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Alles steht in Frage
Tito Tettamanti, zvg.

Alles steht in Frage

Ich wuchs in einer Gesellschaft auf, die Fleiss, Vertrauen und die Freude an der Debatte hochhielt. Wenn ich heute auf die Welt blicke, zweifle ich am Fortschritt.

Im Jahr 1950 begann ich mein Universitätsstudium, wobei ich auch dank der Studentenverbindungen Kenntnisse in Dialektik und Rhetorik erwarb, verbunden mit grossem Respekt vor der Freiheit der Debatte. Heutzutage mehren sich in unseren Bildungsstätten die Bestrebungen, die Äusserung einer Meinung, die nicht «woke» ist, zu untersagen. Solche Verbote werden oft durch Anwendung oder Androhung von Gewalt unterstützt, um den Redner am Sprechen zu hindern, und all dies in einigen Fällen mit der Zustimmung oder zumindest Komplizenschaft von Professoren und Rektoren.

Viele von uns Studenten waren auch politisch tätig. Heutzutage wird jungen Leuten in den Parteien der Teppich ausgerollt, und sie stellen viele Forderungen, die sie selber betreffen. Wir dagegen beschäftigten uns mehr mit allgemeinen Themen. Die Alten dachten nicht daran, freiwillig Zugeständnisse zu machen – wir mussten um unseren Platz kämpfen.

Die «Stille Generation» umfasst die Jahrgänge von 1928–1945. Illustration: Ama Design.

Mit Enthusiasmus in den Arbeitsmarkt

Unser Ziel war eine berufliche Laufbahn, wir waren bereit, jede Gelegenheit zu ergreifen, um ins Berufsleben einzusteigen, denn wir wussten, dass die Universität uns zwar Kultur, aber keinen Beruf vermittelt hatte und keine Arbeitsagentur war. Heute besteht das Interesse der Studenten eher darin, nach dem Abschluss sofort bei einer politischen oder sozialen Organisation oder einem Verband anzuheuern, oft mit einem Teilzeitpensum. Zu unserer Zeit waren die Gewerkschafter erfahrene ehemalige Arbeiter; heute kennen sie die herrschenden Arbeitsbedingungen eher aus Soziologiebüchern.

In Lugano, wo ich aufgewachsen bin, waren die Kinder der Arbeiter oder der unteren Mittelklasse, so wie ich, im Schwimmverein und Fussballclub aktiv. Wir trieben Sport um des Sports willen; wir dachten nicht daran, dass sich daraus ein Beruf machen liesse, wie das heute der Fall zu sein scheint. Es gab auch Platz für alle, die nicht sehr begabt waren, mich eingeschlossen. Wir hatten keinen Trainer, keinen Physiotherapeuten, die Fussballschuhe kauften wir aus zweiter Hand von den Nationalliga-Spielern. Am Sonntag spielten wir morgens Wasserball und nachmittags Fussball. Tennis spielten wir nicht, nicht nur, weil es teurer war, sondern auch weil uns der Tennisclub sozial fremd erschien. Die gesellschaftlichen Schichten waren ­relativ stark voneinander getrennt.

«Zu unserer Zeit waren die Gewerkschafter erfahrene ehemalige Arbeiter; heute kennen sie die herrschenden Arbeitsbedingungen

eher aus Soziologiebüchern.»

Rasche Integration

Wir lebten in Sicherheit. Gewalttaten waren selten, Frauen konnten auch nachts gefahrlos heimkehren, und Polizist zu sein, war nicht so gefährlich. Heute bin ich schockiert über die vielen Gewaltfälle unter Minderjährigen, über die Zahl der Vergewaltigungen und darüber, dass man als Polizist in Zürich bei bestimmten Einsätzen eine nicht unerhebliche Gefahr eingeht, verprügelt zu werden.

Die Einwanderung italienischer Arbeiter nach dem Krieg hatte unserer Wirtschaft sehr geholfen, und als der Bund mit sturen Verordnungen ihren Zustrom eindämmte, kamen stattdessen Spanier und Portugiesen. Sie gehörten einer ähnlichen Kultur an und gewöhnten sich sofort ein. Heute stellen uns Zuwanderer aus anderen Kulturen und die damit verbundenen Sprachschwierigkeiten vor grosse Probleme.

Leistung ohne bürokratischen Hürdenlauf

Während des Nachkriegsbooms herrschte eine würdevolle Arbeitsatmosphäre. Die Unternehmer erhielten Anerkennung und Unterstützung für ihre Initiativen, und das Geldverdienen war nicht das berüchtigte Geschäft, für das es heute selbst die Teilnehmer des Weltwirtschaftsforums in Davos halten. Man war nicht gezwungen, für jede Tätigkeit eine Fülle bürokratischer Hürden zu überwinden, wie es nun der Fall ist. Man arbeitete sechs Tage die Woche, wobei es den «sabato inglese» gab – der Samstagnachmittag war also frei. Obwohl die Zahl der Arbeitsstunden für jene, die erfolgreich sein wollten, nach oben offen war, war der Begriff «Burn-out» unbekannt. Heute ermöglichen der erlangte enorme Fortschritt und die höhere Produktivität viel mehr Freizeit, und die gesellschaftliche Vorstellung von der Würde der Arbeit hat sich verändert.

Im Geschäftsleben herrschte alles in allem das, was Alain Peyrefitte die «Société de confiance» getauft hat. Der Hände­druck spielte noch eine Rolle. Ich habe mit Bank­direktoren Geschäfte per Handschlag abgeschlossen, der Papierkram folgte später. Heute würde ich das auch mit dem wichtigsten CEO nicht mehr wagen, denn es genügt eine blödsinnige E-Mail eines zweifelnden Compliance-Bürokraten, um alle Abmachungen für null und nichtig zu erklären.

Compliance bedeutet Misstrauen, sie kostet die Bankenwelt Milliarden. Eine Bank verlangte zum Beispiel eine Fotokopie meines Passes und später mit einem neuen Brief (und neuen Kosten) eine Fotokopie meiner Identitätskarte! Multiplizieren wir das mit Hunderttausenden solcher Fälle, bekommen wir eine Vorstellung davon, warum die Bankgebühren trotz allem technischen Fortschritt so hoch sind. Gesetze, Verordnungen und Reglemente erfordern generell immer mehr zumeist unnötige und kostspielige Arbeit in einer Gesellschaft, in der die Behörden uns wie Idioten oder Herumtreiber behandeln.

Parallelen zu Rom

Im allgemeinen waren wir stolz auf unsere Geschichte, auch wenn wir wussten, dass die Geschichte von den Siegern geschrieben wird und dass bequeme Historien, die Mythen, historische Wirklichkeit verschönern. In diesem Meer etwas zweifelhafter «Fakten» bot uns Marc Blochs «École des annales» mit ihrem Fokus auf grössere Zusammenhänge und ihren ausgeglichenen Erzählungen einen sicheren Hafen.

Wilhelm Tell ist zwar ein Mythos, aber er wurde früher als Symbol für den Geist unseres Heimatlandes verstanden. Heute wird alles unternommen, um alle möglichen Fehler, Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten der Vergangenheit ans Licht zu bringen. Wir sollen uns für unsere Vergangenheit schämen, während ihre bewundernswerten Fortschritte in Vergessenheit geraten. Alles wird in Frage gestellt, etwa die intellektuellen Meisterwerke unserer ­Zivilisation, die getadelt werden, weil gewisse ihrer Inhalte als Beleidigung gegenwärtiger Empfindlichkeiten betrachtet werden könnten.

Sich selbst zu hinterfragen ist immer gut, aber es ist schockierend zu sehen, wie dies mit hässlichem, sinn­losem Spott getan wird. Ist das alles ein Zeichen einer Evolution, einer Übergangsphase zu einer künftigen Zivilisation? Darf alles als Fortschritt betrachtet werden? Ich bezweifle es. Eher sehe ich Ähnlichkeiten zum gesellschaftlichen Wandel beim Zerfall des Römischen Kaiserreichs. Ich denke etwa an die Auflösung der Autoritäten, die starke Migration oder auch den Verfall der Sprache.

Wenn ich in die Zukunft blicke, bin ich konfrontiert mit einer Vision von der Eroberung der Menschheit durch den Transhumanismus, von genetischen Eingriffen, die uns unsterblich machen, von unserer Herrschaft über das Universum, in dessen Weiten wir uns niederlassen werden, von einer Gesellschaft, der die Versklavung durch von ihr selbst geschaffene Roboter droht.

Ich bitte um Verständnis für meine Sehnsucht nach dem, was einmal gewesen ist. Wenn ich so darüber nachdenke, kommen mir Zweifel an der Vorstellung, dass die Welt stetig besser wird.

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