Ein einiges Europa braucht eine gemeinsame Seele
Die EU ist nicht der erste Versuch, den Kontinent unter einem gemeinsamen Dach zu vereinigen. Sie scheint aber die Lektionen der Vergangenheit vergessen zu haben.

Der Traum von einem geeinten Europa begleitet unseren Kontinent seit vielen Jahrhunderten. Doch der Versuch, die heutige Europäische Union eindimensional mit übernationalen historischen Reichsbildungen wie dem Römischen Imperium, dem Karolingerreich oder dem Heiligen Römischen Reich zu vergleichen, greift zu kurz, denn er verkennt sowohl die Tiefe unserer Geschichte als auch die eigentliche Tragik der Gegenwart.
Weder das Römische Imperium noch das mittelalterliche Sacrum Imperium, also das Heilige Römische Reich, oder gar die Versuche Napoleons oder Hitlers, den Kontinent zu vereinen, sind blosse politische Konstrukte, die man einfach nebeneinanderstellen und nach den Kriterien «Erfolg» oder «Misserfolg» sezieren könnte. Denn diese Vorhaben waren Konsequenzen tiefgehender zivilisatorischer Prozesse, Ausdrücke einer jeweils einzigartigen geschichtlichen Konstellation und nicht zuletzt Symptome einer historischen Zielgerichtetheit, die sich eher zyklisch als linear entwickelt.
Versteinerung und innerer Verfall
Das kaiserzeitliche Rom (um 1. Jh. v. Chr.) war keinesfalls Ausgangspunkt oder Archetyp «Europas», sondern vielmehr Endpunkt der antiken Hochkultur: ein hochentwickelter, aber überreifer «Zivilisationsstaat», der eine Gesellschaft politisch vereinte, deren ermüdete kulturelle Seele in Versteinerung begriffen war. Seitdem die Republik im 1. Jh. v. Chr. in das Kaiserreich übergegangen und einen späten, letzten und weitgehend rückwärtsgewandten Höhepunkt erlebt hatte, brannte Rom innerlich zunehmend aus, wurde zentralistisch und technokratisch. Sein reicher Formenschatz fossilisierte und näherte sich bereits wieder primitiven Formen an, als das Christentum die Mittelmeerwelt revolutionierte und die Völkerwanderungen politische Strukturen hinwegfegten. Rom ist daher trotz seiner überwältigenden kulturellen Bedeutung für das Abendland weniger ein Vorläufer des modernen Europas als vielmehr ein mahnendes Beispiel dafür, dass jede auch noch so vitale Kultur früher oder später versteinert und dann in sich zusammenbricht.
Ganz anders das Heilige Römische Reich (10. bis 19. Jahrhundert), das eigentliche politische Gründungsmodell des christlichen Abendlands. Es entstand in einer Epoche, die ich als die dogmatische Phase der abendländischen Zivilisation beschreibe. Es war eine Zeit, in der Glaube, Transzendenz, christliche Werte und metaphysische Ordnung den Rahmen bildeten, der alle politischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen unserer Hochkultur zusammenhielt. Das Sacrum Imperium war daher Ausdruck einer Ordnung, in der weltliche und geistliche Macht, Vielfalt und Einheit, Nation und Abendland miteinander im Gleichgewicht standen – ein zutiefst holistisches Gebilde, das während des gesamten Mittelalters für mindestens ein halbes Jahrtausend einen höchst erfolgreichen Ordnungsrahmen für die Entwicklung Europas schuf. Was aus moderner Sicht die Schwäche des Reichs war, stellte in seinem eigenen Kontext eigentlich seine Stärke dar: Es war kein bürokratischer und politischer Zentralstaat, sondern ein informeller, auf interpersonelle Treue und Ehre gegründeter Raum, der getragen wurde von einem gemeinsamen Glauben und einer fast schon sakralen Reichsidee.
«Rom ist trotz seiner überwältigenden kulturellen Bedeutung für das Abendland weniger ein Vorläufer des modernen Europas als vielmehr ein mahnendes Beispiel dafür, dass jede auch noch so vitale Kultur früher oder später versteinert und dann in sich zusammenbricht.»
Undogmatische Phase
Doch mit dem Aufkommen des Renaissance-Humanismus und der Reformation ab dem 16. Jh. begann sich ein neues Paradigma im Abendland durchzusetzen: Der Mensch rückte an die Stelle Gottes, Wissenschaft verdrängte Theologie, Expansion ersetzte Innerlichkeit, die Klasse zerstörte den Stand und die Materie triumphierte über den Geist. Diese undogmatische Phase unserer Geschichte führte schrittweise zur Auflösung einer jeden Vorstellung von Einheit, Transzendenz und Tradition und somit auch zum Niedergang des Sacrum Imperium. Spätestens seit der Abdankung Karls V. 1556 und seinem Rückzug ins Kloster konnte das Heilige Römische Reich im Zeitalter des aufsteigenden Nationalstaats nicht mehr bestehen und schrumpfte zu dem, was es nie sein sollte: eine Vorform des deutschen Nationalstaats.
Die späteren Versuche, Europa durch Gewalt wieder zu vereinen – etwa durch Napoleon, Hitler, den Warschauer Pakt im Osten und die Nato im Westen –, mussten zwangsläufig scheitern, weil sie auf einer Ideologie aufbauten, die für die eigentliche Seele unserer Zivilisation keinen Raum liess. Ob es sich hierbei um den bürgerlichen Nationalismus, die Verbrechen der Rassenlehre, die Diktatur des Proletariats oder den ultrakapitalistischen Hedonismus handelt: Immer ging es um den Versuch, Einheit ohne Vielheit, Ordnung ohne Tradition, Macht ohne Transzendenz zu begründen. Ihre Fehler waren nicht «zu viel Europa», sondern zu wenig Seele, zu wenig Glaube, zu wenig Bindung an das Gewachsene.
«Der Mensch rückte an die Stelle Gottes, Wissenschaft verdrängte Theologie, Expansion ersetzte Innerlichkeit, die Klasse zerstörte den Stand und die Materie triumphierte über den Geist.»
Werte ohne Wurzeln
Auch die heutige EU ist ein Kind dieser undogmatischen Phase. Sie ist im Kern ein ökonomisches, technokratisches und bürokratisches Projekt, das sich auf universalistische Werte stützt. Dabei ignoriert sie aber die tieferen Schichten unserer Identität oder untergräbt diese sogar aktiv, wie etwa die «offizielle» Darstellung unserer Identität im Brüsseler «Haus der europäischen Geschichte» zeigt. Ihre oft beschworenen «europäischen Werte» – Demokratie, Menschenrechte, Toleranz, Pluralismus – sind historisch gesehen Früchte eines Baumes, dessen Wurzeln man grösstenteils schon gekappt hat: die vorderorientalische Glaubenswelt, die griechische Philosophie, die römische Ordnungsidee, die christliche Transzendenz und der mittelalterliche Reichsgedanken.
Die Lehre aus der Geschichte lautet deshalb nicht, dass politische Einigungsversuche Europas grundsätzlich scheitern müssen, sondern dass sie nur dann Bestand haben können, wenn sie auf einer transzendenten und traditionalen Substanz gründen. Wenn die EU also langfristig überleben will, muss sie zu einer rationalen Rückkehr zur Tradition finden. Nicht als Ausdruck der Rückwärtsgewandtheit, sondern als bewusste Entscheidung für das, was uns geformt hat, also als Ausdruck einer echten kulturellen Synthese.
Politische Einheit kultureller Vielfalt
Eine synthetische Phase in der dialektischen Entwicklung der abendländischen Geschichte würde somit versuchen, die geistliche Tiefe des Mittelalters mit dem kritischen Bewusstsein der Moderne zu verbinden. Nicht durch Gleichmacherei oder moralistischen Universalismus, sondern durch eine neue, bewusst gewählte Loyalität zur eigenen Zivilisation und ihrem christlichen Leitgedanken, der, ob wir es wollen oder nicht, jede Lebensregung unserer Hochkultur durchdrungen hat. Dieses abendländische Europa, wie ich es nenne, wäre daher aber auch weder Zentralstaat noch lose Freihandelszone, sondern eine politische Einheit in kultureller Vielfalt, getragen von einem gemeinsamen Ethos. Anstatt Europas Interessen, etwa bei Grenzschutz, Rohstoffen oder Verteidigung, nach aussen feige zu verraten und seine Vielheit nach innen zunehmend autoritär einzuschränken, braucht es das genaue Gegenteil: ein Europa, das unsere Zivilisation nach aussen verteidigt und nach innen hin frei entfalten lässt.
Ein im Geiste des 21. Jahrhunderts erneuertes Sacrum Imperium ist die einzige realistische Alternative, die wir haben, wenn wir sowohl den gegenwärtigen «woken» Zentralismus als auch die durchaus reale Gefahr eines erneuten Zerfallens in rund 30 Kleinstaaten verhindern wollen.