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Es gibt so vieles, wir kennen so wenig
Simon Strauss, fotografiert von Musacchio / Ianniello / Pasqualini.

Es gibt so vieles,
wir kennen so wenig

Der tausendste «Hamlet», der hunderttausendste «Don Carlos». Warum immer dieselben Stücke?
Das Theater braucht dringend eine Spielplanänderung.

 

Was will das deutschsprachige Theater heute? Wozu tritt es Saison für Saison an? Gibt es so etwas wie eine generelle Tendenz oder zumindest ein paar unterschiedliche Strömungen? Was spiegelt sich von dem grossen Ganzen in dem kleinen Halbrund der offenen Bühne? Oder geht es gar nicht mehr in erster Linie um das, was hier gespielt wird, sondern darum, wie ein Theaterhaus verwaltet wird – mit Frauenquote, Ensemblenetzwerk und Mindestgage oder ohne? Fragen, die sich nicht nur jeder Thea­tergängerin, sondern auch jedem Steuerzahler stellen. Insbesondere, wenn die Theater zu sind, wie jetzt wegen Corona. Was fehlt uns wirklich, wenn wir keine darstellenden Schauspiele mehr sehen können? Wenn die Vorhänge, die in den meisten Inszenierungen immer schon offen sind, jetzt wirklich einmal unten bleiben? Seien wir ganz ehrlich mit uns – was vermissen wir, wenn wir in diesen Krisentagen vernünftig zu Hause auf unseren Sofas sitzen und die neuesten amerikanischen Serien wegsuchen?

 Das Theater bleibt unter seinen Möglichkeiten

Im Unterschied zu den meisten anderen Gebieten auf der Erde subventionieren Deutschland, Österreich und die Schweiz Schauspielhäuser und Theater auf grosszügige Weise. Nirgendwo sonst wird Theater so entschieden gefördert wie bei uns. Wir leisten uns eine weitverzweigte theatrale Infrastruktur. Als wäre ihre Fortexistenz integraler Teil unserer Staatsräson und eine «Kulturnation» ohne ihre Theater nicht denkbar. Warum? Weil wir uns als Gesellschaft im 21. Jahrhundert scheinbar immer noch darüber einig sind, dass es ein besonders schützenswerter Vorgang ist, wenn reale Menschen auf einer Bühne zu frühneuzeitlichen Königen oder antiken Schicksalsfrauen werden. Weil wir angeblich immer noch daran glauben, dass eine humane Kraft in der Verwandlung liegt. Wie ja auch unsere christliche Tradition auf dem Glauben an eine Verwandlung – nämlich der Transformation von Brot und Wein in Fleisch und Blut Jesu Christi – beruht, so fusst auch die antike Tradition des Schauspiels auf einer Hypostasierung der Realität. Vielleicht ist sie uns deshalb unwillkürlich nach wie vor so nah. Auch der grösste Atheist würde ja nicht fordern, dass in unseren Breitengraden Kirchen abgerissen werden sollen, und so akzeptiert wohl auch ein Grossteil der bühnenfremden Gesellschaft, dass es Schauspielhäuser gibt.

Tatsächlich liegt im Theater gerade heute, in unseren identitätsvernarrten, egozentrischen Zeiten, ein anarchistisches Potenzial verborgen: nämlich das Versprechen einer universalen Einfühlung. An amerikanischen Universitäten wird daran zwar inzwischen gezweifelt, aber dass sich eine Person trotz unterschiedlicher Hautfarbe und Geschlecht ins Gegenüber hineinversetzen kann, geschieht auf dem Theater ständig. Hier leidet die Zuschauerin mit Othello, hier bangt der Zuschauer um das Käthchen, auch wenn sie allem Anschein nach anders sind. Das Theater ist eine Schule des Sehens, aber vor allem auch eine Lehrstätte des Mitfühlens, der Furcht und des Zitterns um jemand anderen, Fremden, in den man sich hineinversetzt und in dem man sich spiegelt. Damit ist das Theater ein Bollwerk gegen den gefährlich grassierenden Wertanspruch des Identitären. In der Nachahmung der Wirklichkeit durch das Spiel liegt ein Versprechen begründet: Den Schein unseres Daseins teilen wir alle. Das Unrecht in der Welt geht jeden an.

Doch deutschsprachige Theater ignorieren dieses grosse, bewusstseinserweiterte Potenzial. Die existenziellen Dimensionen der Vorlagen tun sie als pathetisch und psychologisch ab. Stattdessen verspielen sie mit durchdekonstruierten Theorieversatzstücken und postmodernen Spiegelfechtereien gerade ihre höchsten Gewinnchancen. In der Tat scheint das Gefühl der Enttäuschung am Theater häufiger um sich zu greifen als bei benachbarten Kunstgattungen. Die Zuschauer sind enttäuscht von der Inszenierung, die Schauspielerin ist enttäuscht vom Regisseur, der Regisseur wiederum von der Intendantin, die Intendanz vom Kulturdezernenten, die Presseabteilung vom Kritiker und der wiederum schnell vom Ganzen.

«Mit einer so starken Subventionierung im Rücken,

wie sie deutschsprachige Theater haben,

müsste hier doch eigentlich jedes Abenteuer,

jedes Risiko möglich sein.»

Lasst uns die Schätze der Vergangenheit heben!

Könnte man die Sache nicht auch einmal von der anderen Seite angehen: Nicht immer nur klagen und kritisieren, was es auf den Bühnen zu sehen gibt, sondern davon schwärmen, was es zu sehen geben könnte. Welche reichen Schätze auf dem Feld der Thea­terliteratur zu entdecken wären. Nehmen wir an, wir könnten einen Spielplan frei bestimmen, ohne nur auf Zuschauerzahlen, Besetzungszwänge oder Spielzeitmottos achten zu müssen.

Das einzige Kriterium wäre, dass der Spielplan ausgefallen literarisch sein müsste, sich deutlich unterscheiden von den «Altprogrammen» mit ihren «Woyzecks», «Macbeths» und «Handlungsreisenden» und den «Neuprogrammen» mit ihren Theorieanstrengungen und Identitätstotalen. Nicht nur den Laien müsste ja eigentlich erstaunen, mit welcher Einfallslosigkeit an unseren Theatern immer wieder dieselben Stücke aufgeführt werden, als umfasste der allgemein spielbare Kanon nur etwa fünfzehn Autoren. Die Schwäche der derzeitigen Dramaturgie an deutschsprachigen Theatern, die sich zunehmend zu einem organisierenden Mittelbau ohne eigenes Entwurfsrecht degradieren lässt, zeigt sich durch nichts so deutlich wie durch das nahezu vollständige Ausbleiben literarischer Entdeckungen. Stattdessen wird adaptiert und in eigene Fassung gebracht. Nahezu kein Stoff ist inzwischen mehr vor einer solchen «kulturellen Aneignung» sicher; ohne mit der Wimper zu zucken werden Beziehungsratgeber und Sachbücher auf die Bühne gebracht. Die Theaterverlage reagieren auf das gestiegene Interesse, indem sie statt neuer Theaterstücke in ihren Vorschauen immer mehr Vorlagen ankündigen, die sich angeblich zur Dramatisierung eignen. Hauptaugenmerk fällt dabei auf das Kinoprogramm und die Bestsellerlisten. Während es immer mehr unabhängige Verlage gibt, die für die Wiederentdeckung vergessener Literatur brennen und auch an den Opern der Kanon in regelmässigen Abständen erweitert wird, scheint man sich in den Dramaturgien unserer Stadt- und Staatstheater darauf geeinigt zu haben, lieber die altbekannten Klassiker zu spielen und hin und wieder ein paar neue Dramatisierungen und Dekonstruktionen von allgemein beliebten Stoffen dazwischenzuschieben. Aufregende Programmgestaltung sieht anders aus.

Was könnte man stattdessen alles spielen! Jetzt, heute, hier, wo die Sehnsucht nach Erzählung und Identifikation, zumindest nach den Massstäben des allgemeinen Serienkonsums zu urteilen, bei einer jüngeren Generation wächst wie lange nicht mehr. Was könnte man da für Stoffvergleiche anstellen, was für Wirkungsgeschichten aufzeigen – auf den Zeitgeist eben nicht nur mit Aktualitätsversprechen antworten, sondern mit einer enthusiastischen Gegenfrage. Nicht darüber verzweifeln, was das mit uns zu tun haben könnte, sondern neugierig danach suchen, womit wir immer noch nicht fertig geworden sind. Mit einer so starken Subventionierung im Rücken, wie sie deutschsprachige Theater noch haben, müsste hier doch eigentlich jedes Abenteuer, jedes Risiko möglich sein.

«Nicht nur den Laien müsste ja eigentlich erstaunen,

mit welcher Einfallslosigkeit an unseren Theatern

immer wieder dieselben Stücke aufgeführt werden,

als umfasste der allgemein spielbare Kanon nur etwa fünfzehn Autoren.»

 Wir brauchen einen anderen «Turn»

Was könnte man also spielen? Das ist die Ausgangsfrage einer Initiative, die unter dem Titel «Spielplanänderung» mit grosser Neugier versucht, den konventionellen Spielplanmachern zu Unrecht in Vergessenheit geratene Theaterstücke ins Gedächtnis zu rufen. Wir wollen dafür sorgen, dass verschiedene Werke aus ihrem unverdienten Exil befreit und als Kronzeugen einer anderen Welt ins Zentrum eines imaginär-alternativen Spielplans gestellt werden. Es geht dabei nicht um Kuriositäten, um Abseitiges oder Obskures, sondern um zentrale Werke europäischer Theaterkunst, die auf unsere Bühnen gehören, weil sie dieser Zeit etwas zu sagen oder ästhetisch Aufregendes zu bieten haben.

Keine kritische Revision des Höhenkamms ist das Ziel, sondern ein enthusiastisch werbender und Spannungsverhältnisse herstellender Blick in die Magazine: Gibt es wirklich niemanden neben Strindberg und Ibsen? Wen kennen wir ausser Beckett und Ionesco? Könnte sich das repräsentative Interesse an Geschlechtergerechtigkeit nicht auch einmal inhaltlich zeigen? Mehr Dramatikerinnen gespielt werden? Welche jüdischen Theaterautoren haben wir vergessen? Welche Dramenfragmente lohnen einen zweiten Blick? Wie viel Sturm und Drang geht dem Theater verloren, wenn es keinen Byron spielt? Welche Sprache fehlt uns ohne die Sätze von Anna Gmeyner? Oder die von Alexander Blok? Welche fremden Seelen lernen wir kennen bei George Sand, Dagny Juel oder Aphra Behn? Was für ein funkelnder Gegenkanon liesse sich bilden mit de Vega, Ostrowski, Molnár, Carrington und Shaw? Wie noch einmal anders könnte man auf die deutsche Geschichte schauen durch die Augen von Jakob Lenz, Karl Schönherr und Max Herrmann-Neisse? Was alles an Russland verstehen durch «Tarelkins Tod» oder «Phoenix»? Welche Antike lebt fort in Hebbels «Herodes und Mariamne», Hans Henny Jahns «Medea» und Peter Hacks’ «Senecas Tod», wie nah rückt uns Byzanz in Andreas Gryphius’ «Leo Armenius»? Wie viel weniger lachen wir ohne die Stücke von Gustav Wied, August von Kotzebue oder Jean Anouilh? Wer erinnert sich an Pablo Picassos surrealistisches Drama? Wer kennt den Theatertext zum Film «Frankie and Johnny»? Wird Else Lasker-Schülers «Wupper» wirklich oft genug gespielt? Und Turgenjews «Monat auf dem Lande»? Und Fleissers «Starker Stamm»?

Neben der Anthologie wird es voraussichtlich insgesamt drei «Lange Nächte der vergessenen Stücke» geben – in Berlin, Salzburg und in Bern. Dabei werden Schauspielerinnen und Schauspieler aus Stücken lesen und dadurch ihr zeitgenössisches Potenzial prüfen, werden junge Choreografinnen und Filmregisseure ihre Fantasien über einzelne Stoffe präsentieren, Dramaturgen, Wissenschafterinnen und Kritiker den Wert des Theaterstücks im 21. Jahrhundert diskutieren, werden Bands Texte aus fremden Zeiten vertonen, wird ein DJ bis in die Morgenstunden dramatische Musik auflegen…

Was die Abende, was die Initiative als Ganzes ausmachen soll, ist das Gefühl von Reichtum: Es gibt so vieles, wir kennen so wenig! Angetrieben von einer enthusiastischen Goldgräberstimmung und poetischer Entdeckerlust, lautet die Forderung: mehr Vielfalt! Nicht nur innerhalb der Ensembles, sondern auch bei den monatlichen Programmankündigungen. Die vergessenen oder noch gar nie entdeckten Stücke, die empfohlen werden, stammen aus vier verschiedenen Jahrhunderten. In ihrer stilistischen, dramaturgischen und programmatischen Unterschiedlichkeit bilden sie zusammen den Entwurf eines Spielplans jenseits des konventionellen Kanons. Sie machen Lust auf ein ausgefallen literarisches Theater. Ein Theater, das sich aus den verschiedenen Sprachräumen, Ideengeschichten und Wertevorstellungen speist, das sich durch ästhetische und ideologische Traditionen anregen lässt und sowohl der wissenschaftlichen Musealisierung als auch der pop-populistischen Preisgabe der Texte entgegentritt. Es geht um die Wiederentdeckung verloren gegangener Geschichten, ausgeschlossener Figuren und vernachlässigter Sprechweisen. Um ein neues, antiidentitäres Bewusstsein des Miteinanders und den alt-neuen Streit um eine Eigenart der dramatischen Gattung. Darum, jetzt, in diesem Moment, noch einmal so zu tun, als wäre mit diesem, unserem Theater alles möglich. Als müssten wir keinen «Turns» gehorchen, uns nicht hintenanstellen und laut «Post» sagen, weil sich sonst vorne alle böse umschauen. Als gäbe es kein Vorwärts und Zurück, kein Hinten und Vorne, als spielte die Zeit keine Rolle bei der Bewertung von Sätzen und Sinnestäuschungen, als wäre die Wirkung alles. Und das Theatertreffen nichts.

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