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Die Schweiz muss Respekt für ihr Staatswesen einfordern
Paul Widmer, zvg.

Die Schweiz muss Respekt für ihr Staatswesen einfordern

Das vorliegende Rahmenabkommen mit der EU weist grundlegende Mängel auf. Mit zwei chirurgischen Eingriffen lässt es sich retten.

 

Das Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union (EU) wird im wesentlichen von einer einzigen Frage beherrscht: Wie kann die Schweiz die Beziehungen gestalten, ohne Souveränität und Wohlstand zu gefährden? Ginge es allein um die Souveränität, wüsste man, was zu tun ist: alle Angebote aus Brüssel ablehnen, die unsere Souveränität zu beschneiden drohen. Und ginge es allein um den Wohlstand, wäre auch klar, was man tun müsste: alle Verpflichtungen eingehen, die unseren Wohlstand mehren. Es ist die Gemengelage von zwei verschiedenen Zwecken, die Probleme schafft. Dieses Dilemma stellt sich freilich nicht nur im Verhältnis zur EU, sondern in der gesamten Aussenpolitik. In den Beziehungen zur EU ist es aber viel akuter, weil nur dort supra­nationale Zwänge mitspielen.

Souveränitäts- und Demokratieverlust

Staaten regeln üblicherweise den Verkehr untereinander mit zwischenstaatlichen Mitteln, vor allem mit Verträgen. Jeder Staat entscheidet selbst, inwieweit er sich zu etwas verpflichten will. Denn er ist souverän. So steht es auch in der UNO-Charta. In der Praxis freilich ist kein Staat absolut souverän. In einer interdependenten Welt hängt jeder irgendwie von anderen ab. Doch in der Theorie wird zumindest der Anschein von Souveränität gewahrt.

Diesem Regime versetzte die Globalisierung einen empfind­lichen Schlag. Selbsternannte Machtgruppen wie die G20 oder multinationale Konzerne fällen jenseits aller Grenzen wichtige Entscheide. Sie kümmern sich kaum um Verträge. Die kleineren Staaten werden nicht um ihre Meinung gefragt. Sie werden geschubst und müssen parieren, ob sie wollen oder nicht. Die Globalisierung bedeutet meistens einen wirtschaftlichen Gewinn auf Kosten der Souveränität.

Noch viel einschneidender sind supranationale Eingriffe. In diesem Fall treten Staaten Kompetenzen an eine überstaatliche Institution ab. Allerdings gibt es kaum solche Einrichtungen – ausser der EU. Und selbst sie ist ein hybrides Gebilde: teils zwischenstaatlich, teils suprastaatlich aufgebaut. In der Aussen- und Sicherheitspolitik herrscht die zwischenstaatliche Zusammenarbeit vor, in der Wirtschaftspolitik oder der Personenfreizügigkeit dagegen suprastaatliche Regelungen. Kommt es bei letzteren zu einem Konflikt zwischen nationaler und supranationaler Rechtsordnung, bricht das supranationale Recht das nationale.

Eine solche Teilentmachtung der Mitgliedsstaaten bedeutet jedoch nicht nur einen Souveränitätsverlust. Sie führt auch zu einem Demokratieverlust. Werden Bereiche der nationalen Selbstbestimmung entzogen, verlieren die Bürger Mitspracherechte. Auf höherer Ebene können sie viel weniger mitreden als im eigenen Staat. Bürgerrechte und Entscheidungsprozesse werden entkoppelt. Das Fazit: Der Nationalstaat ist immer noch der Ort, wo die Demokratie verankert ist. Wird er geschwächt, verliert auch die Demokratie.

Der bilaterale Weg als Verlegenheitslösung

Einen derartigen Souveränitäts- und Demokratieverlust wollte die Schweiz in ihren Beziehungen zur EU nach Möglichkeit vermeiden. Deshalb versuchte und versucht sie die Zusammenarbeit mit der EU vertraglich auf bilateralem Weg zu vertiefen. Grundlegend ist dabei das Freihandelsabkommen von 1972. Es schuf eine Freihandelszone, die zwei Drittel unserer Einfuhren und die Hälfte unserer Ausfuhren erfasst. Eine weitergehende institutionelle Integration lehnten Volk und Stände in der Abstimmung zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) 1992 ab. Daher setzte der Bundesrat notgedrungen auf eine Fortsetzung der bilateralen Verhandlungen. Er schloss bisher über hundert Verträge, namentlich die Bilateralen I (1999) und II (2004). Mit den fünf Marktzugangsabkommen (Personenfreizügigkeit, Landverkehr, Luftverkehr, technische Handelshemmnisse und Landwirtschaft) aus den Bilateralen I erhielt die Schweiz einen grosszügigen Zugang zum europäischen Binnenmarkt.

Dieses Vertragsregime funktioniert aus Schweizer Sicht recht gut. Es ergeben sich nur wenige Probleme, am ehesten mit der Personenfreizügigkeit. Denn die Schweiz ist mit ihrem hohen Lohngefüge und dem ausgebauten Sozialwesen für Arbeitskräfte aus dem EU-Raum attraktiv. Sie verzeichnet eine starke Zuwanderung. Daher wären gewisse Schutzklauseln wünschenswert. Brüssel jedoch erachtet die Personenfreizügigkeit als eine der vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes (freier Verkehr von Waren, Personen, Kapital und Dienstleistungen) und ist nicht bereit, irgendwelche Abstriche an den Verpflichtungen zuzulassen.

Weniger zufrieden mit dem bestehenden Regime ist die EU. Dass sie überhaupt Hand bot zu den bilateralen Verhandlungen, hat vor allem einen Grund: Nach dem EWR-Nein glaubte sie, die Schweiz würde über kurz oder lang der EU doch noch beitreten. Die Verträge sollten somit bloss eine Übergangslösung sein. Als die Beitrittsoption jedoch in der Schweiz zunehmend an Unterstützung verlor, änderte die EU ihre Haltung. Seit 2009 fordert sie mehr inhaltliche Übereinstimmung (Homogenität) des Schweizer Rechts mit dem EU-Recht. Sie kündete an, neue Marktzugangsabkommen mit der Schweiz, etwa über den Stromverkehr, nur noch abzuschliessen, wenn die Homogenität mit einem institutionellen Rahmenabkommen (InstA) garantiert wird und dieses auch für die schon bestehenden Marktzugangsabkommen Anwendung findet.

Ein InstA sollte zweierlei sicherstellen: erstens, dass die Schweiz neues EU-Recht laufend oder dynamisch übernimmt; zweitens, dass sich die Schweiz auf ein Verfahren zur Streitbeilegung verpflichtet, in welchem die Rechtsauslegung durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH), wann immer EU-Recht betroffen ist, verbindlich ist. Nach langen Vorgesprächen begannen 2014 die Verhandlungen, die zum vorliegenden Entwurf für ein Rahmenabkommen führten.

Dass die EU auf Homogenität pocht, ist verständlich. Ansonsten könnten Schlupflöcher entstehen, welche das Nichtmitgliedsland Schweiz wettbewerbspolitisch in eine vorteilhaftere Lage versetzten als die Mitglieder des Binnenmarktes. Aber die Schweiz würde mit den zur Sicherstellung der Homogenität vorgeschlagenen Verfahren in Schwierigkeiten geraten. Würde sie die beiden Hauptforderungen vorbehaltlos akzeptieren, erlitte sie einen irreparablen Souveränitäts- und Demokratieverlust.

Nun mag man einwenden, man solle die Lage nicht dramatisieren. Vergleichbare Länder wie Österreich oder Schweden bewiesen, dass sie ihre Unabhängigkeit auch als EU-Mitglieder wahren könnten. Eine solche Argumentation übersieht etwas Wesentliches. Die Schweiz ist, auch wenn dies viele ins Lächerliche ziehen, in ihrem Staatsaufbau ein Sonderfall. Allein auf weiter Flur ist sie ein Staat mit starken direktdemokratischen Rechten. Das hat grosse Auswirkungen. Die Entscheidungsprozesse führen in der EU von oben nach unten, in der Schweiz vielfach von unten nach oben. Eine feine föderalistische Verästelung und eine starke Gemeindeautonomie ermöglichen dem Bürger, sich intensiv am staatlichen Leben zu beteiligen. Deshalb geniesst er mehr politische Freiheit als die Bürger in anderen Ländern. Österreich und Schweden sind gestandene parlamentarische Demokratien. Die beiden Länder bilden indes nicht wie die Schweiz, um mit dem französischen Intellektuellen Jacques Attali zu sprechen, eine direktdemokratische Alternative zu den parlamentarischen Systemen.

Das helvetische Dilemma ist lösbar

Erinnern wir uns an den ersten Satz dieses Beitrags: Die Schweiz muss ihre Souveränität und ihren Wohlstand schützen. Der Bundesrat sollte daher im Interesse der Souveränität das InstA ablehnen und im Interesse des Wohlstands annehmen. Praktisch heisst das: Er muss auf Neuverhandlungen bestehen und eine bessere Balance zwischen den beiden Zwecken herstellen. Denn ein Rahmenabkommen macht durchaus Sinn – aber nicht ein Vertrag, in dem die umfassende Mitbestimmung der Bürger und die hohe Legitimität unserer Demokratie auf der Strecke bleiben.

Der Bundesrat hat drei Probleme identifiziert, die einer Klärung bedürfen: den Lohnschutz, die Unionsbürgerrichtlinie und die staatlichen Beihilfen. Dass die Regierung diese Mängel erkannt hat, ist erfreulich. Doch eine Lösung nur dieser Streitpunkte käme einer Symptombehandlung gleich. Denn mit der dynamischen Rechtsübernahme im Bereich der Marktzugangsabkommen verpflichtet sich die Schweiz zu einem Systemwechsel. Das bisher geltende Verfahren ist – mit ganz wenigen Ausnahmen – statisch angelegt. Es besteht keine Pflicht zur ständigen Anpassung der Abkommen. Das neue Verfahren dagegen wäre dynamisch. Im vorliegenden Abkommen besteht diese Pflicht. Das bedeutet, dass die Schweiz in einem nicht vorhersehbaren Ausmass neue Rechtsakte übernehmen muss, zum Beispiel wenn die EU eine neue Verordnung zu gentechnisch verändertem Saatgut beschliesst oder die Entsenderichtlinien ein weiteres Mal abändert.

Die Übernahme von neuem EU-Recht dürfte in den allermeisten Fällen problemlos verlaufen. Doch die Knacknuss liegt im Streitfall. Können sich die beiden Parteien nicht einigen, entscheidet ein spezielles Schiedsgericht. Doch dieses muss, wenn EU-Recht tangiert ist, den Fall dem EuGH vorlegen und ist an dessen Auslegung gebunden. Faktisch ist die EU somit Kläger und Richter: Kläger durch die EU-Kommission, Richter durch den EuGH. Das sogenannte Schiedsgericht dagegen kann im Falle einer Vertragsverletzung nur beurteilen, ob die Ausgleichsmassnahmen angemessen sind. Eine derartige Einseitigkeit ist für keinen souveränen Staat, der etwas auf sich hält, akzeptabel.

Der EuGH ist ein angesehenes Gericht. Aber er ist das Gericht einer Partei. Er ist nicht neutral – er kann es gar nicht sein. Als Organ der Europäischen Union ist der Gerichtshof durch den EU-Vertrag gehalten, sich für eine immer engere Union einzusetzen. Und dass er seine Kompetenzen grosszügig, ja mitunter zu grosszügig auslegt, wurde kürzlich in einem historischen Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts, in dem es um die milliardenschweren Staatsanleihenkäufe der Europäischen Zentralbank ging, beanstandet.

«In der Praxis freilich ist kein Staat absolut souverän.

In einer interdependenten Welt hängt jeder

irgendwie von anderen ab.»

Keine Anbindung ans EU-Gericht

Meines Erachtens könnte man das Rahmenabkommen mit zwei chirurgischen Eingriffen retten. Der eine müsste bei der dynamischen Rechtsübernahme mit einer sinnvollen Opting-out-Klausel ansetzen, der andere beim Schiedsgericht.

Konkret sähe das so aus: Erstens muss die Schweiz in Ausnahmefällen die Übernahme von EU-Recht ablehnen können. So ist das schon im InstA vorgesehen. Doch für dieses Privileg muss die Schweiz, wie ebenfalls im InstA vorgesehen, einen Preis bezahlen. Das ist recht und billig. Wer Sonderrechte will, soll dafür bezahlen. Das InstA spricht von Ausgleichsmassnahmen. Nichts dagegen. Der wunde Punkt ist die Art der Massnahmen. Diese können materieller Natur sein. Das ist in Ordnung. Oder sie können verfahrensrechtlicher Natur sein. Und das ist nicht in Ordnung.

Wenn die EU zum Ausgleich einen Vertrag oder – in Verbindung mit der unseligen Guillotineklausel aus den Bilateralen I – mehrere Verträge suspendieren kann, verkommt das Opting-out zur Farce. In einer eidgenössischen Volksabstimmung ginge es dann kaum noch um Sachfragen, beispielsweise ob man gentechnisch verändertes Saatgut zulassen wolle, sondern um die Frage, ob die Schweiz die bilateralen Beziehungen mit der EU fortsetzen wolle oder nicht. Der Stimmbürger hätte nur noch eine destruktive Wahl nach dem Motto «Vogel friss oder stirb». Das darf nicht sein. Deshalb müssen wir verlangen, dass die EU auf Vertragssuspendierungen verzichtet. Die Ausgleichsmassnahmen dürfen nur materieller Natur sein, beispielsweise finanzielle Entschädigungen oder vergleichbare Retorsionsmassnahmen. Das ist übrigens auch das Verfahren, das die Welthandelsorganisation (WTO) bei der Streitbeilegung anwendet.

Zweitens muss die Anbindung des Schiedsgerichts an den EuGH gestrichen werden. Streitigkeiten soll man, wie im InstA vorgesehen, zuerst in einem gemeinsamen Ausschuss besprechen. Kann man sie nicht lösen, soll, wie auch im InstA vorgesehen, das gemeinsam eingesetzte Schiedsgericht entscheiden. Damit hat das Verfahren sein Bewenden. Es erfolgt keine Auslegung durch das EU-Gericht. Sicher, ein solches Vorgehen würde dem EU-Wunsch nach möglichst vollständiger Homogenität in der Rechtsauslegung und Rechtsanwendung nicht ganz gerecht. Aber die EU sollte auch nicht allzu puristische Massstäbe anlegen. Selbst im EWR-Vertrag sind Schutzklauseln für besondere Situationen in den Vertragsstaaten vorgesehen.

Schliesslich gibt es noch eine weitere Schwachstelle im InstA. Der Vertrag enthält im Anhang eine gemeinsame Erklärung zum Freihandelsabkommen. Beide Seiten verpflichten sich, bald Verhandlungen über eine Modernisierung dieses mit Abstand wichtigsten bilateralen Abkommens aufzunehmen. Gewiss, eine Modernisierung ist wünschenswert, eine Unterstellung unter das Rahmenabkommen aber nicht. Eine solche Regelung würde tief in unseren föderalistischen Staatsaufbau eingreifen, namentlich bei den staatlichen Beihilfen. Denn die Kantone unterstützen vieles, von den Kantonalbanken über die Gebäudeversicherung bis zu Vergünstigungen für Unternehmen. Ausserdem dürfte die Schweiz keinen Handelsstreit mit der EU mehr vor die WTO bringen. Alle Fälle müssten nach dem im InstA festgelegten Verfahren geregelt werden.

Substanzielle Nachverhandlungen

Wie soll man substanzielle Nachverhandlungen beginnen? Als erstes sollte der Bundesrat mit Brüssel nochmals über Grundsätzliches reden und mit einer hochrangigen Delegation die Eigentümlichkeit unseres Staatswesens erklären. Das ist bitter nötig. In der Präambel zum vorliegenden Entwurf steht, die Beteiligung der Schweiz am EU-Binnenmarkt solle «unter Wahrung der Grundsätze der direkten Demokratie und des Föderalismus» erfolgen. Genau das ist es, was die Schweiz will – und nicht, wie so oft unterstellt, eine Rosinenpickerei aus kleinkrämerischer Gesinnung.

Vergessen wir auch nicht, was in der Aussenpolitik zählt: Es sind Institutionen, aber auch eine lautere Einstellung. Ohne einen echten Willen zur Zusammenarbeit bleiben jeder Vertrag und jede Institution toter Buchstabe. Die unkomplizierte Hilfe über die Landesgrenzen hinweg für französische Coronaopfer lieferte jüngst ein positives Beispiel, das Hickhack über die Börsenäquivalenz ein negatives. Doch lassen wir uns von Störaktionen nicht beirren. Seien wir grosszügig in unserer Europapolitik, etwa mit der Gewährung der Kohäsionsmilliarde, aber hartnäckig im Schutz unseres Staatswesens.

Wir dürfen die Gesamtsicht nicht aus den Augen verlieren. Und diese zeigt: Die Schweiz hat alles Interesse daran, ihre Beziehungen zur EU zu vertiefen. Zum beidseitigen Vorteil. Aber in seltenen Fällen muss es ihr erlaubt sein, eine Schutzklausel anzurufen und Respekt für ihr eigenes Staatswesen einzufordern. Sie verlangt nur das, was ihr die EU im vorliegenden Entwurf im Grundsatz zugesteht, in den konkreten Bestimmungen jedoch zurücknimmt: die Wahrung von direkter Demokratie und Föderalismus auch unter den Bedingungen eines institutionellen Rahmenabkommens.

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