Eigentümer sind die besseren Menschen
Das Streben der Menschen nach Eigentum und Freiheit ist offensichtlich. Die beiden Werte sind eng miteinander verbunden.

Wer die Geschichte des Eigentums im Westen betrachtet, dem fallen zwei Dinge auf, die sich eigentlich nicht vertragen: Kaum eine Kultur hat das Eigentum dermassen verteufelt wie unsere christliche, wo schon Jesus von Nazareth die Auffassung vertrat: «Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.» Was, so erzählt der Evangelist Markus weiter, selbst die Jünger «in grossen Schrecken» versetzt haben soll: «Wer kann dann noch gerettet werden?», fragten sie. «Jesus sah sie an und sagte: ‹Für Menschen ist das unmöglich, aber nicht für Gott; denn für Gott ist alles möglich.›» (Markus 10, 25)
Dieser Schrecken deutet allerdings darauf hin, dass Jesus’ Diktum nicht der vorherrschenden Meinung entsprach, wie so viele seiner Positionen übrigens, wie sich das für einen religiösen Revolutionär auch gehört – doch was das Eigentum anbelangt, stellte er die Dinge geradezu auf den Kopf. Kaum jemand hatte einen so modernen und komplexen Eigentumsbegriff entwickelt wie die Juristen des Römischen Reiches, zu dessen indirekten Untertanen auch die Juden zur Zeit Jesu zählten. Kaum eine Zivilisation feierte Reichtum so darwinistisch und gewährte jenen, die reich waren, so viel Macht wie zuerst die römische Republik, dann das Imperium. Die Jünger hatten also Grund, an Jesus’ Verstand zu zweifeln, wenn sie das natürlich auch nie eingestanden hätten. Zumal schon die Antike kannte, was liberale Denker bis heute wissen: Erst das Eigentum macht den Menschen zu einem verantwortungsvollen, gewissenhaften Menschen. Aristoteles (384‒322 v. Chr.), der grosse griechische Philosoph, hielt deshalb fest: «Die Menschen tragen weitaus mehr Sorge zu dem, was ihr Eigentum ist, als zu dem, was der Allgemeinheit gehört.» Mit anderen Worten: Nur Eigentum schützt vor Verschwendung, Vernachlässigung und Zerstörung.
Menschen bevorzugen Besitz
Wir wurden diese Ambivalenz nie mehr los. Von Jesus bis Marx: Reiche mussten sich immer wieder anhören, sie seien zu reich, seien Blutsauger, Ausbeuter und Diebe. Arme taten alles, um reich zu werden, ohne sich darum zu kümmern, dass man sie dann gleichfalls als Blutsauger, Ausbeuter und Diebe beschimpfen würde. Wir lieben eben beides: Eigentum und die Kritik daran.
Dennoch widerlegt die Wirklichkeit die Nörgler. Wenn die Menschen die Wahl haben, dann ziehen sie das Eigentum vor. Nur wenige Bettelmönche, Hippies und ehrliche Kommunisten verzichteten je darauf – zu welchen Marx freilich nicht zu zählen ist. Er lebte stets auf grossem Fuss, was ihm nur möglich war dank regelmässigen, grosszügigen Zuwendungen seines Freundes und Mitstreiters Friedrich Engels. Dieser hatte Millionen geerbt; seine Familie besass eine Textilfabrik.
Warum aber sind Eigentümer bessere Menschen? Zwei Gründe.
Der erste liegt auf der Hand und wurde schon eingeführt: Weil sie sich um ihr Eigentum kümmern wie Väter und Mütter um ihre Kinder. Ohne diesen Antrieb, der nur besteht, solange das Eigentum (mehr oder weniger) gesichert bleibt, wäre keine grosse Zivilisation entstanden. So gesehen hätte es auch Jesus besser wissen müssen, dem ja allein das Alte Testament bekannt war, wo das siebte Gebot lautet: «Du sollst nicht stehlen.»
Man spricht in diesem Zusammenhang von der «Tragedy of the Commons», der Tragik der Allmende, einem treffenden Begriff, den der amerikanische Ökologe Garrett Hardin geprägt hat: Da eine Allmende allen gehört, übernutzt sie jeder Bauer. Er treibt zu viel Vieh zum Grasen aufs Feld, er schert sich nicht darum, dass der Boden sich erholen muss, er ruiniert, was ihm eben nur zu einem kleinen, kleinen Teil gehört. Who cares? Auf die Gegenwart gemünzt könnten wir geradeso gut von einer Tragik der öffentlichen Betonwand reden. Was scheinbar niemandem gehört, wird zum Opfer der meist unbegabten Graffitikünstler.
Wenn eine Kultur also mehr Wohlstand erzeugen will, dann erweist sich das Privateigentum als eine unabdingbare Voraussetzung: Warum soll ich mich sonst anstrengen, wenn mir die Früchte meiner Arbeit gleich weggenommen werden – oder immerhin ein wesentlicher Teil davon, wie etwa der Zehnten im Mittelalter? Warum soll ich als Unternehmer in eine neue Fabrik investieren, wenn mein Gewinn gleich weggesteuert wird? Warum soll ich mir um die Zukunft meines Dorfes oder meines Landes Sorgen machen, warum sie gegebenenfalls sogar militärisch verteidigen, wenn ich dort kein Land besitze, kein Haus habe oder sonst gar kein Eigentum, das in Gefahr geriete? Politisches Interesse, der Kampf für Mitsprache, die Freiheit: Sie sind vor allen Dingen erstrebenswert, wenn man Eigentum besitzt. Eigentum und Demokratie hängen eng zusammen. Das zeigt auch die Empirie. Und so kommen wir zum zweiten Grund, warum Eigentümer zu besseren Menschen werden.
«Arme taten alles, um reich zu werden, ohne sich darum zu kümmern, dass man sie dann gleichfalls als Blutsauger, Ausbeuter und Diebe beschimpfen würde. Wir lieben eben beides: Eigentum und die Kritik daran.»
Mittelalterliche Selbstverwaltung am Vierwaldstättersee
Nichts belegt dies vielleicht besser als die Geschichte der Republik Gersau, wie sie der Berner Historiker Peter Blickle in einem glänzenden Buch «Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten. Eine Geschichte der Freiheit in Deutschland» (München 2003) erzählt hat. Sie haben richtig gelesen: Da gab es am Vierwaldstättersee tatsächlich einmal eine Republik, die aus einem einzigen Dorf bestand und die in dieser Form Jahrhunderte überdauerte. 1390 gegründet, blieb die «alt-frye Republik Gersau», wie sie offiziell hiess, bis 1798 unabhängig, als sie der Kanton Schwyz schliesslich schluckte. Das kam so.
Ursprünglich, das heisst noch im 14. Jahrhundert, gehörte Gersau den Grafen von Habsburg und dem Kloster Muri, das von diesen gestiftet worden war und daher eng mit ihnen verbunden blieb. Doch bald kam es zu ständigem Stress in der Nachbarschaft von Gersau – ein Gebilde namens Eidgenossenschaft war herangewachsen, ein Zusammenschluss von unverschämten Bauern und sturen Handwerkern, denen es gelang, den Habsburgern, die sich damals anschickten, zu einer Weltmacht aufzusteigen, teils empfindliche (Morgarten, Sempach), teils lästige Niederlagen zuzufügen. Insgesamt 42 zwischen 1315 bis 1511. Die Habsburger siegten bloss sechs Mal.
Was die Eidgenossen vormachten, die Rebellion, in deren Verlauf die Habsburger und der übrige einheimische Adel immer mehr Herrschafts- und Eigentumsrechte einbüssten, ging an den Gersauern nicht spurlos vorüber. Doch winzig, wie ihr Dorf nun einmal war, zogen sie gewissermassen den kommerziellen Weg zur Freiheit vor, militärisch wäre das nichts geworden. In Gersau lebten ein paar Bauern und ein paar Fischer. Stattdessen kauften sie den Habsburgern und dem Kloster nach und nach sämtliche Rechte ab, wozu diese sich gerne bereit zeigten, aus Geldnot zum einen, aus Desinteresse zum andern. Hatten die Habsburger nicht gerade Österreich, die Steiermark, Kärnten und die Krain geerbt? Gersau oder Wien? Es war ein No-Brainer. Gersau zog aus der welthistorischen Ablenkung seinen Nutzen.
Am Ende, 1390, war Gersau frei. Wer hier wohnte (und ein Mann war), erhielt ein umfassendes Wahl- und Stimmrecht. Wer hier lebte, besass selber, was er betrieb, ob Bauernhof oder Fischereigeschäft. Das waren alles moderne Privateigentümer – ab 1390, und die politischen Rechte fielen ihnen zu, weil sie sich selbst organisieren mussten. Es gab keinen Fürsten mehr, der einen Vogt geschickt hätte, um die üblichen staatlichen Angelegenheiten zu regeln: ob Justiz, Verteidigung, Finanzen oder Schutz des Eigentums. Um die Anarchie abzuwenden, waren alle Gersauer gefragt. Jedermann war wählbar und musste das Amt annehmen: «Es herrscht eine Amtspflicht», schreibt Blickle, «die Autokephalie [Selbstherrschaft] duldet keine Drückeberger.» Ein Bündnisvertrag mit den Eidgenossen sichert die Verteidigung des Dorfes.
«Da gab es am Vierwaldstättersee tatsächlich einmal eine Republik, die aus einem einzigen Dorf bestand und die in dieser Form Jahrhunderte überdauerte.»
Wenn Gersau uns etwas lehrt, dann warum Eigentümer zu besseren Menschen werden, oder sagen wir es etwas unpolemischer: zu freieren Menschen. Blickle kommt zu diesem Schluss:
«Freiheit und Eigentum, so zeigt die Geschichte von Gersau im Spätmittelalter, sind die Grundlage von neuen Formen politischer Organisation und Verfassungsverhältnissen. Deren Charakter ist von den üblichen alteuropäischen Formen der Machtorganisation aufgrund adliger Qualität weit entfernt. Freiheit und Eigentum führen zwangsläufig zu Politiken der Freien und Eigentümer selbst. Der Grundriss der Moderne lässt sich im Mittelalter selten so klar erkennen wie in Gersau.»

der einstmals kleinsten Republik der Welt. Bild: Denise Gerth, Gersau Tourismus.
Privateigentum sucht nach Demokratie und politischen Freiheiten
Dabei blieb Gersau, wie bereits festgehalten, nicht allein. Die Alte Eidgenossenschaft sollte sich noch zu einer viel grösseren Republik entwickeln, der einzigen, die heute noch am Leben ist, ebenso Graubünden und das Wallis, und überall zeigt sich, was bis heute gilt – vielleicht nicht weltweit, aber doch im Westen auf jeden Fall: Die Menschen streben nach Eigentum und Freiheit, wann immer sie können. Sei das im Mittelalter in den Zentralalpen, sei das später in so gut wie allen Ländern Europas.
Gewiss, oft scheiterten sie, weil sie von König und Adel besiegt wurden oder die Kirche sie im Stich liess, doch gaben sie nie auf. Je sicherer und weiter verbreitet das Privateigentum wurde, und das war seit Napoleons Zeiten in ganz Westeuropa der Fall, desto dringlicher und unnachgiebiger verlangten die Menschen nach Demokratie und mehr politischen Freiheiten. Eigentum macht frei. Und meistens setzte sich zuerst das Privateigentum durch.
«Die Menschen streben nach Eigentum und Freiheit, wann immer sie können.»
Die Schweiz ist in dieser Hinsicht ein glückliches Land. So gut wie nirgendwo kennt man ein garantiertes Privateigentum für so lange, tatsächlich besteht es seit dem 15. Jahrhundert so gut wie in allen Regionen, ebenso verschwand bei uns im gleichen Zug und aus dem gleichen Grund schon zu jener Zeit die Leibeigenschaft. Wenn die Schweizer bald sprichwörtlich dafür berühmt waren, frei zu sein, dann stimmte das.
Und wer heute nicht merkt, dass jeder noch so kleine Eingriff ins Privateigentum – und davon erleben wir zu viele – auch die Demokratie untergräbt, der sollte sich wieder einmal der Geschichte von Gersau zuwenden. Eigentum macht uns zu besseren Menschen.