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Demokratie heisst den Gegner anerkennen

Die Demokratie kann nur dann funktionieren, wenn sich die Bürger als gleichwertig sehen. Das politische System der Schweiz trägt dieser Toleranz auf verschiedene Art Rechnung – es gibt aber auch Schwächen.

Demokratie heisst den Gegner anerkennen
Staatsschutzfiche von Max Frisch. Bild: Schweizerisches Bundesarchiv/Wikimedia.

Fast alle modernen westlichen Staaten bezeichnen sich und ihre Verfassungsordnungen als «demokratisch». Jedoch nehmen auch klar unfreiheitliche Staaten auf den Begriff der Demokratie Bezug. So war es etwa bei der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), so ist es im Falle der Demokratischen Republik Kongo oder der Demokratischen Volksrepublik Korea. Die genannten Länder sind nach unserem Verständnis offensichtlich keine Demokratien. In einer echten Demokratie sollte das «Volk» auch tatsächlich direkt oder indirekt die politische Richtung vorgeben.

Der «Volksentscheid» ist allerdings eine Annahme und keine Tatsache. Letztlich ist es eine Mehrheit von Abstimmenden, die über Wahlen und Abstimmungen entscheidet. Zum einen reicht für einen demokratischen Entscheid aus, wenn nur ein Teil des Volkes abstimmt. Andererseits entscheidet von diesem Teil wiederum nur eine Mehrheit. Ein einstimmiger Entscheid ist undenkbar.

Bleibend abweichende Meinungen sind Ausdruck der menschlichen Freiheit sowie der Verschiedenheit der Personen und ihrer Erfahrungshintergründe. Diese Verschiedenheit erfordert aber zumindest einen Entscheidungsmechanismus, der den demokratischen Gleichheitsanspruch wahrt. Hier kommt das Mehrheitsprinzip ins Spiel: Dieses erfüllt den Anspruch, wenn alle Stimmberechtigten im Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess über gleiche Chancen verfügen. Das Vorhandensein dieser politischen Chancengleichheit unterscheidet die freiheitliche Demokratie von autoritären, nur sogenannten Demokratien.

Toleranz heisst Zwang zur Auseinandersetzung

Politische Chancengleichheit kann sich nur dort entfalten, wo Stimmberechtigte als Teil einer politischen Mehrheit bereit sind hinzunehmen, dass diese Mehrheit nur vorübergehend ist. Die Mehrheit muss dulden, dass die Minderheit politische Anstrengungen unternimmt, um zur Mehrheit zu werden und den Mehrheitsentscheid umzustossen. Das Verhältnis von politischer Mehrheit und Minderheit muss also von politischer Toleranz geprägt sein. Toleranz kann dabei in unterschiedlichen Ausformungen, sogenannten Konzeptionen, vorliegen, wie namentlich Rainer Forst aufgezeigt hat.1 Je nach Form der politischen Toleranz kann das Prinzip der politischen Chancengleichheit unterschiedlich verwirklicht sein.2

Eine nur einseitige, minimale Toleranz genügt für eine Demokratie allerdings nicht. Wenn Toleranz nur einseitig von einem autoritären Herrscher oder einer Einheitspartei gewährt wird, kann diese auch einseitig wieder entzogen werden. Politische Minderheiten werden nur so lange nicht unterdrückt, wie der Machtanspruch nicht in Frage gestellt wird. Wird eine Minderheit stärker und politisch gefährlich, ist es mit der Toleranz schnell vorbei.

Politische Toleranz ist anspruchsvoll: Von allen möglichen Wegen und erarbeiteten Kompromissen wird sich am Ende nur eine Variante durchsetzen, die dann aber für alle gilt. Während bei religiösen oder gesellschaftlichen Unterschieden auch das Ausblenden von oder das Schweigen über Differenzen ein zielführender Weg sein kann, geht dies im politischen Bereich nicht: Im demokratischen Prozess besteht faktisch ein Zwang zur Auseinandersetzung mit abweichenden Meinungen. Der politische Gegner muss dafür zudem als gleichgestellter Gesprächsteilnehmer geduldet werden.

Die politische Toleranz zeigt sich – bezogen auf die politische Chancengleichheit – in drei Bereichen: 1. in der Art der Gleichheit, 2. im Umfang der individuellen Beteiligungschancen und 3. in der Ausgestaltung der politischen Entscheidungsverfahren.

Verbindung mit Gleichheit

Toleranz ist mitentscheidend dafür, welchen Personen das Stimmrecht zuerkannt wird. Die Aufnahme in diesen Kreis erfolgt nach gesetzlich festzulegenden Kriterien. Dabei ist zu beachten, dass gesellschaftlich integrierte, urteilsfähige Menschen langfristig nicht ausgeschlossen bleiben dürfen, wenn der demokratische Charakter eines Staates gewahrt bleiben soll. Problematisch ist umgekehrt das Stimmrecht für im Ausland lebende Bürgerinnen und Bürger. Diese nehmen als Aussenstehende einen Einfluss auf den Mehrheitsentscheid, obschon sie das Ergebnis nicht mittragen müssen. Forderungen nach einem erweiterten Einschluss in den Kreis der Stimmberechtigten wiederum sind nach dem Kriterium der Urteilsfähigkeit zu beurteilen: Wer fähig ist, über seinen Alltag selbst zu bestimmen, sollte auch vom politischen Leben nicht ausgeschlossen sein. Familien- oder Kinderstimmrechte und Stimmrechte für urteilsunfähige Erwachsene ermöglichen dagegen gesetzlichen Vertretern ein faktisches Mehrfachstimmrecht, was dem Gleichwertigkeitsanspruch der Stimmberechtigten widerspricht.

Der Grundsatz der Gleichwertigkeit leitet sich aus der Verbindung von Toleranz mit dem Grundsatz der Gleichheit ab. Die Verbindung bewirkt, dass wir unabhängig von allen tatsächlichen Unterschieden alle Stimmberechtigen als gleichwertig betrachten. Der Staat sichert diese Gleichwertigkeit durch die Anwendung des Mehrheitsprinzips. Ein demokratisches Verfahren darf nie dazu führen, dass eine Minderheit über eine Mehrheit regiert. Im schweizerischen Bundesstaat verhindern allerdings etwa das Erfordernis des doppelten Ständemehrs bei Verfassungsänderung und die gleiche Vertretung der Kantone im Ständerat die Durchsetzung eines Mehrheitsentscheids immer dann, wenn sich die Minderheitenkantone oder ihre Vertreter zu einem Ständemehr beziehungsweise einer Mehrheit von Ständeräten zusammenfinden. Gegen den Willen der Mehrheit der Stimmenden kann umgekehrt aber auch keine Minderheit ein Anliegen durchsetzen. Insofern lassen sich diese Einschränkungen des Mehrheitsprinzips mit dem Grundsatz der politischen Toleranz rechtfertigen. Allerdings kann in Frage gestellt werden, ob es sich bei den Bevölkerungen in den Kantonen auch heute noch um relevante Minderheiten handelt. Die Mobilität und die modernen Kommunikationsmöglichkeiten haben die Bedeutung der Kantonsgrenzen stark verringert. Von grosser Relevanz erscheinen heute vor allem noch sprachlich-regionale Verschiedenheiten. Eine Aktualisierung würde sich aus dem Blickwinkel politischer Chancengleichheit daher aufdrängen.

Vielfältige Beteiligungschancen

Eine besondere Herausforderung im politischen Wettbewerb ist der Umgang mit «Wahrheit». Das Mehrheitsprinzip funktioniert nur deshalb, weil es kein Instrument der Wahrheitsfindung ist. Der Mehrheitsentscheid setzt vielmehr voraus, dass es mehrere mögliche Entscheide gibt. Im Wettbewerb der Meinungen sollen sich alle Akteure gleichberechtigt zur Frage einbringen können, welcher Weg der beste sei. Dabei wird diese Diskussion nie ein idealer, herrschaftsfreier und nur vernünftiger Diskurs sein können. Alle Interessengruppen versuchen ihre Vorteile auszuspielen, um möglichst viele Stimmberechtigte auf ihre Seite zu ziehen. Unter dem Blickwinkel der Toleranz und der politischen Chancengleichheit ist wesentlich, dass viele und vielfältige Möglichkeiten der Willensbildung vorhanden sind, damit alle Stimmberechtigten auf die für sie geeignete Weise eine eigene Meinung bilden und dafür werben können.

Die Schweiz ist zudem wesentlich geprägt durch Referendums- und Initiativrechte auf allen drei staatlichen Ebenen. Relativ wenige Stimmberechtigte können sich gegen einen Mehrheitsentscheid des Parlamentes wehren oder eigene Anliegen einbringen. Die Folge davon ist in Bezug auf das Referendum, dass Behörden bei eigenen Vorlagen frühzeitig Rücksicht zumindest auf die Anliegen referendumsfähiger Minderheiten nehmen. Die Einbindung ist in der Schweiz durch das System der Konkordanz institutionalisiert. Diese weicht die Frontenstellung zwischen den politischen Polen auf und fördert den Kompromiss. Initiativrechte wiederum verbessern die Chancen von Minderheiten, ihre eigenen politischen Anliegen direkt einbringen zu können. Gerade dieses Instrument bewegt viele Menschen zur Beschäftigung mit der Politik. Viele Initiativen sind vor diesem Hintergrund kein Problem, sondern Ausdruck einer lebendigen Demokratie, in der die Stimmberechtigten an ihre dauernden und wiederkehrenden Einflusschancen glauben. Die Volksrechte stärken so die politische Toleranz und damit die Demokratie wesentlich.

Entscheidungsverfahren müssen chancengleich sein

Bei den politischen Entscheidungsverfahren verlangt politische Toleranz die Unparteilichkeit des Staates und der Verfahren. Letztere müssen so ausgestaltet sein, dass sie unabhängig von Personen und Meinungen nach den immer gleichen Regeln und Bedingungen ablaufen und enden. Der Staat muss die Einhaltung dieser chancengleichen Verfahrensregeln stets mit gleichen Massstäben durchsetzen.

Staatliche Organe und politische Mehrheiten können der Versuchung erliegen, chancengleiche Verfahrensregeln parteiisch zu verändern und Chancenungleichheiten beizubehalten. Die Wahlkreisgeometrie in den USA ist ein abschreckendes Beispiel. Aber auch in der Schweiz wirken Wahlverfahren verfälschend. So werden bei den Wahlen in den Nationalrat die grossen Parteien nicht nur durch die sehr kleinen Wahlkreise bevorteilt, sondern zusätzlich auch durch die Anwendung des Mandatsverteilungssystems nach Hagenbach-Bischoff. Dieses bevorzugt aufgrund des Abrundungsmechanismus systematisch grosse Parteien. Eine Anpassung wäre hier überfällig. Mit dem Doppelproporz («doppelter Pukelsheim») würde ein erprobtes Wahlverfahren zur Verfügung stehen, das die föderalistische Wahlkreiseinteilung mit dem Anspruch auf politische Chancengleichheit in Übereinstimmung bringt.

Schutz der Toleranz

Politische Toleranz ist Ausdruck gewachsener und gesellschaftlich verankerter Traditionen. Diese finden rechtlich Ausdruck in den festgesetzten Institutionen und Verfahren und stehen zu diesen in einer Wechselwirkung. Fest verankerte Traditionen gewährleisten, dass es für eine Gruppierung unmöglich oder zumindest stark erschwert wird, bestehende demokratische Verfahren und Einrichtungen in Frage zu stellen oder gar zu zerstören.3 Werden solche Traditionen der Toleranz nicht gepflegt oder gar lächerlich gemacht, hat dies gravierende Auswirkungen auf den Umgang mit politischen Gegnern. Der Sturm auf das Kapitol in Washington am 6. Januar 2021 zeigt deutlich auf, wie eine Demokratie ins Wanken geraten kann, wenn solche Toleranztraditionen politisch und gesellschaftlich geschwächt werden. Wenn ein wesentlicher Teil der Stimmberechtigten nicht mehr bereit ist, demokratische Institutionen und chancengleiche Entscheidungsverfahren mitzutragen, nützen auch die ausgeklügeltsten Vorkehrungen gegen ein Abgleiten in Intoleranz und Tyrannei nichts.

Auch die Schweiz war in Sachen Toleranz nicht immer eine Insel der Seligen: Die Aufdeckung der Fichenaffäre im Jahr 1989 zeigte, dass Hunderttausende von Überwachungsakten von Schweizerinnen und Schweizern angelegt worden waren, weil diese durch sozialistische, ökologische oder pazifistische Ansichten aufgefallen waren. Schlimmer noch: Tausende Schweizerinnen und Schweizer hatten als Gesinnungspolizei mitgewirkt. Die Überwindung dieser Intoleranz hat aber gesellschaftlich zu einem grösseren Bewusstsein für die Bedeutung politischer Toleranz geführt.

Letztlich sind alle Stimmberechtigten auf die Anerkennung ihrer politischen Gleichwertigkeit durch die anderen Stimmberechtigten angewiesen. Diese wechselseitige Abhängigkeit führt zu einem «Anerkennungsgeflecht», welches die Demokratie stabil hält. Politische Toleranz darf vor diesem Hintergrund aber nicht als ein Geschäft verstanden werden, das auf einem Anspruch auf Gegenseitigkeit beruht. Toleranz kann vom tolerierten Gegenüber zwar erhofft, nicht aber erzwungen werden. In der Politik gibt es daher Meinungen oder Gruppierungen, die ertragen werden müssen, auch wenn sie ausdrücklich abzulehnen oder gar zu verabscheuen sind.

Andrea Töndury, zvg.

Auch diese politische Toleranz muss aber eine Grenze finden, dann nämlich, wenn sie durch eine intolerante Minderheit ausgehebelt und aufgehoben werden könnte. Nicht tolerierbar ist daher, wenn eine politische Gruppierung versucht, die politische Macht verfassungswidrig an sich zu reissen. In solchen Fällen muss der Staat die demokratischen Verfahrensregeln mit allen gesetzmässigen und notwendigen Mitteln durchsetzen und die toleranten Personen schützen. Nur wenn ein solches Zusammenspiel von Toleranztradition, Selbstverständnis der Stimmberechtigten und staatlichem Schutz gelingt, steht die Demokratie auf einem sicheren Toleranzfundament.

  1. Rainer Forst: Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003.

  2. Siehe Andrea Töndury: Toleranz als Grundlage politischer Chancengleichheit. Eine ­ideengeschichtliche Spurensuche und Überlegungen mit Blick auf die schweizerische Verfassungsordnung. Zürich: Dike, 2017, S. 550 ff. zu den verschiedenen Ausformungen.

  3. Karl Popper: Die Paradoxien der Souveränität, 1945.

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