genügen aber bei weitem nicht; deshalb ist bereits eine erneute Gesetzesrevision in der parlamentarischen Beratung. Man wird sehen, was sie bringt.

Stromversorgung entscheidend

Die Energiestrategie 2050 und Netto-Null sollen die politische Grundlage für die langfristige Entwicklung der Energieversorgung sein. Die Diskussionen darüber sind ohnehin heftig, nun werden sie durch die schwierige aktuelle Situation noch akzentuiert. Energiepreise in nie gekannter Höhe, Gasknappheit, mögliche Stromausfälle: Die Energieversorgung hat Gesellschaft, Wirtschaft und Politik seit Jahrzehnten nicht mehr so beunruhigt wie gegenwärtig. Im Zentrum steht die Frage, ob in den kommenden Wintern stets genügend Elektrizität und Gas vorhanden sein würden.

Für unser Land steht nicht nur kurz-, sondern auch langfristig die Stromversorgung im Zentrum. Sie ist stark auslandabhängig und keineswegs gesichert, weil die Elek­trizitätswirtschaft seit Jahrzehnten zu wenig in die inländische Stromerzeugung, Speicherung und ins Netz investiert hat. Sie glaubte, dass fehlender Strom auch künftig jederzeit günstig importiert werden könne. Und die Politik hat es versäumt, die erforderlichen Rahmenbedingungen für Investitionen im Inland zu schaffen, auch die Energiestrategie 2050 hat daran nichts Wesentliches geändert.

Grafik 2 zeigt das Strukturproblem unserer Stromversorgung. Seit längerem sind wir im Winter auf Strom aus dem Ausland angewiesen, im Winter 2021/22 betrug der Importüberschuss bereits 7,8 Terawattstunden (TWh) oder 23 Prozent des Landesverbrauchs. Der Sommer weist dagegen einen Exportüberschuss auf. Der steigende Stromverbrauch und seine Deckung durch Strom aus neuen erneuerbaren Quellen, vorwiegend Photovoltaik, werden dieses Winter-Sommer-Ungleichgewicht weiter verstärken. Es braucht deshalb nicht bloss viel neue Stromerzeugung zur Dekarbonisierung, zum Kernenergieersatz und zur Befriedigung der übrigen Stromnachfrage, sondern auch einen Aus- und Umbau des übrigen Stromsystems, also der Speicherung und des Netzes. Insbesondere sind zusätzliche saisonale Speicher erforderlich, aber auch Speicher für die Bewältigung der künftig immer stärker schwankenden Produktion, wie Pumpspeicherwerke und lokale Batterien.

Stromerzeugung: Wunschdenken und Realität

Die Energieperspektiven 2050+ des Bundes zeigen für das Jahr 2050 einen gegenüber heute um gut einen Viertel erhöhten Stromverbrauch von 84 TWh und einen Stromproduktionsbedarf aus neuen Erneuerbaren von 39 TWh. Wind, Biomasse und Photovoltaik erzeugten 2021 nach 12 Jahren Förderung jedoch erst 5 TWh, die zusätzliche Erzeugung betrug im Jahr 2021 nur 0,3 TWh. Damit das notwendige Produktionsziel erreicht werden könnte, müsste der durchschnittliche jährliche Zuwachs bis 2050 mehr als vervierfacht werden. Das scheint wenig realistisch zu sein, und daran werden auch die vorgeschlagenen alpinen Photovoltaikanlagen und Verfahrensbeschleunigungen wenig ändern. Die Investitionskosten sind weiterhin erheblich, es fehlen Fachleute, das Geräte- und Materialangebot ist begrenzt, es gibt immer noch Bewilligungshürden und da und dort auch Netzanschlussprobleme. Die Zuwachsraten steigen, werden aber nicht in den Himmel schiessen. Und selbst wenn 2050 die Zieljahresstrommenge von 39 TWh produziert würde, wäre die Versorgung nicht gesichert, denn im Winter bestünde weiterhin ein Importbedarf von 9 TWh oder 20 Prozent des Stromverbrauchs.

Nicht nur bleibt der Zubau an erneuerbaren Energien um ein Vielfaches hinter den optimistischen Vorstellungen der Energieperspektiven 2050+ zurück, auch der Aus- und Umbau von Speicherung und Netz ist ungenügend. Die Ziele werden zunehmend verfehlt, und wir stehen damit steigenden Versorgungsrisiken gegenüber. Die befürchtete Energieknappheit bestätigt die Warnungen, dass die aufgegleiste Energiewende, die sich gegen die Kernenergie richtet, statt der Versorgungssicherheit und dem Klimaschutz zu dienen, nicht erfolgreich sein wird.

Kommen wir auf das Szenario einer Ablehnung der Energiestrategie und die Rolle der Kernkraft zurück. In diesem Szenario gäbe es keinen Ausstieg aus der Kernenergie. Für die Stromversorgung wäre dies vorteilhaft, denn die Kernkraftwerke liefern Bandenergie mit hohem Winteranteil, verursachen keinen zusätzlichen Systemausbau und sind auch bei Berücksichtigung aller Kosten konkurrenzfähig. Die Versorgung mit Brennelementen kann günstig und ohne fragwürdige Abhängigkeiten gesichert werden. Zudem weist die Kernenergie einen geringeren spezifischen Treibhausgasausstoss auf als alle anderen Energien mit Ausnahme der Wasserkraft, ist also klimaschonend.

Das Kernkraftwerk Mühleberg fehlt heute

Das Kernkraftwerk Mühleberg wurde trotz unbefristeter Betriebsbewilligung Ende 2019 abgestellt. Die Bernischen Kraftwerke (BKW) bezeichneten den Stilllegungsentscheid 2013 als unternehmerisch begründet – wegen anstehender Nachrüstungen, deren Kosten auf 200 Millionen Franken veranschlagt waren. Die Stromversorgung spielte offensichtlich keine Rolle, entscheidend waren vermutlich die damals tiefen Strompreise und der bundesrätliche Ausstiegsbeschluss von 2011, der die ohnehin schwierige politische Situation der Kernenergie weiter verschärfte. Damit fehlen 1500 Gigawattstunden Winterstrom, um welche die BKW heute wohl froh wären.

Der Bund hat sich gezwungen gesehen, kurzfristig eine Reihe von Massnahmen gegen eine allfällige Stromknappheit zu ergreifen. Das Vorhalten von 400 Gigawattstunden Wasserkraftreserve für den Winter 2022/23 kostet 296 Millionen Euro, und die Miete der 8 Reservegasturbinen in Birr mit einer Gesamtleistung von knapp 250 Megawatt beläuft sich für vier Jahre auf 470 Millionen Franken – die Brennstoffkosten sind dabei noch nicht berücksichtigt. Dazu kommen weitere kostenträchtige Vorkehrungen. Das zeigt: Der Weiterbetrieb des Kernkraftwerks Mühleberg hätte nicht nur die Versorgungssicherheit erhöht, sondern auch volkswirtschaftlich betrachtet Sinn ergeben.

Welchen Einfluss hat die Energiestrategie 2050 auf die aktuelle Stromversorgungslage? Die Annahme in der Volksabstimmung 2017 hat nicht dazu geführt, dass die erneuerbaren Energien rasch genug zugebaut werden. Umgekehrt hätte ihre Ablehnung auch nicht bewirkt, dass diese langsamer entwickelt worden wären. Erst die höheren Energiepreise und die Unsicherheit im Jahr 2022 haben die Nachfrage nach Solaranlagen und Wärmepumpen signifikant verstärkt. Photovoltaik, Wind und Biomasse liefern zwar einen Beitrag zur Versorgung, zur Deckung der Winterstromlücke ist er aber nur bescheiden.

Die kurzfristige Entwicklung wird also von der Energiestrategie 2050 nur unwesentlich beeinflusst. Anders sieht es längerfristig aus. Mit dem Verbot neuer Kernkraftwerke wird auf eine wichtige Säule der Energieversorgung verzichtet. Dadurch wird der Energiewende jede Realisierungschance genommen, zumindest innert der gesetzlichen Frist bis 2050. Erschwerend kommt hinzu, dass das Rahmenbewilligungsverbot sich nicht erst bei der Stilllegung weiterer Anlagen auswirken wird. Denn das Uvek setzte es faktisch vorzeitig in Kraft, indem die hängigen Gesuche für die Ersatzkernkraftwerke bereits wenige Tage nach der Fukushima-Katastrophe im März 2011 sistiert wurden. Wären diese Projekte damals weiterentwickelt worden, könnte die Auslandabhängigkeit heute wesentlich schneller reduziert werden.

Versäumte Investitionen, nicht erfüllbare Erwartungen

Die jahrzehntelangen Investitionsversäumnisse und die zusätzlichen Anforderungen der Energiestrategie 2050 und des Netto-Null-Ziels führen dazu, dass die gefährliche Auslandabhängigkeit noch lange bestehen bleibt. Mit erneuerbarem Strom allein wird es nicht gelingen, bis 2050 die Versorgung im Winter ohne Importe sicherzustellen und den unbedingt nötigen Systemausbau zu realisieren. Neue Kernkraftwerke könnten die Versorgungssicherheit erst mittelfristig verbessern, sollten aber trotzdem rasch aufgegleist werden. Denn nur so besteht eine Chance, dass Netto-Null bis 2050 möglich werden wird. Noch fehlt allerdings der politische Wille, nur schon das Rahmenbewilligungsverbot für neue Kernkraftwerke aufzuheben.

Die Importabhängigkeit muss zur Verbesserung der Versorgungssicherheit rasch reduziert werden. Damit wird nicht Autarkie gefordert, wie fälschlicherweise oft moniert wird, sondern ein starkes Energiesystem, das im europäischen Stromverbund Partner und nicht Abhängiger ist. Dazu braucht es auch ein Stromabkommen mit der EU.

Mit der Energiestrategie 2050 wurden Erwartungen geweckt, die sich als nicht erfüllbar erweisen. Es geht nicht ohne die Kernenergie, sie muss zusammen mit der Energieeffizienz und den Erneuerbaren weiterhin eine tragende Säule unserer Energieversorgung bleiben. Politik und Gesellschaft stehen damit vor der unangenehmen Frage nach den Prioritäten: Was ist wichtiger, Versorgungssicherheit und Klimaschutz oder der Kernenergieausstieg? Alles ist nicht gleichzeitig zu haben.

Die meisten Politiker drückten sich bisher um eine Antwort; sie möchten lieber nicht von der Kernenergie sprechen, denn vordergründig sind die Erneuerbaren attrak­tiver. Eine rein erneuerbare Energieversorgung ist zwar um Grössenordnungen klima- und umweltfreundlicher als die fossilen Energien. Wegen der geringen Energiedichte der meisten eingesetzten Technologien ist sie aber materialintensiv und deshalb bei genauem Hinschauen ökologisch nicht vorteilhafter als die Kernenergie.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!