
Strukturelle Nachteile können mit Agilität ausgeglichen werden
Was der Kleinstaat Schweiz vom Kleinststaat Liechtenstein im Umgang mit der EU lernen kann.
Europa ist ein Kontinent der Gegensätze: Die grössten Länder – etwa die Ukraine oder Frankreich – prägen die politische Agenda. Die kleinsten – etwa der Vatikan oder Liechtenstein – tragen auf ihre Weise zur europäischen Stabilität bei. Europa braucht beides: die Kraft der Grossen und die positive Kreativität der Kleinen. Brüssel mag das Herz Europas sein, doch die europäische Seele und die gemeinsamen Werte reichen weit darüber hinaus.
Gerade als Nicht-EU-Mitglied ist Liechtenstein gezwungen, kreative Wege im Umgang mit Europa zu finden. Etwa durch gezielte Netzwerkarbeit in Brüssel, eine enge Abstimmung mit den EWR/Efta-Partnern Norwegen und Island und nicht zuletzt durch die aktive Teilnahme und Mitgliedschaft in Gremien, in denen sich auch Nicht-EU-Staaten einbringen können. In der sogenannten European Political Community treffen sich halbjährlich europäische Staats- und Regierungschefs – hier kann auch ein Kleinstaat seine Stimme erheben.
Souveränität und internationale Einbettung sind für Liechtenstein seit seiner Gründung im Jahr 1719 wichtig. Ging es zuerst um Einsitz im Reichsfürstentag in Regensburg, später um die Mitgliedschaft im Rheinbund und 1848 in der Frankfurter Nationalversammlung, ist die internationale Einbettung der letzten 100 Jahre geprägt von der Zoll- und Währungsunion mit der Schweiz und den Mitgliedschaften bei Europarat, OSZE, UNO, dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) und seit 2024 dem Internationalen Währungsfonds. Diese internationale Präsenz stärkt die Sichtbarkeit und das überregionale Netzwerk und hat in der heutigen Zeit einen direkten Einfluss auf die Zusammenarbeit mit der EU. Denn die EU findet eben nicht nur in Brüssel, sondern in allen Hauptstädten der EU-Mitgliedstaaten statt.
Kleinstaaten als Regelempfänger
Es liegt in der Natur der Sache, dass kleine Staaten oft Regelempfänger und nicht Regelsetzer sind. Sie übernehmen viele Vorgaben und Rechtsakte – im Fall von Liechtensteins EWR-Mitgliedschaft bislang mehr als 14 000 EU-Bestimmungen –, haben aber bei deren Ausgestaltung kaum ein Mitspracherecht. Dieser strukturelle Nachteil macht Kleinstaaten auf den ersten Blick abhängig und verletzlich.
Doch in Gremien wie dem Europarat oder in multilateralen Verhandlungen kann ein kleiner Staat durchaus Gehör finden, wenn er vorbereitet ist, konkrete Vorschläge macht und koalitionsfähig bleibt. Sichtbar wurde diese Haltung etwa im halbjährlich wechselnden Vorsitz im Ministerkomitee des Europarats, welchen Liechtenstein im letzten Jahr innehatte, oder in der internationalen liechtensteinischen Buchinitiative «Book of Europe» von Anfang dieses Jahres.
Das «Book of Europe» sammelt in herausfordernden Zeiten Ideen, Visionen und Zielbilder für das Europa von morgen – eingebracht von Staats- und Regierungschefs, Aussenministerinnen und hochrangigen Vertretern aus über 30 Ländern. Es ist ein Beitrag zur europäischen Idee und zeigt die Vielfalt des Kontinents. Europa lebt von diesen Unterschieden. Wie in einem Sportteam braucht es nicht überall dieselben Fähigkeiten, sondern unterschiedliche Mitspielerinnen und Mitspieler, die ihre Stärken einbringen und gemeinsam zum Erfolg beitragen.
EWR und Zollunion mit der Schweiz
Die geopolitische Lage Liechtensteins zwingt zu Pragmatismus. Ich bin überzeugt, dass Liechtenstein vor 30 Jahren mit dem Beitritt zum EWR eine richtige und wichtige Entscheidung getroffen hat. Eine Entscheidung, die aber nur dank dem gleichzeitigen Verbleib in der Zollunion mit der Schweiz möglich und erfolgreich war. Hier ist der Schweiz auch 30 Jahre später noch für ihre Flexibilität und grosse Unterstützung zu danken. Denn nur wer Partner hat, kann langfristig als Staat erfolgreich sein. In Bezug auf die Schweiz spreche ich allerdings lieber von einem Freund, auf den man zugehen kann, der zuhört und einen versteht. Solche Partner haben wir seit vielen Jahrzehnten in Bern, seit einigen Jahren auch in Brüssel, Oslo und Reykjavik – und glücklicherweise auch in Wien, Berlin, Luxemburg und anderen Hauptstädten Europas.
Da der Binnenmarkt zu klein ist, ist Liechtenstein wirtschaftlich sehr stark auf den Export angewiesen – ohne ginge es nicht. Wir exportieren von Befestigungstechnik und Bohrmaschinen über Lenksysteme, Nahrungsmittel, künstliche Zähne, Heiz- und Lüftungssysteme, Bagger, Beschichtungstechnik bis zu Steckverbindungen und vielem mehr.
Die europäische Vernetzung zeigt sich auch im Alltag: Nach Liechtenstein, einem Land mit nur 40 000 Einwohnern, pendeln täglich mehr als 20 000 Menschen. Die Nähe zu den Nachbarn ist nicht nur geografisch, sondern auch wirtschaftlich und kulturell gelebte Realität. Gleichzeitig ist die Aussenpolitik Liechtensteins auf Eigenständigkeit bei gleichzeitiger Integration ausgerichtet. Als EWR-Mitglied hat das Land Zugang zum EU-Binnenmarkt, ohne der EU beizutreten. Es übernimmt systematisch EU-Rechtsakte, koordiniert diese effizient und setzt sie rasch um – ein Punkt, den EU-Vertreter wiederholt als «Best Practice» bezeichnet haben. Zudem pflegt Liechtenstein gezielt bilaterale Beziehungen zu EU-Mitgliedstaaten wie Deutschland, Österreich oder Luxemburg, um Verständnis und Unterstützung in Brüssel zu sichern.
Oft werde ich gefragt, was die Schweiz von uns lernen könne. Ich antworte dann, dass es nicht an uns sei, der Schweiz Ratschläge zu erteilen. Vieles ist in unseren beiden Ländern ähnlich, anderes jedoch unterschiedlich. So sind wir uns schon seit vielen Jahrzehnten «fremde Richter» aus der Schweiz und Österreich gewohnt und hatten beim EWR auch kein Problem damit, den Efta-Gerichtshof zu akzeptieren. Gleichzeitig ist bei uns wie auch in der Schweiz die direkte Demokratie sehr wichtig, und deren Instrumente werden intensiv genutzt.
«Wir Liechtensteiner sind uns schon seit vielen Jahrzehnten ‹fremde Richter› aus der Schweiz und Österreich gewohnt und hatten beim EWR auch kein Problem damit, den Efta-Gerichtshof zu akzeptieren.»
Zudem kombinieren wir dieses demokratische Element auf einzigartige Weise mit der Monarchie und dem Fürstenhaus. Auf der anderen Seite des Rheins – also in der Schweiz – wird das gelegentlich mit Unverständnis betrachtet – bei uns ist es gelebte Praxis und funktioniert sehr gut. Vielleicht ist genau das eine mögliche Lehre: International vernetzte Kleinstaaten können stabile und funktionierende Lösungen finden, wenn sie den eigenen Weg mit Konsequenz, aber auch mit Augenmass und Offenheit gehen.
Kleine Staaten sind Mitgestalter
Die Stärke kleiner Staaten liegt in ihrer Agilität. Wenn sie vernetzt, strategisch und kooperativ handeln, können sie sich behaupten – trotz struktureller Nachteile. Sie sind keine Spielbälle der Grossen, sondern Mitspieler mit spezifischen Fähigkeiten. Europa braucht nicht Uniformität, sondern Vielfalt.
Wenn wir in Liechtenstein an Europa und an uns selbst denken, dann lässt sich das abschliessend wohl so zusammenfassen: Wir in Liechtenstein sind überzeugte Europäer, mit den «Wunschnachbarn» Schweiz und Österreich. Wir streben zugleich nach bestmöglicher Integration und grösstmöglicher Souveränität. Dieses Spannungsfeld teilen wir mit der Schweiz – aber der gewählte Weg ist ein anderer. Vielleicht kann gerade dieser Unterschied zum gegenseitigen Lernen beitragen.