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Schweizerische Eigenart  und europäische Integration
Portrait von Gerhard Winterberger, Direktor des Vororts des Schweizerischen Handels- und Industrievereins und Mitglied der Schweizer EFTA-Delegation, aufgenommen am 26. Maerz 1979. (KEYSTONE/PHOTOPRESS-ARCHIV/RK)

Schweizerische Eigenart
und europäische Integration


Die Schweiz besteht, weil es ihr trotz aller trennenden Unterschiede gelungen ist, die im flachen Land mit den an den Hängen lebenden Menschen im gleichen staatlichen Willen zu vereinen und so das ganze zum Mittellandgehörende Gebiet vom obersten Grat der Alpen bis auf die Höhen des Jura derart zusammenzuschließen, daß jedes Bundesglied als gleichberechtigter Teil eines größeren Ganzen und doch für sich nach seinen eigenen Bedürfnissen sich entfalten konnte.                                           

Hermann Weilenmann

Die konsequente und sichere Haltung der schweizerischen Behörden und der Wirtschaft in der Integrationspolitik hat ihre Wurzeln in der Eigenart unseres Landes und der geistigen Einstellung seiner Bevölkerung. Nur wer die schweizerische Eigenart in ihrer rationalen und irrationalen Breite und Tiefe erfaßt, wird den schweizerischen Standpunkt in der Integrationsfrage richtig verstehen. Er wird zur Überzeugung gelangen, daß die Schweiz in historischer, politischer, kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht eine Welt für sich ist. In zutreffenden, knappen Worten hat der eingangs zitierte Hermann Weilenmann die Schweiz, diesen Bund zahlreicher Bünde, diese Genossenschaft von Gemeinden, diese Nation eines aus eigenem Willen geeinigten Volkes in seinem hervorragenden Werk «Die Schweiz und ihre Demokratie» wie folgt umschrieben:

«Es gibt kaum ein Land, das auf kleinem Raum so vielgestaltig ist wie die Schweiz, kaum ein uneinheitlicheres Volk als die Schweizer, kaum einen Staat, der weniger Macht und Kompetenzen besessen hat als die Eidgenossenschaft. Weder natürliche oder historische Grenzen noch die Sprache oder irgend eine andere objektiv nachweisbare nationale Eigenschaft, auch nicht die Autorität einer Dynastie oder zentralen Regierung haben diese Menschen zum Volk, diese Täler und Städte zum gemeinsamen Vaterland, diese ganz verschiedenartigen Gemeinden zu einem Staat zusammengefügt. Trotzdem können wir es wagen, die Schweiz am höchsten und vollkommensten Begriff der Nation zu messen, der verlangt, daß die Vereinigung zum Volk auf Freiheit und Gleichheit beruht, und daß Volk und Staat eins sind.»

In der Schweiz hat eine gemeinsame politische Überlieferung und Überzeugung verschiedene Sprachen, Kulturen und Konfessionen dermaßen zusammengefügt, daß sie schwersten äußern und innern Belastungen standhielt.

Historische Reflektionen

Die Natur, der karge Boden und vor allem die großen Nachbarn rings herum haben es der Eidgenossenschaft durch all die Jahrhunderte nie leicht gemacht. Sie stellen jedoch die eigentlichen Voraussetzungen dar, daß die schweizerische Nation sich bilden konnte. Die Schweiz ist entstanden im Kampf gegen die Mächte des Tieflandes, in der Abwehr und Niederwerfung des Adels und der Feudalmönche. Bereits im 13. Jahrhundert traten die zu Talgemeinden zusammengeschlossenen reichsfreien Bewohner des Haslitals, von Uri, Schwyz und Nidwalden sowie einzelner Städte als Träger eigenen Rechtes und eigener Verantwortung auf. Ähnliche Rechtsverhältnisse, wie die Selbstverwaltung der Gemeinde, bildeten sich schon früher, zum Teil zur selben Zeit und anschließend in den Walserkolonien Graubündens, den tessinischen Kommunen, ferner im Oberwallis, im Berner Oberland (Saanen), in der Grafschaft Greyerz, in Glarus, im Appenzellerland und in einigen rätoromanischen Gemeinden Bündens heraus.

Im spätern Mittelalter und gegen die Neuzeit hin erfolgte die Entwicklung der Städte und ihrer Landschaften weniger in freiheitlicherer Richtung als in den Alpengemeinden der Urschweiz, des Wallis und Graubündens. Ständische Herrschaftsrechte setzten sich in den Städten und den ihnen gehörenden ländlichen Gebieten immer mehr durch. Die Geschichte der Schweiz wurde jahrhundertelang einerseits durch das Zusammenwirken und anderseits durch den Gegensatz zwischen alpiner und städtischer Politik bestimmt. Weder die Bergbauerngemeinden allein noch die Städte allein hätten die Eidgenossenschaft durch die Fährnisse der Zeit erhalten können. Nur der bündischen und föderativen Zusammenfassung beider Gruppen ist es zu verdanken, daß die Schweiz Bestand hatte. Jede Gemeinde, jedes Tal hat eine eigene Geschichte, aus welcher sich das Lokal- und Geschichtsbewußtsein der Bewohner nährt. Heroisch — wie seine Landschaft — ist die Geschichte des Oberwallis. Nicht nur sind die für die freiheitliche historische Entwicklung der Schweiz bedeutsamen Walserwanderungen des 13. und 14. Jahrhunderts, die Gründung der freien Walsergemeinden im weitern Alpengebiet, vom Oberwallis ausgegangen. Die unvorstellbar zähen Bewohner der sieben Zehnten des Oberwallis rangen den eigenen Adel nieder, behaupteten sich gleichzeitig gegen Bern und drängten in langen, blutigen Kriegen das mächtige Savoyen aus dem Wallis. Aber auch die Geschichte Bündens, der Urkantone, Appenzells, Berns, Zürichs, die große humanistische Tradition Basels sind in hohem Maße geeignet, das Lokal- und Geschichtsbewußtsein ihrer Bürger zu stärken.

Die freien Bauernrepubliken in manchen Alpentälern gewährleisteten dem einzelnen Bürger ein größeres Maß an persönlicher Freiheit als sie beispielsweise dem niedern Adel im Tiefland zuteil wurde. Die Entwicklung in der Schweiz lief derjenigen im übrigen Europa zuwider; sie stand im Gegensatz zu den sich überall verstärkenden Prinzipien des Feudalismus. Viele Jahrhunderte lang bückte der Adel in den umliegenden Ländern haßerfüllt auf die Bauernrepubliken im Herzen der Alpen, die sich gleich auf gleich mit ihm stellten oder ihn sogar überragten. Zutreffend schreibt hierüber Richard Feller in seinem grandiosem Werk «Geschichte Berns»:

«In der Schweiz lief eine Freiheit um, von der man im Ausland nur mit Grauen sprach. Der berühmte französische Gelehrte Jean Bodin überzeugt in seinem 1576 erschienenen Werk ,Sechs Bücher vom Staat› die gebildete Welt, daß eine rohe Gleichheit in der Schweiz Rang, Stand und Gesittung unterdrückt habe. Die Schweiz galt als eine Wildnis, die man mied. »

In Deutschland und Frankreich sahen die höfischen Kreise mit Verachtung auf die Bauersame ihres Landes herab; der Bauer galt als Tölpel und wurde in Liedern und Fasnachtspielen zu einer dummschlauen Figur gestempelt. Dies war die Konsequenz des Verlustes der Freiheit. Um sich selber zu erhöhen, handelte der Adel des umliegenden Tieflandes nach dem alten Prinzip aller Überlagerer: die beherrschten Klassen wurden in jeder Hinsicht erniedrigt und die eigene Stellung in rechtlicher, sozialer, ideologischer und religiöser Hinsicht entsprechend untermauert.

Die ständische, feudalistische Gliederung in Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich wirkt im gesellschaftlichen Leben dieser Länder heute noch nach. Im Ausland gibt es eine sogenannte «Gesellschaft», läßt sich auch eine «Elite» feststellen. In der Schweiz fehlt eine «Gesellschaft» — auch wenn sich gewisse « arrivierte », von ausländischen Vorbildern beeinflußte Kreise in Basel, Bern und Zürich bemühen, eine zu schaffen bzw eine solche darzustellen; das Schweizervolk lehnt eine tonangebende «Gesellschaft» ab. In der Schweiz kennen wir auch keine Elite, es gibt wohl Eliten, und zwar in allen Schichten der Bevölkerung, in allen Tälern und Regionen, es gibt aber keine «Elite». Eine Elite würde —vielen Intellektuellen und Managern zum Trotz— niemals akzeptiert. Die sogenannten «Elitetheorien» finden in der Schweiz keine oder nur eine äußerst beschränkte Anwendung.

Die Schweiz stand meistens im Gegensatz Zur europäischen Entwicklung. Zur Zeit der Entstehung der Territorialstaaten im Mittelalter, während des Ausbaus der feudalistischen Gesellschaftsordnung errangen die Bauern und Hirten der Alpengemeinden und die Bürger der Städte das Recht auf Selbstbestimmung und Selbstverwaltung. Zu Beginn der Neuzeit, als die Großstaaten die noch unabhängig gebliebenen Gebiete Europas aufteilten, baute die Schweiz ihre kleinstaatliche Ordnung weiter aus. Sie hielt auch dem Absolutismus stand und ließ sich nicht in mörderische Glaubenskriege — wie den Dreißigjährigen Krieg — hineinreißen. Die Schweiz wandelte sich zum vielsprachigen Staate zur Zeit als die Nationalstaatsbewegung die politische Einheit aus der Einheit der Sprache ableitete. Der im letzten Jahrhundert gegründete liberale Bundesstaat war eine echte Lösung der Mäßigung und Toleranz, der den zum Teil sehr konservativen Einzelgliedern ein Optimum an Eigenständigkeit und den Bürgern ein Maximum bei der Mitwirkung an der politischen Willensbildung zuerkannte. Die Schweiz überstand beide Weltkriege; sie setzte sich für die Freiheit ein und hielt an der schweizerischen Eigenart fest, obschon unser Land von den Achsenmächten umringt war und jeden Tag mit der Invasion gerechnet werden mußte. Auch nach dem Kriege wollte die Eidgenossenschaft ihre seit Jahrhunderten geübte Neutralität nicht preisgeben. Trotzdem darf nicht verschwiegen werden, daß der Weiterbestand der Schweiz wiederholt gefährdet war. Glaubensfanatismus, machtpolitische Auseinandersetzungen zwischen den Landkantonen und den Städten, die Bildung von Städtearistokratien mit entsprechenden Herrschaftsrechten im 17. und 18. Jahrhundert haben die alte Eidgenossenschaft, den frühern lockern Staatenbund, wiederholt an den Rand des Abgrundes gebracht.

Die schweizerische Eigenart

Es stellt sich nun die Frage, worin eigentlich die schweizerische Eigenart, das typisch Schweizerische, besteht. Einige Ansätze zur Beantwortung dieser Frage ergeben sich bereits aus unsern bisherigen Ausführungen. Wer die schweizerische Lebensform erkennen will, der muß von den einzelnen Gemeinden, Tälern und Regionen ausgehen. Er wird rational nicht alles erfassen können, da die schweizerische Eigenart auch starke irrationale Komponenten und Werte aufweist. Dies ist denn auch der tiefere Grund dafür, warum die Maßstäbe des Auslandes nicht ohne weiteres auf die Schweiz übertragen werden dürfen.

Typisch schweizerische Merkmale sind unseres Erachtens der wache politische Sinn, das im Föderalismus verwurzelte ausgeprägte Geschichts- und Lokalbewußtsein sowie der allen bisherigen Auflösungsversuchen trotzende, überaus starke Staatswille unseres Volkes. Politisch freiheitlicher Sinn und Staatswille sind in unserm Fall jedoch eine Folge des Geschichtsbewußtseins und des Föderalismus. Der schweizerische Föderalismus ist in den Gemeinden, in vom Einzelnen noch überschaubaren Regionen und in den Kantonen verankert. Es gibt keinen Typus eines Einheitsschweizers oder einer Einheitsschweizerin —höchstens innerhalb des politischen Flugsandes und der soziologisch vermaßten Kreise, die quer durch alle Bevölkerungsschichten laufen. Aber in derartigen Fällen handelt es sich auch nicht um solche mit den typischen Merkmalen des Schweizers «ausgestattete» Individuen. Es gibt Berner, Bündner, Walliser, Basler, Freiburger, Tessiner und Zürcher. Man muß aber noch weiter gehen; die meisten Kantone sind topographisch reich gegliedert; die einzelnen Regionen innerhalb der Kantone weisen zum Teil eine unterschiedliche historische und kulturelle Entwicklung auf, einige waren ursprünglich freie, andere hingegen Untertanengebiete. Die topographisch, bevölkerungspolitisch und wirtschaftlich differenzierte Struktur und die unterschiedliche historische und kulturelle Entwicklung wirken sich ebenfalls in der geistig-politischen Einstellung der Bevölkerung aus.

Nehmen wir ein Beispiel aus dem Kanton Bern: Der Oberhasler mit seinem ausgeprägten Lokalbewußtsein und seinem starken Freiheitssinn fühlt sich in erster Linie als Oberhasler, in zweiter Linie als Oberländer und erst dann als Berner. Sein schweizerischer Staatswille, sein Nationalbewußtsein, das «Bild der Schweiz » wird genährt und bestimmt durch die Eindrücke, die er in seiner engsten und engeren Heimat empfängt, durch sein Geschichtsbewußtsein, durch seine Anteilnahme am Leben in seiner politischen Gemeinde, in den alten Körperschaften, wie den Bäuerten, in der Kirchgemeinde, am Geschehen in der Talschaft. Ähnlich geht es dem Saaner, dem Emmentaler und dem Oberaargauer. Auch im Wallis, im Bündnerland, in St. Gallen und der Innerschweiz bestehen derartige regional, wirtschaftlich, demographisch und historisch bedingte Unterschiede. So wenig es einen einheitlichen Bernertypus gibt, so wenig kennen wir einen einheitlichen Walliser-, Bündner-, St.-Galler- oder Luzernertypus. Diese Differenzierung, die ihren Ausdruck ebenfalls in den Dialekten findet, dürfte in der alemannischen Schweiz eher noch ausgeprägter sein als in der romanischen Schweiz. Auch der Dialekt, die kräftigen und an plastischen Bildern reichen alemannischen Mundarten, die beispielsweise allein im Berner Oberland verschieden gesprochen werden, sind Ausfluß des politischen, kulturellen und sprachlichen Föderalismus und der topographisch mannigfaltig gegliederten geographischen Lebensgebiete. Die Mundarten und das zähe Festhalten an denselben, wie es besonders den Bernern aller Regionen, den Wallisern, Walsern und Baslern eigen ist, gehören zur schweizerischen Eigenart und wirken allfälligen politischen und kulturellen Vereinheitlichungs- und Zentralisierungsbestrebungen entgegen. Trotz all dieser föderalistisch, historisch und sprachlich bedingten Differenzierung von Berg zu Berg, von Tal zu Tal, von Kanton Zu Kanton, von Region zu Region ist im allgemeinen ein starkes Bekenntnis zum Bundesstaat festzustellen.

Werner Kägi hat in einem bemerkenswerten Aufsatz « Selbstbestimmung und Mitverantwortung» die Voraussetzungen des Föderalismus wie folgt umschrieben:

«Föderalismus wird es nur geben, solange der Sinn für Vielgestaltigkeit und damit für das Recht auf Eigenart lebendig ist. Die Eigenart kann nur in einer Ordnung der Selbstbestimmung erhalten und entfaltet werden; nur der föderalistische Geist wird sie nicht als etwas zu Überwindendes, sondern als Element des Reichtums verstehen und verteidigen. Die föderalistische Ordnung allein ermöglicht in einer vielgestaltigen Gemeinschaft eine maximale Anerkennung und Wahrung der Eigenart. Föderalismus wird es anderseits nur geben, solange der Sinn für die Einheit in jener Vielheit und damit für die Mitverantwortung für das umfassende Ganze erhalten bleibt. Vielheit ohne Einheit führt zu einem beziehungslosen Pluralismus, zu einem bindungslosen Partikularismus.»

In der Tat: ohne Bekenntnis zum Bundesstaat, ohne schweizerischen Staatswillen wäre die schweizerische Eidgenossenschaft nicht denkbar. Es braucht beides. Der schweizerische Föderalismus bedarf des Sinns für die «Vielheit in der Einheit» und des Sinns für die «Einheit in der Vielheit».

 Der Umstand, daß die Schweiz gebirgig und hügelig ist, hat bewirkt, daß die Ordnung des Zusammenlebens sich bei uns im Gegensatz zum Tiefland entwickelt hat. Die einzelnen Täler und Gemeinden bilden die natürlichen Einheiten, den vom Einzelnen noch klar überschaubaren Raum. Berge und Hügel schließen die Bewohner nach innen zusammen. Die Kammern der Alpen und die Höhenzüge des Mittellandes mit ihren Mulden, die feste Umgrenzung, die Überblickbarkeit der Verhältnisse ergeben eine enge und dauerhafte Bindung an die Heimat. Auch im schweizerischen Mittelland und in den andern nichtalpinen Gebieten der Schweiz drang die Lebensauffassung der Alpenbewohner gegenüber der Großraumpolitik des Tieflandes durch. Sehr schön schreibt darüber der bereits erwähnte Hermann Weilenmann: «Es ist immer das entscheidende Problem der Schweizergeschichte gewesen und ist es noch heute, ob sich die in den Mulden des Mittellandes, des Jura und der Südtäler lebenden Leute für die Herrlichkeit des Großstaates oder für die Schweiz, das heißt für die Selbständigkeit ihrer kleinen Heimat, entschieden. Stets nahmen sie die ihnen von beiden Seiten gebotenen Gaben entgegen. Aus dem vor ihnen ausgebreiteten Tiefland empfingen sie die großen kulturellen Anregungen, die Rohstoffe für ihre Industrie, die Handelsgüter. Durch ihre Sprache bleibt die deutsche Schweiz mit Deutschland, die französische Schweiz mit Frankreich, die italienische mit Italien verbunden. Aber wenn es um die Erhaltung der Heimat und den Ausbau der eigenen Demokratie geht, finden alle Teilgebiete ihren sichern Rückhalt in der Tradition der Alpentäler.»

Schließlich ist festzuhalten, daß zur schweizerischen Eigenart ebenfalls die Weltverbundenheit ihrer Wirtschaft gehört. Trotz der Kleinheit des Landes, dem Mangel an eigenen Rohstoffen nimmt die Schweiz in der Weltwirtschaft dank der Stabilität ihrer politischen und sozialen Verhältnisse, der liberalen Wirtschafts- und Handelspolitik, der Initiative ihrer Unternehmer und der Schaffenskraft und Sparsamkeit der Bevölkerung eine hervorragende Stellung ein. Die Erzeugnisse ihrer Industrie gehen in alle Länder. Das Bank- und Versicherungswesen hat weltweite Bedeutung erlangt, und in bezug auf den Tourismus steht die Schweiz an der Spitze der Fremdenverkehrsländer. Auch diese — rein wirtschaftliche Seite der schweizerischen Eigenart — ist entsprechend zu würdigen.

Die Stellung der Schweiz Zur Integrationsfrage

Die Haltung der schweizerischen Behörden und der Wirtschaftsverbände in der Integrationspolitik ergibt sich aus den skizzierten besondern historisch-politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnissen. Es war von Anfang an klar erkennbar, daß die Schweiz aus politischen und wirtschaftlichen Gründen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als Mitglied nicht beitreten kann. Schweizerische Eigenart und die Wesensmerkmale der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft stehen einander diametral gegenüber. Wir möchten verzichten, in diesem Zusammenhang die den meisten Lesern bekannten Wesensmerkmale der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft aufzuzählen. Es sei lediglich festgehalten, daß die politischen Ziele der EWG, die Delegierung bedeutender Lenkungsfunktionen und Lenkungsentscheide auf supranationale, zwangsläufig dirigistisch und kompetenzgierig eingestellte internationale Behörden, den freiheitlich gesinnten, föderalistisch geprägten Bürger eines Kleinstaates mit großem Mißtrauen erfüllt. Ein Beitritt der Schweiz zur EWG wäre praktisch mit der Aufgabe der Eigenstaatlichkeit verbunden. Unser Land würde von den drei großen Staaten und der internationalen Bürokratie in Brüssel rücksichtslos majorisiert. In der direkten Demokratie, wie wir sie in der Schweiz verwirklicht haben, werden die Souveränitätsrechte über die Finanzpolitik, die Agrarpolitik, die Handelspolitik, die Kartellpolitik, die Sozialpolitik usw. direkt vom Volk ausgeübt. Zudem sind die staatlichen Kompetenzen zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden nach föderalistischen Prinzipien aufgeteilt. Es ist vollständig klar, daß eine Abtretung der Souveränität auf diesen Gebieten an supranationale Behörden dem schweizerischen Nationalgedanken und ihren Trägern, dem föderalistischen Staatsaufbau, der Gemeindeautonomie und der direkten Demokratie, den Todesstoß versetzen und unsere politische Lebensform auslöschen würde. Im weitern sprechen die gewährten Grundsätze der schweizerischen Neutralität gegen den Eintritt in den vorgesehenen europäischen Superstaat mit seinen explosiven Kolonial- und Grenzkonflikten. Schließlich spielen auch rein ökonomische Überlegungen eine Rolle. Die Übernahme des protektionistischen Außentarifs und die Harmonisierung und Gleichschaltung der Wirtschafts- und Sozialpolitik würde unsere internationale Wettbewerbsstellung beeinträchtigen und die kollektivistischen Tendenzen in der Wirtschaft entsprechend verstärken.

Franz Aschinger hat kürzlich in einem beachteten Aufsatz «Die Kleinstaaten und die europäische Integration» mit Recht darauf hingewiesen, daß das Problem der Kleinstaaten bisher im Rahmen der europäischen Integrationdiskussion unter den Großen leider wenig oder keine Beachtung gefunden hat.

«Tatsächlich geht es bei der Frage der Integrationsform aber um ein Existenzproblem der Kleinstaaten und damit auch um die grundsätzliche Frage nach der politischen und kulturellen Bedeutung dieser Staaten für das freie Europa und die freie Welt. Daß in der Vergangenheit von den europäischen Kleinstaaten ein unverhältnismäßig großer, ja teils entscheidender Beitrag auf die Kultur der Menschheit ausgegangen ist, kann dem Historiker und Geschichtsphilosophen ebensowenig verborgen bleiben wie die Tatsache, daß der Kleinstaat durch die Jahrhunderte hindurch einen starken Hort der Freiheit und des Föderalismus darstellte. Im Kleinstaat fühlt sich der Bürger mit dem Ganzen stärker verbunden als im Großstaat, und hier fühlt er sich auch mehr selbstverantwortlich. Die Freiheit in der Kleinheit hat sich in der Geschichte auch oft als ein Element der politischen und wirtschaftlichen Stabilität und der Aktivität erwiesen. Das erklärt wohl auch großenteils, warum heute trotz der Enge des Lebensraumes gerade eine Reihe von Kleinstaaten hinsichtlich des Lebensstandards an der Spitze der europäischen Staaten steht. Wir wollen damit nicht sagen, daß Freiheit, Demokratie und wirtschaftliche Tüchtigkeit ein Privileg des Kleinstaates seien, sondern nur feststellen, daß diese Güter auf kleinstaatlichem Boden besonders gut gedeihen. Und wir wollen auch keineswegs übersehen, daß es nur die Großstaaten sein können, die die Verantwortung für die Weltordnung übernehmen können. So entscheidend es für das Schicksal der freien Welt ist, daß diese Verantwortung von den westlichen Großmächten ausgeübt wird, so wichtig ist aber auch für den politischen und kulturellen Einfluß Europas und für seine politische Stärke, daß seine Kleinstaaten ihre typische politische Lebensform aufrechterhalten können. Ihr Aufgehen in einer supranationalen Organisation würde sie und damit auch das freie Europa gesamthaft empfindlich schwächen. »

 Die vorstehenden Darlegungen erhellen, daß die Schweiz nur dann an der europäischen Integrationsbewegung teilnehmen kann, wenn dies in der Form der Zusammenarbeit souveräner Staaten, wie sie beispielsweise mit Erfolg im Rahmen der OECE angewendet worden ist, geschieht. Wir wenden uns gegen die Behauptung gewisser machtfreudiger Promoter der EWG, daß die supranationale Methode mit den offenen und verdeckten Hegemonieansprüchen der Großstaaten die einzige Integrationsform Westeuropas sei. Die unter starker Mitwirkung der Schweiz geschaffene Europäische Freihandels-Assoziation trägt den politischen Lebensformen der Kleinstaaten Rechnung. Der Inhalt des Vertrages von Stockholm entspricht den schweizerischen Grundsätzen zur Integrationspolitik; er ist vereinbar mit unserer politischen und wirtschaftspolitischen Konzeption und der Eigenstaatlichkeit unseres Landes. Im Gegensatz zum Römer-Vertrag ist die prinzipielle Gleichberechtigung souveräner Staaten anerkannt. Gegenüber Drittstaaten besteht weiterhin die Möglichkeit einer selbständigen Gestaltung der Handelspolitik. Die EFTA strebt alles andere als die wirtschaftliche Zweiteilung Europas an; sie gab wiederholt ihren festen

Willen bekannt, ein Assoziierungsverhältnis zur EWG zu schaffen und die durch die EWG hervorgerufene Diskriminierung der übrigen OECE-Länder zu überwinden. Die Bildung einer großen Freihandelszone, der die sechs EWG-Staaten als Einheit beitreten, die Schaffung einer lockereren, auf dem Prinzip der Kooperation souveräner Staaten beruhenden föderalistischen Integrationsform, in welcher auch der Kleinstaat seine Eigenart bewahren kann, liegt im Interesse der politischen und wirtschaftlichen Stärkung Europas.

EWG-Anhänger in der Schweiz

Es ist klar, daß in einem demokratischen Land, wie der Schweiz, welches eine freie politische Meinungsbildung erlaubt, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft auch ihre Anhänger hat. Dabei ist selbstverständlich zu unterscheiden zwischen denjenigen, welche verschiedene Integrationsformen in Europa grundsätzlich anerkennen, die Ziele der EWG positiv würdigen und denjenigen, welche die supranationale Integrationsform nicht nur für die EWG-Länder, sondern auch für die übrigen Staaten — wie die Schweiz — in Anspruch nehmen möchten. Der auf die Spitze getriebene Europagedanke im Sinne, wie ihn allein die EWG verkörpert, hat sich bei manchen Jungen, aber auch bei einigen bemoosten Häuptern zu einem regelrechten Erlösungsglauben entwickelt. In politisch überaus naiver Weise wird erwartet, daß die hohen Ziele Europas die Aufgabe unserer Eigenstaatlichkeit wert seien und daß die Schweiz in einem geeinigten, supranationalen Europa die andern Gliedstaaten im Sinne unserer politischen Lebensform — die man mit dem Beitritt zur EWG doch aufgäbe — beeinflussen könnte Andere Leute, die ewigen Planer und Zentralisten, sind weniger naiv; unsere schweizerische Eigenart ist ihnen schon herkunfts- und standortsmäßig ein Dorn im Auge; sie ist ihnen ein Buch mit sieben Siegeln, das ihnen ewig verschlossen bleibt. Daß diese Leute einem technokratisch geleiteten, vorwiegend auf dem dirigistisch-kollektivistischen Prinzip beruhenden Europa mit Begeisterung Gefolgschaft leisten, liegt auf der Hand. Zum Teil sind es die gleichen Personen, die seinerzeit ebenso begeistert für ein «geeinigtes Europa unter deutscher Führung» eingetreten sind . . .

Abgesehen von einer kleinen Minderheit der studierenden akademischen Jugend, einigen Intellektuellen und Redaktoren, sind es vor allem die Kreise um den Basler Professor Edgar Salin und den Lausanner Professor Henri Rieben sowie einige junge Mitarbeiter bzw. Dozenten der Handels-Hochschule St. Gallen und Mitglieder der «Europa-Union», die sich für die Ziele und Methoden der EWG aktiv einsetzen1. In wiederholten Publikationen und namentlich in einem Votum anläßlich der letzten Jahresversammlung der Schweizerischen Gesellschaft für Statistik und Volkswirtschaft vom 27. und 28. Mai 1960 in Luzern hat Prof. Salin eine Lanze für die EWG gebrochen bei gleichzeitiger Negierung der schweizerischen Eigenart und einem — allerdings mißlungenen — Versuch der Diskreditierung der verantwortlichen schweizerischen Handelspolitiker. Salin und seine Anhänger nehmen für sich in Anspruch, im Namen der Wissenschaft zu sprechen und das Integrationsproblem in objektiv-wissenschaftlich-analytischer Weise darzustellen. Wir möchten mit allem Nachdruck bestreiten, daß die Frage der europäischen Integration und die Stellung der Schweiz allein vom Standpunkt der Nationalökonomie aus behandelt werden darf. Es ist eine Vermessenheit, wenn Produktivität, Wachstumsrate der Wirtschaft und Konsumkraft zu den entscheidenden Kriterien erhoben werden. Wie in diesem Aufsatz eingehend dargelegt worden ist, genügen rein ökonomische Überlegungen nicht, obschon diese — was die Schweiz anbelangt — nicht durchwegs zugunsten der EWG sprechen. Die politischen, historischen und psychologischen Komponenten, die Wertmaßstäbe, die der Bürger in sich trägt, sind hier vor allem entscheidend. Die «extreme Europabegeisterung» gewisser Leute, die unser Land in die EWG einschmelzen möchten, ist vielfach die Folge von Ressentiments, in allen Fällen jedoch die Konsequenz einer mangelnden eigenen heimatlichen Verwurzelung in Gemeinde und Kanton. Sie ist im weitern die Folge einer Verkennung der schweizerischen Eigenart bzw. der in unserm Land entwickelten politischen Lebensform. Da ihnen eine geistige und politische Heimat fehlt, projizieren diese Leute all ihre Wünsche und Sentiments auf ein «Großräumiges Europa », in welchem eine wachsende Zahl von Bürgern dann nicht mehr «zu Hause» sein wird.

All den Anhängern der EWG, die glauben, daß ein Beitritt der Schweiz und der andern OECE-Länder im Interesse der Stärkung der Einheit Europas wünschbar und notwendig ist, sei folgendes ins Stammbuch geschrieben: Wenn die supranationale Methode der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als die einzige Integrationsform in Europa anerkannt wird, wenn das einseitige Großraumdenken vorherrscht und die Ziele der auf dem dirigistisch-kollektivistischen Prinzip beruhenden EWG erreicht werden, die ihr von den ehrgeizigen Baumeistern gestellt sind, so ist es mehr als fraglich, ob dadurch die Stellung Europas gestärkt und die Vitalsituation seiner Bürger verbessert wird. Wird ein kollektivistischer Schmelztiegel geschaffen, der alles einebnet, normiert und standardisiert, werden die Kleinstaaten majorisiert und die Eigenart und Lebensformen der Regionen gleichgeschaltet, so wird im Gegenteil der Kern Europas entscheidend geschwächt. So wie die schweizerische Nationalidee, der schweizerische Staatswille, seine Stärke aus der Verschiedenartigkeit seiner Glieder und aus der Intensität der heimatlichen Verwurzelung des Bürgers in Gemeinde und Kanton zieht, so kann nur ein vielgestaltiges, föderalistisches, auf dem Prinzip der freiwilligen Kooperation souveräner Staaten beruhendes Europa, das der Differenziertheit seiner Glieder angemessen Rechnung trägt, widerstandsfähig und weniger anfällig gegenüber totalitären Ideen sein.

Wir sind uns bewußt, daß mit diesen Überlegungen die unentwegten Befürworter der EWG in der Schweiz, die nur die supranationale Methode als Integrationsform anerkennen, und alle, die vor lauter Europabegeisterung den Sinn für das Maß verloren haben, kaum überzeugt werden können. Es ist aber auch festzuhalten, daß diesen Kreisen kein nennenswerter Einfluß auf die politische Willensbildung in der Schweiz zukommt. Im weitern verdient die seit Jahrzehnten immer wieder gemachte Feststellung Erwähnung, wonach die meisten Schweizer Bürger, seien es die Bauern im Goms, in Safien, in Appenzell und im Emmental oder die Handwerker, Gewerbetreibenden, Unternehmer, Angestellten und Arbeiter in den Dörfern und Städten des Mittellandes und die Großzahl der Zeitungsleute — dank der verwirklichten direkten Demokratie und der langjährigen praktischen politischen Erfahrung in der Bäuert, in der Gemeinde und im Kanton — in politischer Hinsicht bedeutend klarer sehen als gewisse akademische Vertreter der politischen Wissenschaften.

Wird die schweizerische Eigenart auch durch eine lockere Integrationsform bedroht?

Wenn die schweizerische Eigenart, der föderalistische Staatsaufbau, die Gemeindeautonomie, die Verwurzelung in Heimatgemeinde, Wohngemeinde, Region und Kanton, das föderalistisch bestimmte Geschichts- und Lokalbewußtsein gefährdet wird, so besteht auch die Möglichkeit einer Aufweichung des schweizerischen Staatswillens. Die Bedrohung der schweizerischen Eigenart besteht heute zweifellos. Sie bestand von jeher, und es kommt nicht von ungefähr, daß Adolf Guggenbühl einmal geschrieben hat, daß der Igel eigentlich unser Wappentier sein sollte. Der Schweizer mußte seine Lebensform immer wieder gegen außen und gegen innen verteidigen. Die Ursachen der Bedrohung sind verschiedener Art. Sie können sowohl in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, in der Kulturpolitik, in einer forcierten und stürmisch durchgeführten Industrialisierung und in der Tendenz Zur Verstädterung als auch in starken Binnenwanderungen, die eine Entfremdung des Bürgers von der Heimatgemeinde und vielfach ein Herausreißen aus traditionellen Bindungen und bewährter sozialer Einbettung zur Folge haben, sowie in der eigentlichen Überfremdung liegen. Alle diese Faktoren können natürlich zusammenspielen und sich wechselseitig bedingen. Auch eine lockere Integrationsform kann den einen oder andern dieser Faktoren verstärken und damit zu einer gewissen Bedrohung der schweizerischen Lebensform beitragen. Es dürfte klar sein, daß eine Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik, die allzu zentralistisch aufgezogen wird, die dem Subsidiaritätsprinzip nicht oder nur ungenügend Rechnung trägt, die das Selbstverantwortungsbewußtsein und den Sparwillen des Bürgers untergräbt und die Bildung von persönlichem Eigentum und die individuelle Lebensplanung und -Vorsorge erschwert oder verunmöglicht, die Grundlagen und Voraussetzungen des schweizerischen Föderalismus unterhöhlt. Ob und inwieweit hier die lockere Integrationsform eine Entwicklung in dieser Richtung auslösen oder anregen kann, ist schwierig abzuschätzen. Es wird eher eine indirekte, eine Beeinflussung auf Umwegen zu erwarten sein.

Zweifellos muß damit gerechnet werden, daß die europäische Wirtschaftsintegration die politisch-soziologische und wirtschaftliche Entwicklung in der Schweiz in der Richtung einer Schwächung der föderalistischen Struktur bei gleichzeitiger Stärkung der Vereinheitlichungstendenzen beeinflussen wird. In der Wirtschaft werden Unternehmungszusammenschlüsse und größere Betriebseinheiten, also Konzentrationserscheinungen die Folge sein. Hand in Hand mit diesem Konzentrations- und Standardisierungsprozeß wird eine Verringerung des Produktionssortiments und eine gewisse soziologische Umschichtung und Veränderung in der Bevölkerung einhergehen. Der Anteil der Selbständigerwerbenden wird abnehmen, während die unselbständigen Existenzen entsprechend ansteigen werden. Es ist zu erwarten, daß die Entwicklung in der Richtung einer «Angestelltendemokratie» geht und daß die Zunahme der Wohndichte, die Verstädterung, das Zusammenrücken der Bevölkerungsmassen die Tendenz und die Anfälligkeit zur Vermassung verstärken werden. Diese Tendenzen bestehen zweifellos heute auch ohne lockere Integrationsform. Aber die Integration Europas, das Fortschreiten der internationalen Arbeitsteilung, wird zweifellos z» einer Beschleunigung dieses Prozesses führen. Damit werden auch die Binnenwanderungen intensiviert, wenn ihnen nicht durch eine Dezentralisierung der Industrie entgegengewirkt wird. Schließlich ist mit einer starken Zunahme der wirtschaftlichen und bevölkerungspolitischen Überfremdung zu rechnen, sofern nicht schon jetzt entsprechend kräftige Hebel dagegen in Bewegung gesetzt werden. Das Problem der Überfremdung wird sich im Zusammenhang mit der europäischen Integration verschärfen. Von dieser Seite her droht der schweizerischen Eigenart die größte Gefahr. Falls unser Land dem Prinzip der völligen Freizügigkeit der Arbeitskräfte innerhalb Europas bedingungslos zustimmen und die Niederlassungspolitik sehr liberal und großzügig handhaben würde, so müßte dies den Anfang des Untergangs der Schweizerischen Eidgenossenschaft bedeuten.

Die Schweiz ist ein kleines Land inmitten Europas, umringt von großen Nachbarn. Sie übt aus geographischen, politischen, wirtschaftlichen, sprachlichen und psychologischen Gründen eine starke Anziehungskraft aus. Gilt die völlige Freizügigkeit innerhalb einer großen Freihandelszone auch für die Schweiz, dann wird unser Land eine regelrechte, durchaus friedliche Invasion von Ausländern erleben. Diese Ausländer werden sich wirtschaftlich und geistig durchzusetzen suchen, was ganz natürlich ist. Die Schweizer im Ausland werden in ihren Gastländern, in Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien, nie eine Gefahr darstellen, da es sich — gemessen an der Zahl der Gesamtbevölkerung — stets nur um wenige handeln kann. 200 000 Schweizer in Deutschland bedeuten für unser nördliches Nachbarland kein Problem, hingegen 200 000 Deutsche in der Schweiz für uns Hier liegt der Unterschied. Unser föderalistischer, verschiedene Sprachen und Kulturen umfassender Kleinstaat hat einen ganz andern Maßstab anzulegen als Deutschland, Frankreich und Italien. Die 200 000 Deutschen könnten politisch und geistig niemals völlig assimiliert werden. Sie würden unserer in Jahrhunderten entwickelten einzigartigen Form des Zusammenlebens verständnislos gegenüberstehen. In kleineren Gruppen hingegen lassen sie sich — vor allem in Dörfern und kleinern Städten — sprachlich und geistig auf die Dauer ohne weiteres assimilieren. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß ein allzu rasches Wachstum der schweizerischen Wirtschaft, mitbedingt und mitverursacht durch die europäische Integration — abgesehen von den Auswirkungen eines beschleunigten Konzentrationsprozesses —,welches auf einem überdimensionierten Fremdarbeiterstand aufbaut, nicht im Interesse unserer bewährten politischen und soziologischen Lebensform sein kann. Es wäre für unsere Eigenstaatlichkeit auf die Dauer verhängnisvoll, wenn gewisse manuelle Arbeiten, wenn ganze berufliche Tätigkeiten nur noch von Ausländern durchgeführt, viele Stellungen allein von Fremdarbeitern versehen werden könnten. Schon jetzt ist der Bestand an unentbehrlichen ausländischen Mitarbeitern in der Landwirtschaft, in Handwerk, Gewerbe und Industrie außerordentlich hoch. Der Assimilierungskraft unseres kleinen Landes sind natürliche Grenzen gesetzt, die nicht ungestraft überschritten werden dürfen.

Die Schweiz war in den letzten hundert Jahren stets weltoffen und liberal. Dies gilt im allgemeinen auch in bezug auf die Niederlassung von Ausländern. Unser Land muß weiterhin weltoffen sein, in der Einwanderungspolitik jedoch einen Kompromiß zwischen Freiheit und Bindung erreichen, der geeignet ist, eine Überfremdung zu verhindern. Zahlreiche Fremde brachten uns in der Vergangenheit viel Wertvolles. Unzählige ließen sich assimilieren und wurden ausgezeichnete Schweizer. Allzu viele Einwanderer werden aber zwangsläufig eine geistige, wirtschaftliche und schließlich politisch-soziologische Überfremdung der Schweiz bewirken, die zu einer Unterhöhlung des schweizerischen Föderalismus und des schweizerischen Staatswillens führen muß. Dagegen gilt es sich — besonders auch im «Zeitalter der europäischen Integration» — mit allen Kräften zu wehren.

Das geschichtliche Bewußtsein muß gepflegt werden, zumal heute, wo immer Neues rasch sich herandrängt.

Max Huber


Erschienen: Schweizer Monatshefte : Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Kultur, Band (Jahr): 40 (1960-1961), Heft 5

  1. Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Die genannten Persönlichkeiten stehen nicht im geringsten im Verdacht, seinerzeit mit dem Dritten Reich sympathisiert zu haben.

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