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Diese EU ist undemokratisch, und sie schadet Europa
Hans-Georg Maaßen, fotografiert von Jens Fleischhauer.

Diese EU ist undemokratisch, und sie schadet Europa

Eine friedliche Zusammenarbeit europäischer Nationalstaaten ist unverzichtbar. Doch die Entscheidungsprozesse der Europäischen Union haben sich zu weit entfernt von der Kontrolle durch die Bürger.

Eine freiheitliche Demokratie ist kein Zweck an sich, sondern sie ist Mittel zum Zweck. Sie dient dazu, die Ausübung von Macht zu kontrollieren, und sie soll sicherstellen, dass Macht nicht im Interesse einer kleinen Gruppe, sondern in dem des gesamten Volkes ausgeübt wird. Sicherlich gibt es Regierungssysteme, die in der Theorie effizienter arbeiten als die freiheitliche Demokratie. Fragt man Experten und Beamte, so sind nicht wenige der Ansicht, dass eine Regierung ohne langatmige parlamentarische Debatten und Abstimmungen besser arbeiten könnte.

So denken nach meiner Erfahrung viele Beamte und Politiker auch in Brüssel. Sie verkennen aber, dass es den gutmeinenden Beamten und Politiker, der auch noch weiss, was für das Volk richtig ist, nur als Idealvorstellung in der Theorie gibt, und sie übersehen, dass Machtmissbrauch und eine gegen die Interessen des Volkes gerichtete Politik nur durch eine demokratische Kontrolle verhindert werden können.

Junckers Brüssel

Ich war in den 1990er- und 2000er-Jahren Vertreter Deutschlands in einer Reihe von Ratsarbeitsgruppen der Europäischen Union und hatte einen ziemlich guten Einblick in das Brüsseler Biotop der EU-Institutionen. Deshalb wunderte ich mich nicht über folgende Aussage des früheren EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker. Er sagte 1999 im «Spiegel»: «Wir beschliessen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein grosses Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.»

Juncker hatte wie kaum ein anderer vor ihm die Denkweise des Brüsseler Apparats repräsentiert. Seine Aussage als blosse Hybris der Brüsseler «Berufseuropäer» abzutun, die glauben, am besten zu wissen, was gut für die EU und ihre Bürger sei, verkennt die Ungeheuerlichkeit seiner Aussage: Er zeigte mit dieser Aussage die tiefe Verachtung gegenüber der freiheitlichen Demokratie und dem Souveränm; der Wähler soll ausgetrickst werden, um die eigenen politischen Ziele zu erreichen. Wer so denkt, nimmt die Attitüde des Hausherrn ein. Doch das ist er so wenig wie ein Ladenangestellter, der sich offen an der Ladenkasse seines Arbeitgebers bedient.

Ich musste über die Jahre feststellen, dass diese Geisteshaltung von vielen in den europäischen Institutionen, auch im Europäischen Parlament und im Europäischen Gerichtshof geteilt, wenn auch nicht geäussert wird. In diesen europäischen Institutionen arbeiten Personen, die sich im vielsprachigen weltoffenen europäischen Biotop zu Hause fühlen und die sich den Auftrag gegeben haben, ein grosses und gutes Europa zu schaffen. Die Probleme der einfachen Bürger in Deutschland, Italien oder Portugal sind für sie nicht nur geografisch weit weg. Aus ihrer Perspektive sind nationale und regionale Probleme kleine Fragen, die dem grossen Projekt der europäischen Integration im Wege stehen.

So wird die Kritik von Bürgern an der von der EU mitveranlassten millionenfachen Massenzuwanderung und über die dadurch entstehenden hohen Kosten als ein Jammern auf hohem Niveau angesehen, das nicht zu beachten sei – schliesslich gehe es den Bürgern in der EU unvergleichlich besser als den Migranten in den Herkunftsstaaten. Dieses Denken und Handeln in den Institutionen der EU wurde durch zwei Entwicklungen erst möglich gemacht: die mangelnde demokratische Kontrolle und die fortlaufende Verlagerung von Zuständigkeiten von der nationalen oder regionalen Ebene auf die EU.

Berufseuropäer mit Eigenleben

Demokratische Kontrolle der Machtausübung kann wirksam nur auf den untersten Organisationsebenen funktionieren. Je weiter die Entscheidungsprozesse vom Bürger entfernt sind und je undurchsichtiger das Repräsentationssystem im Parlament ist, desto grösser ist das Demokratie- und damit das Kontrolldefizit. Nicht ist das Europäische Parlament so weit vom Bürger entfernt, dass die meisten Bürger ihre «Volksvertreter» noch nicht einmal beim Namen kennen, mehr noch: Diese Einrichtung verdient nicht den Namen Parlament, weil es nur eingeschränkte Kontrollmöglichkeiten gegenüber den europäischen Institutionen hat und es als Versammlung von Abgeordneten weit davon entfernt ist, die Interessen der Wähler zu repräsentieren.

Das Europäische Parlament suggeriert lediglich parlamentarische Demokratie. So mussten die Wähler nach der Europawahl mitansehen, dass es unerheblich war, wie sie abstimmten, weil die Berufung der Kommissionspräsidentin und der Kommissare sowie die massgeblichen politischen Entscheidungen in Hinterzimmergesprächen der Minister oder Regierungschefs getroffen werden. Kurzum: Die demokratische Kontrolle der EU-Institutionen funktioniert nicht, weil sie nicht funktionieren kann. Und das ermöglicht dieses Eigenleben dieser Berufseuropäer.

Das Grundproblem wurde durch die fortlaufende Übertragung von nationalen Zuständigkeiten auf die EU verschärft. Wegen der mangelnden demokratischen Kontrolle der EU-Institutionen sollten ursprünglich nur wenige Aufgaben an die EU übertragen werden. Mit dem Subsidiaritätsprinzip, das besagt, dass die EU nur in Bereichen tätig werden darf, in denen die Ziele der Mitgliedstaaten auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene nicht ausreichend erreicht werden können, sollte eine weitreichende Übertragung von nationalen Zuständigkeiten auf die europäischen Institutionen verhindert werden. Dieses Prinzip ist faktisch von den europäischen Institutionen, aber auch von nationalen Regierungen ausgehebelt worden, indem oft unter fadenscheinigen Gründen immer mehr Zuständigkeiten an die EU abgegeben und damit der wirksamen demokratischen Kontrolle entzogen wurden.

Ein anschauliches Beispiel für diese masslose Zuständigkeitsausweitung, das jeden in der EU betrifft, ist die EU-Richtlinie über Einwegkunststoffe. Danach muss der Deckel von Einweggetränkeverpackungen fest mit dem Behältnis verbunden sein. Dass so etwas auf europäischer Ebene und nicht auf regionaler oder nationaler Ebene geregelt wird, ist ein krasser Verstoss gegen den Gedanken der Subsidiarität, denn ein zwingender europäischer Regelungsbedarf besteht nicht. Mit der Anbindung des Deckels demonstriert die EU die Macht über die Demokratie und über die menschliche Vernunft. Es ist der neue Gesslerhut der EU, den der Bürger jeden Tag grüssen muss, wenn er ein Getränk öffnet (und beim Einschenken verschüttet).

Diese formalen demokratischen Defizite führten zu schwerwiegenden tatsächlichen Fehlleistungen der EU-Institutionen zulasten der Bürger beispielsweise in der Migrationspolitik, beim Green Deal, der Energiepolitik, der Genderpolitik und bei der Haltung zum Ukrainekrieg. In weiten Bereichen vertreten die EU-Vertreter nicht mehr die Interessen der überwältigenden Mehrheit der Bürger. Die heutige EU ist an einem Punkt angelangt, an dem man feststellen muss, dass die selbstherrlichen und antidemokratischen Entscheidungen der Brüsseler Institutionen die Zukunft der EU und ihrer Mitgliedstaaten gefährden. Ein «Weiter so» darf es nicht geben.

«In weiten Bereichen vertreten die EU-Vertreter nicht mehr die Interessen der überwältigenden Mehrheit der Bürger.»

Zusammenarbeit in Europa geht auch ohne EU

Was ist aber die Alternative zur EU? Ich bin kein Herzenseuropäer, sondern ein Verstandeseuropäer. Ich halte eine enge europäische Zusammenarbeit für richtig und wichtig. Sie muss dazu dienen, dass Konflikte zwischen den europäischen Völkern nicht mehr militärisch ausgetragen werden. Frieden in Europa ist keine Selbstverständlichkeit. Jeder europäische Staat ist zu klein, als dass er alleine wirksam seine Interessen gegenüber den Weltmächten und Machtblöcken vertreten könnte. Also liegt es im Interesse der europäischen Nationen, dass sie nicht von anderen Mächten dominiert werden und dass sie nicht zwischen diesen Mächten zerrieben werden. Eine enge Zusammenarbeit ist deshalb notwendig, weil sie vernünftig ist.

«Ich bin kein Herzenseuropäer, sondern ein Verstandeseuropäer. Ich halte eine enge europäische Zusammenarbeit für richtig und wichtig.»

Die heutige EU ist aber ungeeignet, diese Ziele zu erreichen. Sie war weder in der Lage, die Masseneinwanderung nach Europa zu steuern und zu begrenzen, noch einen Frieden auf dem europäischen Kontinent zu vermitteln. Sie war im Gegenteil Motor vieler Fehlentwicklungen und Systemänderungen, weil sie nicht bereit war, im Interesse aller Mitgliedstaaten zu handeln.

Die EU ist das Problem und nicht die Lösung eines Problems. Sie ist nicht reformierbar, und sie schadet dem europäischen Gedanken einer demokratischen Zusammenarbeit der Nationen, sie diskreditiert durch undemokratische Entscheidungen den europäischen Gedanken und die europäische Solidarität. Wir brauchen einen europäischen Zusammenarbeitsmechanismus durch einen kompletten Neuanfang, damit Europa eine Zukunft hat und nicht Spielball von Weltmächten wird.

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