
Schweiz und EU – wo bleibt das Individuum?
Sind Politiker vom Machervirus befallen, wollen sie Politik von oben nach unten durchsetzen. Doch echte Demokratie geht vom Individuum aus, von unten nach oben.
Im «Q» vom März 2025 kreuzten Thomas Cottier und René Roca die Klingen; sie stellen sich die Frage, was die Schweiz tun solle, um im heutigen Europa noch Schweiz sein zu können. Cottier plädiert für einen Beitritt, bemüht Begriffe wie Souveränität der Staaten, internationaler Föderalismus und Multi-Level-Governance. Roca hält nichts von einem Beitritt, argumentiert mit dem demokratisch verfassten Nationalstaat, den es zu stärken gelte.
Beide vergessen dabei komplett das Individuum und reden ausschliesslich vom Kollektiv, dessen Wohlergehen von den wohlmeinenden und fürsorglichen Repräsentanten gesteuert wird. In der Schweiz hingegen gehen wir vom Individuum aus, bezeichnen die Gesamtheit der (stimmberechtigen) Individuen als Souverän und geben ihnen mit dem Referendums- und dem Initiativrecht auch solide Instrumente in die Hand, um als Souverän zu wirken.
Die EU hingegen ist eine Demokratie von oben: Die Individuen dürfen alle vier Jahre die besagten Repräsentanten in die nationalen Parlamente und ins EU-Parlament wählen. Entscheiden dürfen diese Parlamentsmitglieder selbst sehr wenig; das tun die jeweiligen Partei- und Fraktionsvorstände – die Fraktionsmitglieder haben sich an die Fraktionsdisziplin zu halten und die Meinungen der Vorstände zu übernehmen. Mit der Konsequenz, dass diese Einheitsmeinung häufig schon am Tag nach der Wahl – wie in Deutschland soeben geschehen – zum Gegenteil dessen wird, was die eben Gewählten im Wahlkampf versprochen hatten.
Befallen vom Machervirus
Hinzu kommt, dass alle Exekutiven und – in einem geringeren Masse ‒ auch die Legislativen über kurz oder lang vom Machervirus befallen werden. Die Mitglieder dieser Gremien glauben, dass sie gewählt seien, um zu machen. Und dass nur derjenige, der mache, seine Wiederwahl sichere. So wachsen die Seitenzahlen der Vorschriftsbücher, die Zahl der Verwaltungsangestellten und die Staatsquote unaufhörlich.
Die Individuen in der EU können dagegen gar nichts unternehmen. Sie sehen sich dazu gezwungen, Jahre bis zur nächsten Wahl abzuwarten, sofern sie nicht schon vorher einsehen, dass ihre Meinung zu konkreten Fragen gar nichts zählt. Resignierend wenden sie sich dann von der Demokratie ab oder suchen das Heil im linken oder rechten Populismus, ohne zu realisieren, dass die Vertreter von «einfachen, volksnahen» Lösungen zumeist noch mehr Demokratie von oben veranstalten – bis die Demokratie durch die Diktatur der Obrigkeit abgelöst worden ist, die weiss, was dem Volk frommt.
«Die Individuen in der EU können dagegen gar nichts unternehmen. Sie sehen sich dazu gezwungen, Jahre bis zur nächsten Wahl abzuwarten,
sofern sie nicht schon vorher einsehen, dass ihre Meinung zu konkreten Fragen gar nichts zählt.»
Der Machervirus befällt selbstverständlich auch Exekutiven und Legislativen in der Schweiz. Nur haben wir immer noch ein gutes Heilmittel dagegen, das meistens schon präventiv wirkt wie ein Impfstoff: das Referendums- und Initiativrecht. Diese beiden Instrumente erlauben es den Stimmbürgern, ihr gesundes Misstrauen gegenüber den Machern in Exekutiven und Legislativen in konkrete Handlungen zu übersetzen, Unterschriften zu sammeln und Abstimmungen über Konkretes zu verlangen. Das ist das Spezielle an der Demokratie in der Schweiz: Sie hat einen grossen Anteil «von unten nach oben», erlaubt häufige Teilnahme während einer Legislatur, Einflussnahme auf konkrete Sachentscheide, befähigt die stimmberechtigten Individuen, Souverän zu sein.
EU-konform abstimmen
Diese Rechte der Individuen stehen heute in Konkurrenz zu wirtschaftlichen Vorteilen, die möglicherweise durch die neuen Verträge mit der EU entstehen könnten. Ohne den Inhalt der Verträge zu kennen, muss man davon ausgehen, dass bereits der initiale Souveränitätsverlust für die Individuen beträchtlich sein wird. Wir würden zwar formal immer noch abstimmen dürfen wie bisher, aber im Wissen, dass uns die EU bestraft, wenn wir nicht EU-konform abstimmen. Das wäre ein erster, folgenschwerer Schritt zur «Demokratie von oben» und damit zur schleichenden Entfremdung zwischen der politischen Welt der Gewählten und der Welt der Individuen. Wir dürfen unsere direkten Mitwirkungsrechte keinesfalls preisgeben und müssen unser gesundes Misstrauen gegenüber den Gewählten beibehalten.
«Wir würden zwar formal immer noch abstimmen dürfen wie bisher, aber im Wissen, dass uns die EU bestraft, wenn wir nicht
EU-konform abstimmen. Das wäre ein erster, folgenschwerer Schritt zur ‹Demokratie von oben›.»
Eigentlich müssten wir die EU überzeugen, ebenfalls Initiativ- und Referendumsrechte einzuführen. Wäre die EU für solche Rechte nicht zu gross? Wie die USA beweisen, können diese Rechte sehr wohl in grösseren Kollektiven die Individuen befähigen, Souverän zu sein. Kalifornier gehen nämlich ähnlich häufig wegen Sachfragen an die Urne wie Schweizer. Man kann weiter fragen: Wäre die EU nicht zu divers für solche Rechte? Aber wurden diese Rechte in der Schweiz nicht gerade eingeführt, um Brücken innerhalb der damaligen Diversität zu bauen?
Es bleibt dabei: Solange die EU Demokratie von oben nach unten lebt, sollten wir auf eine Zusammenarbeit in Unabhängigkeit setzen. Als Liberale sollten wir stets das Individuum feiern und nicht das Kollektiv.