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Meine Vision: Subsidiär, regional, neutral und sozial

Die EU-Staaten haben nach Dekaden einer missbräuchlichen Beziehung mit den USA den Frieden verspielt. Sie sind daher nicht würdig, das Europa des 21. Jahrhunderts zu begründen.

Meine Vision: Subsidiär, regional, neutral und sozial
Europakarte in Form einer Jungfrau. Bild: Heinrich Bünting (1545–1606), Wikimedia Commons, gemeinfrei.

Schon einmal musste Europa aus dem eigenen Versagen heraus wieder aufgebaut werden. Das war 1949, als die letzte europäische Ordnung gezimmert wurde. Versagt hat das heutige EU-Europa deshalb, weil die europäische Sicherheitsarchitektur, die 1989 nach dem Fall der Mauer und der Sowjetunion mit der Charta von Paris 1990 entstehen sollte, nie umgesetzt wurde, weil die Handreichung mit Russland nicht erfolgte. Damit nicht genug. Versagen auch, weil der europäische Westen sich als Sieger der Geschichte wähnte und von der Nato verführen liess. Weil die EU und ihre Staaten heute nicht mehr als verlässlicher Vertragspartner gelten können und zum Beispiel die Minsker Abkommen über die Ukraine gebrochen haben. Versagen auch, weil die Konfiszierung russischer Vermögen im Ausland völkerrechtswidrig und die seit 2022 inszenierte Russophobie bis hin zu Bühnenverboten für russische Künstler des europäischen Geistes unwürdig ist. Versagt, weil in der EU keine Stimme für Diplomatie zu hören war. Die Liste ist lang.

Verkannte Bürger Europas

Hochmut kommt vor dem Fall! Bloss waren es diesmal nicht irgendwelche Nazis, die man für die Zerrüttung des europäischen Kontinents verantwortlich machen kann, sondern die Regierungen von EU-Staaten. Kurz: ein liberaler Westen, der sich überschätzt hat und Krieg spielen wollte, obgleich die EU ein Friedensprojekt war. Mit dieser politischen Ketzerei hat die EU ihre Geschichte des letzten Jahrhunderts verraten. Die Kriegsfolgen werden noch lange auf dem europäischen Kontinent lasten. In der Konsequenz wird man das politische Schicksal Europas in Zukunft weder der EU noch den EU-Staaten, die sie konstitutiv tragen, anvertrauen können, sondern man wird sich an die europäischen Bürger als eigentlichem Souverän erinnern müssen, die im politischen System der EU verkannt werden.

Es ist an der Zeit zu erkennen, dass man sich mit den legalen, aber nicht legitimen Sui-generis-Strukturen der EU 75 Jahre institutionell verlaufen hat, dass die europäischen Bürger, die der eigentliche Souverän im politischen System der EU sind, verkannt werden. Europa muss deswegen von Grund auf demokratisiert und neu gedacht werden. Und zwar als eine Art grosse Schweiz: subsidiär, regional, dezentral, neutral und sozial. Starke Regionen, die ein Europa E Pluribus Unum tragen: kulturell vielfältig, aber im Recht geeint.

«Europa muss von Grund auf demokratisiert und neu gedacht werden. Und zwar als eine Art grosse Schweiz.»

Es gab immer wieder vernünftige Ansätze. Zum Beispiel die europäischen Gründungstexte aus der letzten (Nach)kriegszeit: das antifaschistische Manifest von Ventotene von 1941, das ein soziales, postimperiales, nachnationales Bürgereuropa mit den Russen forderte und das jüngst Protestierende bei ihren Anti-Kriegs-Demonstrationen im März 2025 in Italien unter den Armen trugen, oder das Hertensteiner Programm von 1946, entstanden in der Schweiz, das eine föderierte Union Europa begründen wollte. Sie dokumentieren, dass die europäischen Bürger ein Europa wünschen, dessen politische Strukturen letztlich nicht nationalstaatlicher Steuerung unterworfen sind. Diese Texte sind von bestechender Aktualität, wenn man Europa wirklich demokratisch organisieren will.

Europa muss konsequenterweise seine Missbrauchsbeziehung mit den USA aufarbeiten, und das ist das Allerschwierigste. Europa muss erkennen, dass es in der transatlantischen Umarmung, in der es sich – Trump hin oder her – immer noch befindet, nicht souverän und nicht emanzipiert sein kann. Deswegen dürfte Europa eine eigenständige Rolle in der multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts verwehrt bleiben. Ob Europa eine solche Rolle will, ist die Frage, die jetzt auf dem Tisch liegt.

2034 feiert die älteste Karte Europas (von 1534) ihr 500-Jahr-Jubiläum; die Karte zeigt den Kontinent allegorisch als Frauengestalt, den Kopf leicht in den Atlantik geneigt, mit beiden Füssen auf russischem Boden stehend. Europa hat bis dahin noch knapp zehn Jahre Zeit, sie sich anzuschauen und darüber zu meditieren, was es einmal war und was es künftig sein will.

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