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«Die Bürger müssen selber zu Journalisten werden»
Audrey Tang, fotografiert von Jiang Kaiwei.

«Die Bürger müssen selber zu Journalisten werden»

Digitale Technologien könnten die Demokratie stärken, ist Taiwans Digitalministerin überzeugt. Sie setzt dabei auf radikale Transparenz.

Audrey Tang, China nutzt Big Data und künstliche Intelligenz (AI), um die eigene Bevölkerung zu unterdrücken. Können Sie uns etwas ­Optimismus geben hinsichtlich des Potenzials digitaler Technologien für die Demokratie?

Ich bin natürlich Optimistin. Für mich bedeutet AI «assistive intelligence». Digitale Technologien sollten sich an den Menschen und ihren Bedürfnissen ausrichten. Es ist wie bei einer Brille: Sie soll mir helfen, besser zu sehen, nicht Pop-up-Werbungen einblenden oder meinen Standort an die Regierung übermitteln. Wenn AI als unterstützende Intelligenz konzipiert ist, können wir sie, wie wir das in Taiwan machen, für AI-unterstützte Konver­sationen mit der Open-Source-Software Polis nutzen. Seit 2015 haben wir damit kollektiv Entscheidungen über verschiedene Fragen getroffen, etwa die Regulierung des Fahrdienst­vermittlers UberX oder jüngst die Entwicklung eines datenschutzkonformen Contact-Tracing-Mechanismus. Natürlich kann AI auch in autoritärer Weise genutzt werden. Letztlich ist es aber nicht die künst­liche Intelligenz, die Menschen versklavt. Es sind Menschen, die andere Menschen mithilfe von künstlicher Intelligenz versklaven.

Können Sie kurz erklären, wie Polis funktioniert?

Natürlich. (Hält ein Tablet in die Kamera, auf dem Punkte und Herzen zu sehen sind.) Hier sehen Sie die Konversation, die wir 2015 über UberX führten. Die Plattform operierte damals in Taiwan mit nichtprofessionellen, unlizenzierten Fahrern. Als User sehe ich meine Freunde und Familie in diesen verschiedenen Clustern. Jeder Cluster repräsentiert eine andere Einstellung zu UberX. Ich schrieb beispielsweise, wer auch immer am Steuer sitze, solle eine Haftpflichtversicherung abschliessen müssen. Wenn Sie damit einverstanden sind, rücken Sie Ihren Avatar in meine Nähe, wenn nicht, entfernen Sie sich von mir. Es gibt aber keinen Reply-Button, also keinen Raum für Trolle. Nach drei ­Wochen der Online-Konsultation zeigt sich jeweils ein ähnliches Bild: Polarisierende Ansichten sind immer noch da, aber machen nur etwa fünf Prozent aus. Die meisten Leute sind in den meisten Fragen mit den meisten anderen einverstanden. Dieses Bild steht in Kontrast zu dem, was wir auf den antisozialen Social Media sehen. Die Leute entdecken, wo ein Konsens mit anderen besteht. Diese allgemein akzeptierten Normen übernehmen wir dann für die ­Regulierung.

Jüngst wurde vermehrt über Zensur durch grosse private Konzerne ­debattiert, etwa im Zusammenhang mit der Sperrung von Trumps Twitter-Konto. Wie können wir sicherstellen, dass Individuen im Netz souverän bleiben?

Als Li Wenliang, der Whistleblower aus Wuhan, öffentlich machte, dass sieben neue Sars-Fälle entdeckt wurden, tat er das auf PTT, dem taiwanesischen Äquivalent von Reddit. Hinter PTT steht eine von der Taiwan University finanzierte Nonprofit­organisation. Die Plattform ist Open Source und selbstreguliert. Sie ist Teil dessen, was ich digitale öffentliche Infrastruktur nenne. Wenn man sich auf die antisozialen Social Media des ­privaten Sektors verlässt, ist das, wie wenn man eine Bar als öffentlichen Platz nutzt: Es mag funktionieren, aber die Bar kann Türsteher anstellen, die Leute rausschmeissen. Digitale Infrastruktur sollte durch den Nonprofitsektor gesteuert und durch den öffentlichen Sektor unterhalten werden – wie ein öffentlicher Park. So vermeidet man die Probleme, die entstehen, wenn man solche Infrastruktur an den Privatsektor auslagert.

Die Schweiz hat in den letzten Jahren viele Ressourcen in E-Voting ­investiert, mit wenig sichtbaren Ergebnissen. Doch als die Pandemie kam, wurden die Fallzahlen teilweise per Fax übermittelt. Haben wir die Prioritäten bei E-Government falsch gesetzt?

Ich glaube nicht, dass man die Pandemie hätte vorhersehen können, daher ist der Vergleich nicht ganz fair. Als 2003 Sars Taiwan traf, bewältigten wir die Epidemie ziemlich schlecht. Dieses Mal gelang es uns besser, und zwar deshalb, weil unser Verfassungsgericht 2004 die Legislative anwies: Wenn das nächste Virus kommt, ruft bitte nicht den Notstand aus, schliesst keine Spitäler und sperrt die Leute nicht zu Hause ein. Das hat aber nur funktioniert, weil allen bewusst war, wie dramatisch 2003 war. Gesellschaften lernen. Demokratien lernen. Doch dazu sind öffentliche Diskussionen nötig.

«Wenn man sich auf die antisozialen Social Media des

privaten Sektors verlässt, ist das, wie wenn man eine Bar

als öffentlichen Platz nutzt: Es mag funktionieren, aber die Bar

kann Türsteher anstellen, die Leute rausschmeissen.»

Braucht es also eine Katastrophe, damit wir etwas lernen?

Zumindest in einem grossen Rahmen, ja. Länder, die zuvor ­keinem Coronavirus ausgesetzt waren, können nicht einfach andere Länder kopieren. Es geht hier um Normen, die sich verändern. Dabei zahlt es sich für Regierungen aus, ihren Bürgern zu vertrauen und Fehler zuzugeben.

Während Europa noch über Contact-Tracing-Apps diskutierte, rief die Regierung in Taiwan – ohne nachzufragen – Handydaten ihrer Bürger ab. Wie reagieren Sie auf Kritik bezüglich des Datenschutzes?

Schon vor der Pandemie versendeten wir Flut- oder Erdbeben­warnungen via SMS. Diese Warnungen basieren auf dem Standort des Geräts. Wir haben also keine neuen Daten erhoben, sondern das bestehende Warnsystem für die Pandemie umfunktioniert, so dass es registriert, wenn Leute in Quarantäne oder Isolation einen Radius von 50 Metern oder so um ihr Zuhause verlassen. Nach vier Wochen löschen die Telekombetreiber die Daten. Alles, was auf bereits bestehende Datenpunkte abstützt, wird in der Regel akzeptiert, weil die Menschen die Datenschutzaspekte verstehen. Was hingegen während der Pandemie neu entwickelt wird, ist wahrscheinlich nicht okay. Deshalb machen wir auch kein Contact-­Tracing mittels Bluetooth.

Wo sehen Sie generell das grösste Potenzial für digitale  Technologien in staatlichen Dienstleistungen?

Dieses Potenzial lässt sich in drei Teile zerlegen. Erstens sparen Sie Zeit. Wenn die Verwaltung noch mit Papier arbeitet, geht viel Zeit mit Drucken, Scannen und Ähnlichem verloren. Hier ist es am einfachsten, die Prozesse zu automatisieren. Zweitens können ­digitale Technologien Risiken minimieren. Wenn der Staat alle Daten hat, muss er sich für diese auch verantworten. Als wir vergangenes Jahr die Masken rationierten, hätten wir die Anzahl Masken, die produziert und an die verschiedenen Apotheken geschickt wurden, unter Verschluss halten können. Dann hätten wir uns aber allen Verschwörungstheorien und Bedenken von Bürgern gegenüber rechtfertigen müssen. Wir haben uns für ­einen anderen Weg entschieden: Wir erfassen und veröffent­lichen die Bestände in den Apotheken und aktualisieren diese ­Daten alle 30 Sekunden. So kann jeder vor Ort überprüfen, ob die Zahlen stimmen, und allfällige Unstimmigkeiten melden. Die Gefahr, die vom Staat ausgeht, ist viel kleiner, wenn alle selbst in der Lage sind, das System auf seine Funktionsfähigkeit zu ­überprüfen. Drittens bietet die Digitalisierung grosse Inno­vationsmöglich­keiten. So hatten wir das Problem der ungleichen Infrastruktur zwischen ländlichen und städtischen Gebieten: In ländlichen ­Gebieten ist die zeitliche Distanz zur nächsten Apotheke in der Regel grösser. Zusammen mit dem Privatsektor entwickelten wir einen neuen Vertriebsmechanismus, durch den man Produkte aus Apotheken bestellen und im nächsten Laden abholen kann.

«Wir unterstützen ­Hongkong, so wie ­Hongkong uns in

den 1970ern und ’80ern unterstützte.»

Stösst die Transparenz bei staatlichen Institutionen nicht irgendwo an Grenzen? Denken wir etwa an die Diplomatie.

Klar. Wenn ich von radikaler Transparenz spreche, dann meine ich «transparent by default». Zum Beispiel werden meine Gespräche mit Besuchern standardmässig aufgenommen. Aber die Transkription kann redigiert werden, um etwa persönliche Anekdoten oder Handelsgeheimnisse zu entfernen, bevor sie veröffentlicht wird. Der Standard jedoch ist Transparenz.

Sie bezeichnen sich als «konservative Anarchistin». Wie ist es, als Anarchistin für die Regierung zu arbeiten?

Ich arbeite überhaupt nicht für die Regierung – ich arbeite mit der Regierung. Als konservative Anarchistin habe ich meine Tätigkeit unter drei Bedingungen gestellt. Erstens: freiwillige Zusammen­arbeit. Ich bekomme keine Befehle und ich erteile keine Befehle. Zweitens ist alles, was ich mache, transparent. Drittens arbeite ich standortunabhängig. Meine Funktion ist eine Art Lagrange-Punkt: Die Regierung ist auf der einen Seite und soziale Bewegungen auf der anderen; ich bin nur der Punkt dazwischen, der nicht von der Schwerkraft erfasst wird und die Kommunikation erleichtert.

Hongkong wird derzeit von einer Repressionswelle erschüttert. Wie sehen die Leute in Taiwan die Situation?

Bevor der Ausnahmezustand in Taiwan 1987 aufgehoben wurde, haben viele Journalisten in Hongkong die Menschenrechts­situation in Taiwan kritisch verfolgt. Nun haben wir die gleiche Situation mit umgekehrten Vorzeichen. Wir versuchen, den Menschen in Hongkong ein Leben in Taiwan mit Austausch- und Menschenrechts­programmen zu ermöglichen, und beherbergen auch Organisationen wie «Reporter ohne Grenzen», welche die ­Situation in Hongkong beobachten. Wir unterstützen Hongkong, so wie Hongkong uns in den 1970ern und ‘80ern unterstützte.

Taiwan will sich nicht auf chinesische Infrastruktur verlassen, etwa im Mobilfunk. Die Schweiz führt momentan dieselbe Diskussion bei 5G. Worin liegt die Gefahr einer solchen Zusammenarbeit?

Wichtig zu verstehen ist: In der Volksrepublik China gibt es keine wirklich privaten Unternehmen. Die Regierung kann die Führung einer Firma einfach verschwinden lassen. Es werden Parteisektionen in den grossen Unternehmen installiert, welche die Firmen überwachen. Hätten wir Komponenten von solchen Firmen in unseren sensiblen Netzwerken integriert, müssten wir eine systemische Risikoanalyse durchführen, und zwar jedes Mal, wenn ein Update oder eine neue Version verfügbar wäre. Denn wir wüssten nie, ob an irgendeinem Punkt die Partei die Kontrolle übernommen hätte. Der Aufwand dafür wäre viel grösser, als wenn wir mit unseren eigenen Firmen oder Nokia oder Ericsson zusammen­arbeiten. Entscheidend ist, nicht abhängig von etwas zu sein, das von der Partei übernommen werden könnte.

Dafür braucht es aber ein Verständnis der Materie seitens der Öffentlichkeit. Im Gegensatz zu Taiwan sind die Menschen in der Schweiz noch nicht so vertraut mit den Themen Internetinfrastruktur und technologische Abhängigkeiten. Wie könnten wir der Bevölkerung diese Thematik näherbringen?

Es geht nicht nur um Verständnis, sondern um Kompetenz. Damit meine ich, dass die Bürger Massenmedien nicht nur verstehen, sondern selber zu Journalisten werden, Fakten überprüfen und eine differenzierte öffentliche Diskussion führen. Die jüngere ­Generation in Taiwan ist in einer Ära geboren, in der Breitband­internet als Menschenrecht gilt. Sobald man selber Aussagen bei Wahlkampfdebatten überprüft oder Luft- und Wasserqualitätsmessungen kontrolliert, sind komplexere Ideen einfacher zu verstehen.

Sie haben die Schule verlassen, um sich selber Programmieren beizubringen. Ist formelle Bildung überbewertet?

Nun, ich habe zwar die Schule verlassen, aber ich habe dennoch Vorlesungen an der Universität besucht. Universitäten als Wissensinstitute sind extrem wertvoll. Ich denke aber, dass es heutzutage möglich ist, verstärkt über die Grenzen von Disziplinen, Orten und Generationen hinweg zu lernen. Bildung sollte weniger linear, dafür diverser und inklusiver werden.

Wo und wann haben Sie am meisten in Ihrem Leben gelernt?

Im Internet, keine Frage. Vor allem in den Internet-Governance-Gruppen, beispielsweise in der Perl-Community oder in der Wiki-Community.

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