Demokratische Pioniere in den Bündner Tälern

Die Volksherrschaft in Graubünden schockierte in der frühen Neuzeit europäische Denker. Hier zeigte sich, dass Demokratie kein starres Konzept ist, sondern stetig weiterentwickelt werden muss.

Demokratische Pioniere in den Bündner Tälern
Die Darstellung eines unbekannten Karikaturisten um 1618 zeigt den Bündner Staatskörper innerlich zerstritten und von Korruption geprägt. Bild: Rätisches Museum, Chur.

 

Als ich, ein junger Historiker auf der Suche nach einem Thema für meine Dissertation, in der Sammlung alter Drucke der Bibliothek der Harvard University stöberte, stiess ich auf eine Flugschrift. Sie beschrieb und verteidigte das Strafgericht von Thusis, jene tumultartige Versammlung von Bündner Militärkompanien, den «Fähnli», aus fast allen Gemeinden der Republik der Drei Bünde im August 1618. Das selbsterklärte Ziel der versammelten Fähnli war es, der Korruption und den ausländischen Intrigen Einhalt zu gebieten, welche die Republik seit Generationen geplagt hätten. Sie erklärten sich zur obersten In­stanz der Bünde, verabschiedeten neue Gesetze zur Reform ihrer Republik und verurteilten Vertreter der mächtigen Familien Salis, Planta und anderer – die sogenannten «Grossen Hansen» – zu Geldstrafen oder Verbannung. Die Versammlung entsandte auch Truppen, um katholische Führer aus dem Veltlin zu ergreifen und sie vor Gericht zu stellen. Nicola Rusca, der Erzpriester von Sondrio, wurde von einem Strafgericht unter der Leitung reformierter Pfarrer zu Tode gefoltert. Unter den Pfarrern war auch der legendäre spätere Heerführer und Politiker Jörg Jenatsch.

In der Flugschrift, die 1618 veröffentlicht und in ganz Europa verbreitet wurde, wird das Vorgehen der Versammlung von Thusis damit verteidigt, dass in Graubünden «die Form unsers Regiments ist democratisch». Damit meinten sie, dass sie keinen anderen Herrn als Gott hätten und dass die Souveränität in den Händen von «unserem gemeinen Man, welcher Macht hat, dem Mehren nach … alle der hohen und minder Oberkeit gebührende Sachen zu verhandeln», sei.

Die Bedeutung von Gemeindeautonomie und direkter Demokratie zeigt sich in Graubünden bis heute. Artikel 65 der Kantonsverfassung legt fest: «Die Autonomie der Gemeinden ist gewährleistet.» Was verbindet die stürmischen Volksbewegungen und die republikanische Regierung Graubündens, die in der frühen Neuzeit entstanden ist, mit der konstitutionellen Demokratie Graubündens in der Gegenwart? Was machte die jeweilige Demokratie aus, wenn sie denn eine war?

Keine individuellen Rechte

Demokratie ist eine komplexe Idee. Um sie in der realen Welt von heute zu messen, berücksichtigt die Economist Intelligence Unit nicht weniger als 60 verschiedene Indikatoren, die Wahlen, bürgerliche Freiheiten, Regierungsfunktionen, politische Partizipation und politische Kultur messen. Einige zentrale Konzepte scheinen frühere und neuere Formen der Demokratie zu verbinden, während andere sie voneinander abgrenzen. Die Abwesenheit von erblicher Macht und die Bedeutung von Mehrheitsabstimmungen – Eigenheiten Graubündens sowohl im 17. Jahrhundert als auch heute – sind zentrale Merkmale von Demokratien im Laufe der Zeit, auch wenn die Entscheidung darüber, wer worüber abstimmen darf, dieses Kriterium stets verkompliziert hat. Damals wie heute beruht(e) die Autorität in einer Demokratie auf dem ausdrücklichen Willen des Volkes und nicht auf Status oder Reichtum – zumindest formell. Heute würden die meisten Denker den Rechtsstaat und die Gewährleistung individueller Rechte zu den Merkmalen von Demokratien zählen.

Den Vorrang des Rechts beanspruchten in der frühen Neuzeit allerdings auch Monarchien und Aristokratien. Der Rechtsstaat macht noch keine Demokratie aus. Vor allem aber war das Konzept der individuellen Rechte in Graubünden – und in Europa – bis zur Französischen Revolution fast völlig abwesend und weder in der politischen Realität noch in der politischen Theorie präsent.

Frühneuzeitliche Schriftsteller wie der Franzose Jean Bodin stimmten zwar der Feststellung zu, dass Graubünden demokratisch war, hielten diese Staatsform aber für skandalös und chaotisch – eine Meinung, die in weiten Teilen Europas durch die Bündner Wirren und das Strafgericht von Thusis verstärkt wurde. In England benutzten Intellektuelle, die im 16. und 17. Jahrhundert über das Wesen ihres Staates und ihrer Kirche debattierten, den Vorwurf der «Demokratie», um ihre Gegner zu verleumden, und hielten die Schweiz für ein verhängnisvolles Beispiel einer gefährlichen Pöbelherrschaft. Der Bündner Chronist Fortunat von Juvalta stimmte dieser Einschätzung im frühen 17. Jahrhundert zu und schrieb, dass «von dem…