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Die zarte Pflanze ist erneut gefährdet
Monika Hausammann, zvg.

Die zarte Pflanze ist erneut gefährdet

Bereits antike Denker machten sich Überlegungen zur Toleranz. Die Idee erlitt aber immer wieder Rückschläge. Bis heute.

Kaum ein Begriff umschliesst eine derartige Variationsbreite an Deutungen und Aufgaben wie jener der Toleranz. Und das nicht erst seit heute oder seit der Aufklärung, wie oft geglaubt wird, sondern seit der Antike. Im römischen Sprachgebrauch wurde er zunächst als Tugend verstanden, die das klaglos-tapfere, persönliche Ertragen und Erdulden von Schicksalsschlägen beinhaltete und damit Ingredienz des Strebens nach einem gelungenen Leben war. Bereits in den Frühzeiten der Kirche hatte sich Tolerantia als sozialen Beziehungsbegriff etabliert, den wir noch heute kennen und dessen Kernanspruch nicht länger das passive Ertragen von Dingen, sondern das aktive Ertragen von Menschen ist. Das Erdulden des anderen in seinem Anderssein – seiner Verschiedenheit von mir, meinen Überzeugungen und Gewissheiten innerhalb einer grossen oder kleinen Gemeinschaft –, und zwar in kultureller, religiöser oder anderweitiger Hinsicht.

Zwischen Wahrheit und Liebe

Das lässt aufhorchen – denn es deutet darauf hin, dass es im Fall der Toleranz abseits der modernen und zum Teil hysterisch ­geführten Debatte um Existentielles geht. Die Spannung, die dieser «Leitbegriff zwischenmenschlichen Verhaltens und christlicher Gemeinschaftsbildung»1 umfasst, wurde bereits von den frühen Kirchenvätern als jene zwischen zwei christlichen Unbedingtheiten erkannt: zwischen der Wahrheit und der Liebe. In diesem Fall zwischen dem exklusiven Wahrheits­anspruch der Bibel und dem Liebesgebot Gottes. Bereits ­Cyprian (200–258) versuchte, diese Spannung zu überbrücken, indem er die christliche Tugend der Geduld auf eine Basis stellte, die der Toleranz in der «Liebeskirche» eine ordnungspolitische Rolle zuwies: Es galt Geduld ebenso mit den Brüdern als auch mit «Ungläubigen» zu üben, im Bewusstsein der Gleichheit aller Menschen vor Gott, der nicht zum Glauben zwingt. Und im Wissen, dass es in einer gefallenen Welt innerhalb und ausserhalb der Kirche keine Unschuldigen gibt, dass jedes denkbare menschliche Handeln nie perfekt, sondern stets fehler- und schlackenbehaftet ist und deshalb unendlich vergebungs­bedürftig bleibt. Toleranz bedeutete auch und gerade die innerliche Bereitschaft zum Kompromiss in einer Haltung der Demut und der Vergebungsbereitschaft, welche die Geduld und Gnade Gottes im Aussen des Miteinanders spiegelt.

Was aus dieser die Andersartigkeit von Überzeugungen und Gewissheiten ertragenden Haltung und Norm wurde, ist bekannt: Die Grenzen der Toleranz, die in ihrer frühen Konzeption erst dort verliefen, wo sie die innere Einheit der auch und gerade leidenden Kirche («Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe»2) zu verwunden drohten, wurden versetzt. Nachdem unter Alexander dem Grossen, unter Kyros und auch im vorchristlichen Rom eine Vielfalt von Religionen nebeneinander gelebt worden waren, erlag die Kirche der Versuchung des Auf- und Ausbaus von Macht und verschob die Demarka­tionslinie weit ausserhalb ihrer selbst mitten in den Bereich totalitärer weltlicher Macht hinein, wo sie ohne Not sowohl die Kreuzzüge und die Hexenprozesse als auch die Inquisition, die über Jahrhunderte hinweg bis weit in die Reformationszeit hinein räuberisch und blutig in ganz Europa und darüber hinaus wütete, umschloss.

Noch brannten die Scheiterhaufen lichterloh, noch trampelten die Schritte des ressentiment- und neidgetriebenen ­Pöbels unter dem Feigenblatt des Glaubens, noch wurde zusammengetrieben, ersäuft, verbrannt, enteignet und vertrieben, als schon jene Stimmen laut wurden, welche die bereits in der Bibel3 aufgegleiste und etwa in der Mailänder Vereinbarung zwischen Konstantin I. und Licinius um 313 festgehaltene Trennung von Kirche und weltlicher Macht anmahnten. Das kam einem Toleranzbegriff gleich, der die weltliche Macht aus ihrer angemassten Zuständigkeit für Religion und Kirche entlässt. In bester christlicher Art fasst er den Menschen als einzigartig und unersetzlich auf und sieht dessen Würde als gottgegeben und unantastbar an – auch in Bezug auf seine Überzeugungen, seinen Glauben und seine Gewissenswahrheit.

Beispielhaft für diese Stimmen stehen am Vorabend der ­Reformation die beiden grossen Humanisten Nikolaus von Kues (1401–1464) und Thomas Morus (1478–1535). In seinem Werk «Utopia» nahm Morus vorweg, was sich der Philosoph und Psychiater Karl Jaspers vier Jahrhunderte später ebenfalls vornahm: den Begriff der Wahrheit. Morus argumentierte, dass selbst wenn es eine wahre Religion gäbe, diese im Kampf mit Waffen nicht notwendigerweise siegen würde. Eher werde die «Gewalt der Wahrheit sich (…) von selbst durchsetzen». Jaspers führte diesen Gedanken weiter: Wenn der christliche Glaube das wäre, was er eigentlich sein müsste – nämlich eine unbedingte existentielle Gewissheit –, so würde er nicht seine Exklusivität behaupten und hätte der Geschichte viele grausige Exempel erspart. Denn die Tatsache, dass die christliche Wahrheit gerade in einem Zwielicht zwischen Glauben und Wissen stehe, zwinge sozusagen zur Toleranz. Der Gläubige sei ein Mensch, der in sich Giordano Bruno als Repräsentant des Glaubens und Galilei als Repräsentant des Wissens vereine und diesen beiden Aspekten in sich selbst und in anderen tolerant gegenüberstehe.

Vom Religiösen zum Säkularen

Aber sowohl Luther, der den Toleranzbegriff eindeutschte, als auch Calvin verliessen den Weg der von den Humanisten propagierten Toleranz; sie verteidigten die Verfolgung und sogar Tötung Andersgläubiger. Die Idee der Toleranz musste ein weiteres Mal neu begründet, der Geist der Geduld, Demut, Vergebung und Liebe des Neuen Testaments wiederbelebt werden. Das ging historisch zögerlich vonstatten. Massgebliche Impulse dazu kamen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts aus Frankreich, wo sich die Debatte von der religiösen auf eine säkulare Ebene verschob und anstelle theologischer Argumente politische, naturrechtliche und wirtschaftliche Überlegungen traten. Aber trotzdem und trotz erlassener Toleranzgesetze, die oft bei günstiger Gelegenheit gleich wieder kassiert wurden oder von vornherein nicht für alle galten, brauchte es weitere Impulse zur Überwindung des Konfessionsstaates und des Bekenntniszwangs.

«Sowohl Luther als auch Calvin verliessen den Weg der von den

Humanisten propagierten Toleranz; sie verteidigten die Verfolgung und sogar Tötung Andersgläubiger.»

Hier kommt nun die europäische Aufklärung ins Spiel, in deren Rahmen Intellektuelle, Philosophen und Schriftsteller die unheilige Allianz von Grosskirche und Staat und die politische und dogmatische Intoleranz auf- und angriffen. Die Kernelemente der Kritik bildeten drei Instanzen: das Individuum, die Kirche (Religion) und der Staat – es galt, sie als jeweils Eigenständige aus dem Gefüge «Ein Gesetz – ein König – ein Glaube» herauszulösen. Aufklärer von John Locke bis Immanuel Kant sahen drei Möglichkeiten, wie dies zu bewerkstelligen sei: 1. Das Individuum erhält grössere Rechte in Sachen Gewissens- und Glaubensfreiheit als Staat und Kirche; 2. Der Staat nimmt sich aus der Religion heraus; 3. Die Kirche verzichtet sowohl auf weltlichen als auch auf geistlichen Zwang in jeder Form und hält sich den Staat auch nicht als Blitzableiter für diese Aufgaben in der Hinterhand.

Am Ende dieses Ringens steht Kants Aufruf zur Mündigkeit und zur Anerkennung der Mündigkeit des Bürgers, der das Recht und die Pflicht habe, «sich in allem, was Gewissensangelegenheit ist, seiner eigenen Vernunft zu bedienen». Damit war der moderne Toleranzbegriff als «dreifacher Begriff», der sowohl den persönlichen als auch den gesellschaftlichen und den öffentlich-rechtlichen Lebensbereich berührt und der damit in den Rang eines Grundrechts erhoben wurde, geboren: die Duldung und das Respektieren von Überzeugungen, Praktiken und Handlungen, die als falsch und normabweichend angesehen werden.

Was oft unter den Tisch fällt: Es gab auch handfeste, wirtschaftliche Gründe, die den Aufklärern in die Hände spielten. Wo Juden und Hugenotten des Landes verwiesen, getötet, enteignet oder mit Berufsverboten belegt wurden, trat, nachdem die «Beute» verteilt war, mit der Regelmässigkeit einer Schweizer Uhr der wirtschaftliche Niedergang ein. Dort aber, wo sie sich wieder ansiedelten, wo ein gewisser Grad an Pluralismus geduldet wurde, blühten der Handel und damit die ganze Wirtschaft.

Macht als treibende Kraft

Wo stehen wir heute? Geht man von der Erwähnung des Begriffs der Toleranz in der Öffentlichkeit aus, könnte man den Eindruck gewinnen, sie gehöre zu den «hohen Gütern», die, ähnlich wie die Freiheit, jederzeit gefährdet und deshalb jederzeit verteidigt werden müssten. Das ist meiner Meinung nach richtig. Ebenso richtig ist aber, dass die «Toleranz», von der ­täglich irgendwo die Rede ist, nur noch eine Begriffsattrappe ist. Von der strengen Schönheit eines Naturrechts, wie die Aufklärer sie als zwingend an die individuelle Freiheit geknüpft verstanden, ist nur noch eine weichgezeichnete, nihilistische und auf psychische Befindlichkeiten fokussierte Parodie übrig. Sie lässt den Menschen im Fall sogenannt gesellschaftsrelevanter Fragen hinter der bunten Fassade in Wahrheit nur die Wahl zwischen Klappe halten und frenetischem Beifallklatschen. Die freiheitliche Haltung, die in ihrem Wesen tolerant ist, hat ­freiheitsgefährdende Dogmen zum Gegenstand ihrer Toleranz gemacht und setzt sich politisch gefördert und mutwillig der akuten Selbstgefährdung aus.

Was ist geschehen? Die Antwort ist so einfach wie erschütternd: Irgendwo in den letzten Jahrzehnten hat sich bei den Vertretern der Institutionen der Meinungsindustrie (Staat, Bildungseinrichtungen, Wissenschaft, Konzernstiftungen, Medien, Parteien, Kirchen) die alte marxistische Lehre durchgesetzt, wonach nicht Wahrheit und Liebe die treibenden Kräfte des Lebens sind, sondern ausschliesslich Macht – dass Menschen also nicht freie und selbstverantwortliche Individuen seien, sondern Gruppen von Unterdrückern oder von Unterdrückten. Das ist der einzig zulässige Filter, durch den die ­vorherrschenden Themen wie «soziale Gerechtigkeit», «Intersektionalität», «Identitätspolitik», «Gesundheitspolitik» und «Klima­rettung» zu betrachten sind. Die Folge ist dieselbe wie immer, wenn kollektiviert wird: die Brutalisierung sämtlicher menschlichen Beziehungen.

Wer heute im Zusammenhang mit den erwähnten Themen einwirft, die Fakten legten andere Einsichten nahe oder wir hätten betreffend X oder Y noch gar keine Ahnung, kurz: wer Skeptizismus übt, dem wird bestenfalls beschieden, seine Skrupel und Zweifel, sein Fragen und Wissenwollen seien «proble­matisch» oder «nicht hilfreich». Öfter wird ihm (gerne auch in hysterischer Mobmanier) attestiert, moralischer Abschaum zu sein: «-phob», «-feindlich», «rassistisch», «sexistisch», ein «Leugner» (die semantische Nähe zu den «Gottesleugnern» und «Holocaustleugnern» ist nicht zufällig), ein Hasser und Hetzer oder – neuerdings – ein Staats- respektive Verfassungsfeind und Demokratiegefährder. Dass die Politik dies nicht nur duldet, sondern fördert, ist ein deutlicher Wegweiser.

Unverdrossen Fragen stellen

Wenn der Zug nicht entgleisen, der Wagen nicht durch die ­Leitplanken mitten in einen neuen Konfessionszwang hinein­krachen soll, dann ist es höchste Zeit, als Freund der Freiheit – ob politisch engagiert oder nicht – innezuhalten, tief durchzu­atmen und bei jeder sich bietenden Gelegenheit ein unbeschwertes «Moment mal!» einzubringen. Und dann unverdrossen Fragen zu stellen. Im Vergleich womit ist unsere Gesellschaft rassistisch, sexistisch, -phob oder -feindlich? Im Vergleich mit dem Iran, mit Nordkorea oder Afghanistan? Gibt es denn eine freiheitlichere Gesellschaft als unsere westliche? Und wenn nein: Wer oder was gibt jemandem das Wissen oder das Recht, eine neue, perfekte Gesellschaft mit neuen Menschen zu erschaffen? Was verspricht man sich bei diesem Ansinnen davon, gewisse Fakten auszublenden? Und warum wiegt die «Wahrheit» des Gegenübers, ob Minderheit oder Mehrheit, schwerer als meine Wahrheit? Was geschieht mit all den im Geist dieser «exklusiven Wahrheit» in rasender Geschwindigkeit aufgegleisten und verabschiedeten Gesetzen, wenn sie im Zug eines politischen Machtwechsels in andere, vielleicht in «falsche» Hände geraten? Ich glaube, nur in solch hartnäckigem und ernsthaft Auskunft forderndem Nachfragen kann die ­Gefahr des gelebten Widerspruchs einer «totalitären Toleranz» für die Zukunft unseres Miteinanders aufgezeigt werden.

  1. Klaus Schreiner und Gerhard Bersier: Toleranz. In: Otto Brunner et al. (Hrsg.): ­Geschichtliche Grundbegriffe VI. Stuttgart, 1990.

  2. Matthäus 10, 16–22.

  3. 4. Moses 8, 14 / Matthäus 22, 21.

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