
Die Massnahmen waren eine Gratwanderung
Die Schweiz beging während der Coronakrise zweifellos Fehler – insbesondere beim Besuchsverbot in Altersheimen. Doch unter dem Strich ist sie mit ihrem liberalen und föderalen Kurs gut gefahren.
Rückblickend auf meine damaligen Einschätzungen zu Corona gestand ich bereits früh ein, dass die zweite Pandemiewelle deutlich stärker ausfiel, als ich erwartet hatte. Ich ging davon aus, dass viele Menschen in der ersten Welle eine stille Infektion durchgemacht hätten und bereits immun wären – dies war jedoch nur geringfügig der Fall. Zudem hoffte ich, die Schweiz könnte dank ihrer hohen Organisation und ihres exzellenten Gesundheitswesens einen Lockdown vermeiden.
Immerhin kam es im Frühling 2020, verglichen mit den meisten anderen Ländern, «nur» zu einem milden Lockdown. Ein Learning war, wie stark sich das Selbstverständnis eines Landes trotz aller Diversität auf die Bewältigung einer Pandemie auswirkt. Mitunter wirkte für mich der Anspruch, alle Menschen vor Schäden durch die Pandemie schützen zu wollen, wie ein Ausdruck des Unvermögens, die Endlichkeit menschlichen Lebens als Teil der Realität anzuerkennen.
Lockdowns rasch beenden
Das Besuchsverbot in den Altersheimen störte mich von Anfang an. Der gutgemeinte Schutz hat den betagten Menschen letztlich Leid zugefügt. Die wissenschaftliche Covid-19-Taskforce arbeitete früh mit Pflegekräften, Ärzten und Entscheidungsträgern zusammen, um offenere Regeln in Altersheimen zu entwickeln. Betagte Menschen trafen dabei eindrückliche Entscheidungen über Leben und Tod – etwa, ob sie im Ernstfall hospitalisiert werden wollten. Den liberalen Kurs vertrete ich auch heute: so wenig Massnahmen wie möglich, so viele wie unbedingt nötig. Ich setzte mich für eine schnelle Beendigung des Lockdowns ein und hielt auch das Offenlassen der Skigebiete im Winter 2020/21 für vertretbar.
Weniger Massnahmen wären möglich gewesen, ja. Aber mit welcher Krankheits- und Sterbelast und wäre das akzeptiert worden? Ein Impfzwang oder die Behandlung ausschliesslich für Geimpfte kamen für mich nie in Frage. Die Masken erwiesen sich in Innenräumen und vor allem in Spitälern als effektiv. Weltweit führte die Maskenpflicht in Spitälern zu einem drastischen Rückgang schwer erkrankter Gesundheitskräfte. Im Winter 2020/21 gab es dadurch praktisch keine Grippehospitalisationen; am Universitätsspital Basel sogar überhaupt keine. Als der Bund im Frühjahr 2022 nach der Sinnhaftigkeit einer Maskenpflicht im öV fragte, verneinte ich dies. Die Immunität gegen SARS-CoV-2 war inzwischen hoch. Eine längere Nichtexposition hätte die Immunität der Menschen gegen Viren wie RSV oder Influenza geschwächt.
«Weniger Massnahmen wären möglich gewesen, ja. Aber mit welcher Krankheits- und Sterbelast und wäre das akzeptiert worden?»
Der Human Freedom Index 2023 bestätigte den liberalen Kurs der Schweiz: Im globalen Vergleich von 165 Ländern verzeichnete sie während der Pandemiejahre 2020 und 2021 den geringsten Freiheitsverlust. Die Impfung erwies sich als Gamechanger: Gemäss einer Lancet-Studie retteten Impfungen im Jahr 2021 weltweit etwa 20 Millionen Menschen das Leben und bewahrten noch weitaus mehr vor schweren Krankheitsverläufen. 2022 und 2023 wurden nochmals bis zu 20 Millionen Menschen gerettet. Seit 2022 besteht in der Bevölkerung eine robuste Immunität. Dadurch ist der zusätzliche Nutzen einer Impfung für viele Menschen (unter 65 Jahre, keine Risikofaktoren) gering oder nicht mehr gegeben. Die Schweizer Richtlinien empfehlen die Impfung weiterhin für über 65-Jährige und besonders gefährdete Personen.
Bevölkerung demokratisch einbinden
Zu Beginn der Pandemie existierten zu viele isolierte Fachbereiche und zu wenige multidisziplinäre Arbeitsgruppen. Diese arbeiten nun auf Bundes- und Kantonsebene für eine bessere Krisenbewältigung enger zusammen. Auch die nächste Krise wird von Überraschungen, Unordnung, Notfällen und Unsicherheit geprägt sein. Sich ein «Krisen-Mindset» anzueignen, ist daher wichtig. Die Akutmedizin reagierte diesem Mindset entsprechend weltweit am schnellsten und nachhaltigsten. Die Sterblichkeit bei Covid-19-Patienten in Schweizer Spitälern war bei vergleichbaren Patienteneigenschaften vermutlich die niedrigste weltweit. Die Akutmedizin wird wohl auch in künftigen Pandemien am stärksten gefordert sein. Die Fallsterblichkeit von SARS-CoV-2 in der Schweiz war womöglich auch deshalb niedriger als in den meisten Industriestaaten, weil ein gut funktionierendes Gesundheitssystem das Risiko für schwere Covid-19-Verläufe reduziert hat – beispielsweise durch die effektive Behandlung von Diabetes oder Bluthochdruck.
«Die Sterblichkeit bei Covid-19-Patienten in Schweizer Spitälern war bei vergleichbaren Patienteneigenschaften vermutlich die niedrigste weltweit.»
Nach dem niederländischen Sozialpsychologen Geert Hofstede verzeichnet die Schweiz einen niedrigen Hierarchie-Index. Cum grano salis zeigt sich: Starke Hierarchien und verordnete Massnahmen stossen hierzulande auf Skepsis und geringe Akzeptanz. Hingegen werden Planbarkeit und Perfektionismus geschätzt. Der Wunsch nach grösstmöglicher Freiheit steht dem Bedürfnis nach perfektem Schutz gegenüber. Beides lässt sich in einer Pandemie nicht vollständig umsetzen. Deutschland, mit seinem höheren Hierarchie-Index, ergriff strengere Top-down-Massnahmen, was für die Schweiz nicht der richtige Weg gewesen wäre. Der liberale Kurs entsprach dem Selbstverständnis der Schweiz. Ich hoffe, dass Solidarität und Teamleistungen, die mich beeindruckt und geprägt haben, weiterhin im Vordergrund stehen – auch in Zeiten zusehends starker Polarisierung.
Multidisziplinäre Gremien, in denen Ärzte und Ärztinnen und Pflegende aus verschiedenen Bereichen, Mitarbeitende aus Spitälern, BAG, Bund und Kantonen, auch Politiker und Politikerinnen zusammenarbeiten, müssen jetzt besser etabliert werden, um eine solide Basis für künftige Entscheidungsprozesse und Lösungswege zu schaffen. Während der Pandemie haben wir erlebt, dass solche Gremien für verlässliche Prozess- und Entscheidungswege essenziell waren. Als Bürger dieses Landes halte ich es für wichtig, dass die Bevölkerung auch während einer Pandemie demokratisch in Entscheidungen eingebunden bleibt. Die WHO sollte zwar den internationalen Datenaustausch fördern, jedoch keine flächendeckenden Massnahmen diktieren.
Die föderale Struktur der Schweiz stellte zu Beginn der Pandemie zwar eine grosse Herausforderung dar, erwies sich aber schlussendlich als Vorteil für die geteilte Verantwortung. Ein herausragendes Gesundheitssystem, gestützt durch exzellente Bildung und Forschung, bleibt dabei unverzichtbar.