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Es braucht eine europäische «Koalition der Willigen»
Antonio Missiroli, zvg.

Es braucht eine europäische «Koalition der Willigen»

Die Trump-Regierung zieht sich aus Europa zurück. Die EU-Staaten müssen nun endlich aufrüsten – nicht nur, um der Ukraine zu helfen, sondern auch, um sich selber verteidigen zu können.

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Das Jahr 2025 markiert einen entscheidenden Wendepunkt für die europäische Sicherheit – eine weitere Zeitenwende sozusagen. In weniger als drei Monaten hat das zweite Kabinett der Regierung Trump das prekäre Gleichgewicht, das durch den andauernden Krieg in der Ukraine geprägt war, aus dem Lot gebracht. Sie hat die bisherige US-Unterstützung für Kiew rückgängig gemacht und eine scheinbar neutrale (aber faktisch prorussische) Haltung eingenommen. Darüber hinaus hat Washington die Beziehungen zu seinen Verbündeten durch einseitige Handelszölle, aggressive Rhetorik und – besonders gravierend – durch die angedrohte vollständige Abkehr von Nato und Europa nachhaltig beschädigt.

Auf diesen «perfekten Sturm» jenseits des Atlantiks haben die europäischen Eliten mit einer Reihe formeller und informeller Gipfeltreffen in unterschiedlichen Formationen reagiert. Sie konzentrierten sich hauptsächlich darauf, die eigene Verteidigungsfähigkeit zu stärken und die Unterstützung für die Ukraine aufrechtzuerhalten (und auszubauen). Es war das zentrale Anliegen, in diesem kritischen Moment gemeinsam Entschlossenheit zu demonstrieren und sich zugleich auf eine schwindende amerikanische Präsenz und Beteiligung an der europäischen Sicherheit vorzubereiten.

Europa rüstet auf

Das bisher konkrete Ergebnis dieser Bemühungen ist der Masterplan «Rearm Europe», der auch in das im März vorgelegte Weissbuch «Defence Readiness 2030» der Europäischen Kommission und des Europäischen Auswärtigen Diensts aufgenommen wurde. Im Wesentlichen zielt das Instrument mit der Bezeichnung SAFE (Security and Action for Europe) darauf ab, über einen Zeitraum von vier bis fünf Jahren bis zu 150 Milliarden Euro zu mobilisieren, unter anderem durch die Umwidmung ungenutzter Mittel aus dem EU-Haushalt 2021 bis 2027. Damit sollen allen 27 Mitgliedstaaten günstige Kredite für zusätzliche Investitionen in militärische Fähigkeiten zur Verfügung gestellt werden. Um die transnationale Zusammenarbeit bei der Beschaffung zu fördern, sollen diese Investitionen länderübergreifend erfolgen, wobei auch Nicht-EU-Staaten wie die Ukraine und die Schweiz einbezogen werden können.

Besonders wichtig ist die rechtliche Verankerung der neuen SAFE-Verordnung in Artikel 122 des EU-Vertrags, der sogenannten «nationalen Ausweichklausel». Diese erlaubt den Regierungen, ihre Verteidigungsausgaben in den kommenden vier Jahren um bis zu 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu erhöhen, ohne dabei ein Defizitverfahren zu riskieren. Sollten alle EU-Mitglieder diesen Spielraum vollständig ausschöpfen, könnten die gesamten Verteidigungsausgaben nach Schätzungen der Kommission für diesen Zeitraum um zusätzliche 650 Milliarden Euro steigen.

Allerdings bleiben die Entscheidungen auf nationaler Ebene, da die EU (anders als die Nato) keine verbindlichen Ziele für Verteidigungsausgaben festlegt. Darüber hinaus haben vielleicht nicht alle Mitgliedstaaten die erforderliche fiskalische Kapazität (unter Berücksichtigung der Verschuldung und der Exposition gegenüber den Finanzmärkten) oder die innenpolitische Unterstützung für solche Aufgaben. Länder wie Italien, Spanien und sogar Frankreich könnten Schwierigkeiten haben, diese Zielvorgaben zu erreichen – im Gegensatz zu Deutschland, das sein Grundgesetz geändert hat, um beispiellose Militärausgaben zu ermöglichen.

Es fehlt zudem mancherorts die Dringlichkeit, die etwa die baltischen Staaten und Polen zu höheren Verteidigungsausgaben bewegt hat. Deswegen laufen noch Beratungen – auch mit Nicht-EU-Ländern wie Grossbritannien, Norwegen und der Schweiz –, um ein spezielles Finanzierungsinstrument (eine Art Verteidigungs-«Bank») zu etablieren. Diese soll durch die Mobilisierung von Risikokapital und die Auslagerung von Risiken und Kosten zusätzliche Anreize für gemeinsame Investitionen schaffen.

«Es fehlt mancherorts die Dringlichkeit, die etwa die baltischen Staaten und Polen zu höheren Verteidigungsausgaben bewegt hat.»

Das alles erfordert jedoch auch eine echte Zeitenwende dahingehend, wie die europäischen Länder ihre Verteidigungsfähigkeit planen und Beschaffungsprozesse handhaben. Diese Transformation ist notwendig, um die bestehende Fragmentierung und Doppelspurigkeiten zu überwinden – vor allem vor dem Hintergrund, dass die Binnenmarktregeln in diesem Sektor nur eingeschränkt gelten.

Die Nato erhalten

Die «Trump(f)-Karte» gilt es ebenfalls zu berücksichtigen, da die Nato-Strategie der Trump-Regierung weiterhin unklar bleibt. Bisher drehten sich die zentralen Forderungen aus dem Weissen Haus um die Verteidigungsausgaben – nämlich das bisherige nationale Ziel von 2 Prozent des BIP deutlich über 3 Prozent oder sogar auf bis zu 5 Prozent anzuheben. In der Vergangenheit waren solche Forderungen häufig mit einem dezenten Hinweis auf «Buy American» verbunden. Dies könnte die jüngsten EU+-Initiativen zur Stärkung der europäischen Verteidigungsbeschaffung untergraben und zu Spannungen zwischen den Verbündeten führen. Zudem herrscht weiterhin Unklarheit über die Zukunft der US-Militärpräsenz und -infrastruktur in Europa.

Als Folge dessen hat die alte Idee eines europäischen «Pfeilers» innerhalb der Nato – die bereits in den 1990erJahren aufkam, als ein teilweiser US-Rückzug aus einem freieren und vereinten Europa absehbar war – wieder an Dynamik gewonnen. Ein solcher Pfeiler könnte, wenn vereinbart und richtig umgesetzt, die US-Beteiligung – wenn auch mit reduzierter Last – aufrechterhalten und dabei die entscheidende Rolle der Nato als «Abschreckung der letzten Instanz» gegen ebenbürtige Gegner bewahren. Dies würde zudem Europas operative (statt strategische) Autonomie stärken. Allerdings wird selbst eine stärker europäische und weniger amerikanische Nato zusätzliche «Opfer an Blut und Geld» erfordern – beispielsweise personelle und finanzielle Ressourcen –, um mehr Glaubwürdigkeit zu erlangen und gleichzeitig ein gewisses Mass an US-Beteiligung zu sichern.

Flexiblere Formate

Die Unterstützung Kiews wird immer dringlicher, insbesondere für den Fall, dass sich Washington zurückzieht. Die EU und einzelne Länder, sowohl innerhalb als auch ausserhalb der Union, haben ihre Bemühungen durch erhöhte makroökonomische Förderung und militärische Unterstützung intensiviert. Die Aussicht auf einen von Trump vermittelten Waffenstillstand wirft jedoch eine entscheidende Frage auf: Wer würde dessen Umsetzung überwachen und absichern – und wie?

London und Paris haben bei der Bewältigung dieser Herausforderung die Führung übernommen. Sie schlagen vor, eine «Koalition der Willigen» für den Einsatz in der Ukraine zusammenzustellen und zu führen, vorzugsweise mit einer Art US- oder Nato-«Rückendeckung». Während der diplomatische und strategische Kontext weiterhin ungewiss bleibt – so sehr, dass die Bedingungen für einen tatsächlichen Einsatz möglicherweise nicht erfüllt sind –, könnte eine solche Koalition zum ersten echten Testfall für die europäischen Verteidigungsfähigkeiten ohne amerikanische Führung werden.

Ähnlich wie bei der europäischen «Aufrüstung» wird auch die europäische «Verteidigung» nicht ausschliesslich von der EU gesteuert. Die aktuellen Verträge besitzen kein Mandat für eine «gemeinsame Verteidigung» – sie enthalten nur eine Ermächtigungsklausel (Artikel 42), die Einstimmigkeit erfordert. Eine Reform der EU-Verträge ist zudem praktisch unmöglich geworden.

Die entstehenden Formate, gefördert durch die Trump-bedingte Annäherung zwischen Brüssel und London, folgen der Formel «27 − x + y», wobei «x» für unwillige oder unfähige EU-Länder steht und «y» für interessierte Nicht-EU-Länder. Ironischerweise könnte die «variable Geometrie», die früher als Bedrohung für die europäische Integration galt, nun zu deren Antrieb werden.

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