«Am Ende werden alle zu Frankreich»
Niall Ferguson, fotografiert von Daniel Jung.

«Am Ende werden alle zu Frankreich»

Der Zentralismus breite sich weltweit unaufhaltsam aus, sagt der britische Historiker. Er erklärt, warum er seine Kinder nicht nach Princeton schicken würde und welche Fehler Angela Merkel in den letzten 16 Jahren gemacht hat.

 

Herr Ferguson, zu Beginn der Pandemie sagte Henry Kissinger, sie werde «die Weltordnung für immer verändern». Stimmen Sie dem zu?

Es ist zwar noch etwas früh, um das zu sagen, aber Covid-19 hat die Qualitäten eines grossen historischen Wendepunkts, so wie beispielsweise der Erste Weltkrieg. Und das ist überraschend, denn nicht alle Pandemien waren so ein Einschnitt. In der neueren Geschichte am ähnlichsten zu Covid-19 hinsichtlich des Ausmasses und Charakters ist die Asiatische Grippe von 1957/58. Sie tötete eine Menge Menschen, hat die Geschichte aber nicht wirklich verändert. Wir müssen uns fragen: Warum ist Covid-19 anders, warum wird sich die Welt verändern? Und insbesondere: Warum wird sich die Weltordnung im Sinne Kissingers verändern?

Sagen Sie es mir.

Erstens gab es einen nur kurzen, aber sehr heftigen wirtschaftlichen Schock, wie es ihn bisher nur sehr selten gab in der Geschichte. Wichtiger ist aber, dass sich der Kalte Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und China verschärft hat. Weil die Pandemie von China ausging. Weil die Chinesen versuchten, die Schuld auf die Vereinigten Staaten abzuwälzen. Weil es dann einen Wettbewerb um Impfstoffe gab und wegen all der anderen Dinge, die die Pandemie verursacht hat. Heute befinden wir uns ganz klar in einem zweiten Kalten Krieg. Und in diesem Sinne hat Kissinger meiner Meinung nach Recht.

Die Welt der Information ist heute anders als früher, sie ist stark gespalten. Die Menschen glauben, was in ihrer Blase veröffentlicht wird, und bekämpfen das Gegenteil davon. Welchen Einfluss haben die neuen Medien auf diese Entwicklung?

Der Unterschied zwischen einer Pandemie in der Zeit des Buchdrucks, des terrestrischen Fernsehens und der sozialen Medien ist in der Tat sehr gross. 1957 erhielten die meisten Menschen ihre Informationen aus dem Radio, dem Fernsehen und den Zeitungen. Ich kann auch keine Spur einer Anti-Impf-Bewegung im Jahr 1957 finden. Als der Grippeimpfstoff auf den Markt kam, haben sich die Menschen genauso beeilt, sich ­impfen zu lassen, wie sie es mit dem Polioimpfstoff getan haben. Es war damals kein (partei)politisches Thema, sondern eine Frage der öffentlichen Gesundheit. Und in diesem Sinne wurde nicht einmal in den Nachrichten darüber berichtet. Obwohl wir aus den Statistiken wissen, dass viele Menschen krank waren und viele starben, ist es schwierig, etwas darüber zu finden in den Aufzeichnungen. Das Internet hat also sehr tiefgreifend etwas verändert. Ich warnte 2017 in meinem Buch «Türme und Plätze», dass wir einen hohen Preis dafür zahlen würden, wenn wir die Übernahme der öffentlichen Sphäre durch Netzwerkplatt­formen wie Facebook und Google nicht korrigieren würden. Und diesen Preis zahlen wir jetzt. Denn diese Plattformen haben zweifelsohne Desinformationen und Fehlinformationen über das Virus, über Impfstoffe und über vieles andere verbreitet.

«Ich bin dezidiert der Meinung, dass die Leute der Elite nicht nur in die

Kneipe, sondern auch in die Provinz gehen müssen. Verlassen Sie

die grossen Städte, verbringen Sie einige Zeit draussen, in den

kleinen Städten auf dem Land, dann werden Sie

Ihr eigenes Land besser verstehen.»

In diesen Tagen tauschen die Menschen in Telegramgruppen ihre Theorien über die heimlich entstehende totalitäre «neue Weltordnung» aus und sprechen über einen geplanten «Great Reset». Was denken Sie darüber? Halten Sie diese Theorien für völligen Unsinn?

Ich halte sie im grossen und ganzen für völligen Unsinn. Etwa die Hälfte der Menschen in den Vereinigten Staaten, die sich der Impfung verweigern, glauben, dass der Impfstoff einen Mikrochip enthält, mit dem die Bevölkerung unter Gedankenkontrolle gestellt werden soll. Auffällig in diesem Zusammenhang ist: Wenn Leute über Impfstoffe oder andere Aspekte der Pandemie theoretisieren und behaupten, sie seien Libertäre, und argumentieren, dass der Staat eine grosse Bedrohung…