Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos
«Das Herz und die ­Geschichte der Szene werden hier aufbewahrt»
Hansueli von Allmen, fotografiert von Vojin Saša Vukadinović.

«Das Herz und die ­Geschichte der Szene werden hier aufbewahrt»

Hansueli von Allmen, langjähriger Stadtpräsident von Thun, betreibt das wichtigste Cabaretarchiv der Schweiz. Sein grösster Schatz ist eine Schachtel mit der Aufschrift «Zensur».

 

Herr von Allmen, seit 1972 leiten Sie das Cabaretarchiv in Thun. Wie kam es zu dieser Sammlung?

Mein Lehrer hat in meiner Abschlussklasse ein Schülercabaret veranstaltet, und mich begann diese Kunstform dann sehr zu interessieren. Als junger Mann schaute ich mir die Grössen der damaligen Cabaretszene in Thun an und habe mehr oder weniger unbewusst Plakate und Fotos der Veranstaltungen mit nach Hause genommen. Weil ich ein eher ordentlicher Typ bin, habe ich diese Dokumente klassiert. Anfang der 1970er-Jahre hatte ich die ersten Ordner im Schrank stehen. Das wurde zu einer Leidenschaft – so wie andere Bergblumen, Schmetterlinge und Steine sammeln, bin ich in der Schweiz eben der Einzige, der die hiesige Kleinkunst dokumentiert.

Wieso, meinen Sie, hat das vor Ihnen niemand gemacht?

Die Schweiz weist ein sehr dichtes Netz an Veranstaltungen auf. Jedes dritte Dorf verfügt über ein kleines Lokal, ­einen Keller oder einen ähnlichen Ort für Aufführungen, und wenn man das dokumentieren möchte, braucht es sehr viel Enthusiasmus, denn Geld ist damit nicht zu verdienen. Es ist mein Hobby und meine Leidenschaft. Selbstverständlich gibt es auch in den Schweizer Bibliotheken und in anderen Archiven Dokumente, allerdings nirgends eine solch vollständige Sammlung.

Hüten Sie besondere Schätze?

Ja, und zwar die 20 Archivschachteln mit Material, das die gesamte Geschichte des legendären Cabaret Cornichon von 1934 bis 1951 abdeckt – zum Leidwesen vieler Zürcher stehen diese Ordner nicht in Zürich, sondern hier in Thun!

Warum ist die Schweiz so reich an Bühnenkultur?

Die grossen Theater mögen für viele nicht so zugänglich sein, weil sie in den grossen Städten sind. Deshalb gibt es neben der hohen Kunst – Oper, Schauspiel – eben auch die Sparte Kleinkunst, die ihre eigenen Aufführungsorte hat. Viele Liedermacher oder Cabaretensembles haben an diesen kleinen Orten in ihren Heimatorten vor 30 bis 50 Zuschauern begonnen.

Hat der Dialektreichtum des Landes diese Vielfalt mit ­hervorgebracht?

Natürlich. Es gibt nur wenig Kleinkunst auf Hochdeutsch. Das meiste ist im Dialekt, und all die im Archiv versammelten Chansonniers und Liedermacher sind in ihrer jeweiligen Mundart dokumentiert. Hinzu kommt, dass im Archiv alle vier Sprachregionen vertreten sind.

Wie ist Ihre Sammlung organisiert?

Sie besteht aus 750 Archivschachteln, in denen Fotos, Plakate, Programmhefte, Texte, Musiknoten, Fotos, Briefe und Prozessakten aufbewahrt werden – einfach alles, was sich zu einem bestimmten Künstler oder zu einem Ensemble ­finden lässt. Darüber hinaus stehen hier 2000 Bücher, vor allem Fachliteratur, zum Thema. Wenn jemand eine Arbeit über Franz Hohler schreiben möchte, findet er hier also nicht nur seine Schriften, sondern auch das, was über ihn publiziert worden ist. Zudem werden hier noch 5000 Tonträger aufbewahrt, vorwiegend aus den Sparten Cabaret, Chanson und Mundartrock. Darunter sind 2000 Schallplatten. Organisiert sind die Informationen in einem Zettelkastensystem, das aus 90 000 Karteikarten besteht. Das erlaubt es Besuchern, rasch die gewünschten Dokumente zu finden.

«Jedes dritte Dorf verfügt

über ein kleines Lokal,

einen Keller oder einen

ähnlichen Ort für Aufführungen,

und wenn man das

dokumentieren möchte,

braucht es sehr viel Enthusiasmus,

denn Geld ist damit nicht zu verdienen.»

Wie erhalten Sie denn die relevanten Informationen?

Jeden Freitag bekomme ich ein dickes Kuvert von einem ­Medienbeobachtungsdienst mit Presseausschnitten zu meinem Thema. Wenn zum Beispiel in Schaffhausen ein neuer Liedermacher auftritt, erfahre ich das aus einem Artikel aus den «Schaffhauser Nachrichten». Gleiches mit dem Engadin oder dem Tessin. Ich brauche Lokalmedien, um zu erfahren, dass etwas aus meiner Sparte passiert. Ich schreibe dann den jeweiligen Künstler oder die Künstlerin an und bitte ­darum, uns relevantes Material zukommen zu lassen. Da muss man am Ball bleiben und öfters nachfragen, sich mitunter sogar unbeliebt machen. Das Archiv ist nur so umfangreich geworden, weil ich so hartnäckig bin. Manchmal hilft meine Mit­arbeiterin Elisabeth Lanz hier telefonisch nach.

Gibt es etwas, das Sie nicht sammeln?

Meine primären Themen sind Schweizer Cabaret, Chansons, Liedermacher, Mimen, Mundartrock. Comedy und Slam-­Poetry sind in den letzten Jahren dazugekommen. Was die inhaltlichen Kriterien angeht, ist es so, dass ich etwas auch dann dokumentiere, wenn ich es nicht gut finde oder wenn es unter der Gürtellinie ist. Ich dokumentiere eine Szene, ich bewerte nicht, was gut und was schlecht ist. Das wäre auch verhängnisvoll. Ich habe einmal bei einem Künstler eine kritische Plattenbesprechung gemacht. Darauf kommunizierte er mir, dass er mir nichts mehr schicken werde.

Was sagt Ihre Sammlung über die Schweizer Kleinkunstszene aus?

Es bräuchte einige Monate, um sich durch die gesamte Sammlung zu lesen. Wer das machen würde, hätte anschliessend einen sehr detaillierten Einblick in die Schweizer Cabaretgeschichte seit 1916. Unser ältestes Material stammt vom Cabaret Voltaire in Zürich, das damals gegründet worden war. Die nachfolgenden 106 Jahre sind hier sehr umfänglich dokumentiert. Das Herz und die ­Geschichte der Szene werden hier aufbewahrt.

Was gibt es auf Schweizer Bühnen, das es andernorts nicht gibt?

Zunächst einmal gibt es hier eine immense Dichte an Veranstaltern, Künstlerinnen und Künstlern, die sich in der Sparte Kleinkunst bewegen.

Längst nicht alle Beteiligten konnten oder können von ihrer Kunst leben.

Nur die wenigsten können von ihrer Tätigkeit auf Kleinkunstbühnen leben. Ich würde schätzen, dass das höchstens 20 Prozent sind, die in dieser Szene aktiv sind. Die meisten haben Nebenerwerbe. Sie sind etwa Musiklehrer oder arbeiten Teilzeit in einem anderen Beruf. Ich kenne keinen Künstler, der in einer Villa lebt. Die meisten leben sehr bescheiden und sind darauf angewiesen, aufzutreten.

Wie werden Komiker und Musiker in der Schweiz bezahlt?

Nicht schlecht, jedenfalls besser als in Deutschland. Deshalb kommen Künstler aus Deutschland gerne in die Schweiz. Bei den hiesigen Künstlern ist es so, dass viele von ihnen anfänglich für 500 Franken auftreten. Allerdings ­haben sie nicht montags bis freitags Auftritte, sondern oftmals nur am Freitag und am Samstag. Es braucht grosse Anstrengungen – seien es eigene, sei es seitens einer Agentur –, um zu einem Auftritt in einem Kleintheater zu kommen.

Welche Rolle spielen Kultursubventionen?

Das Geld der öffentlichen Hand geht meist an die Veranstalter, nicht an die Künstler – es sei denn, wenn sie ein Projekt einreichen und ihnen ein halbes Jahr Auszeit ermöglicht wird. Die meisten Kleintheater bekommen kleinere oder grössere Beiträge. Diese Summen dienen vor ­allem dazu, um die Werbung und die Infrastruktur des Veranstaltungsortes sicherzustellen.

Wie finanzieren Sie das Archiv?

Ich habe mich nie darum bemüht, dass die öffentliche Hand mein Archiv unterstützt. Ich hatte stets den Eindruck, dass das ohnehin keine Chance hätte. Ich stelle ­Gesuche bei den bekannten Institutionen – bei der Stadt Thun, dem Kanton Bern, der Migros, meiner Bank – und komme so auf etwa 10 000 Franken im Jahr. Mein Budget beläuft sich auf ungefähr 35 000 Franken pro Jahr. Ein ­Drittel davon ist Entschädigung für den Wohnraum, ein weiteres Drittel sind die Kosten für den Argus sowie die Lohnkosten für meine Mitarbeiterin und knapp ein Drittel ist eben mein Hobby. Und das ist in Ordnung so. Durch meine vormalige berufliche Tätigkeit bin ich nicht auf ­weitere Zuschüsse angewiesen.

«Das Geld der öffentlichen Hand

geht meist an die Veranstalter,

nicht an die Künstler.»

Das Archiv hängt an Ihnen als Privatperson. Sie sind 76 Jahre alt. Haben Sie die Pläne für eine Nachfolge?

Ja. 1996 habe ich eine notarielle Vereinbarung über eine Schenkung an die Schweizerische Theatersammlung gemacht, die inzwischen in der Stiftung SAPA aufgegangen ist. Bei meinem Ableben oder im Falle, dass ich eines Tages keine Lust mehr haben sollte, wird sie laut Vertrag alles ­innerhalb von drei Monaten übernehmen.

Wer nutzt Ihr Archiv?

Ich habe mittlerweile drei vollgeschriebene Gästebücher, in denen sich alle verewigt haben, die bislang hier gewesen sind. Die primären Besucher sind nach wie vor die Künstler selbst, was wohl daran liegt, dass ich sie unentwegt ermuntere, vorbeizuschauen. Wissenschafter und Journalisten sind auch stark vertreten. Im Schnitt habe ich zwei Besucher pro ­Monat, aber ich bemühe mich auch nicht darum, dass es mehr werden, weil mir das Zeit nimmt.

Sie haben eine Angestellte, Elisabeth Lanz. Wie sind die Aufgaben verteilt?

Ich bin für die Akquise von neuem Material zuständig und besorge die Neuerscheinungen. Die überreiche ich meiner Mitarbeiterin, die dann alles bearbeitet und archiviert.

Gibt es Material, das Ihnen besonders am Herzen liegt?

Allerdings. Es handelt sich um die Schachtel «Zensur». ­Darin findet sich das Material zum Cabaret Cornichon, dessen Vorstellungen während des Zweiten Weltkriegs von der Kantonspolizei Zürich besucht wurden. In den Dokumenten ist minutiös festgehalten, wie der Kantonspolizist bei den Aufführungen jedes Wort mitsteno­grafierte, das auf der Bühne gesagt wurde. Gleichzeitig sassen in derselben Vorstellung die Mitglieder der ­NSDAP-Ortsgruppe Zürich, die ebenfalls aufmerksam ­notierten, ob etwas über Hitler oder über Mussolini gesagt wurde. Das haben sie dem Konsul gemeldet und der dann dem Botschafter.

Was passierte dann?

Es folgten Kontroversen in Bern mit den eidgenössischen Instanzen. Der Chef der eidgenössischen Fremdenpolizei, der legendäre Heinrich Rothmund, intervenierte beim «Cornichon». Es gibt auch ein Schreiben des Bundesrats Marcel Pilet-Golaz an Bundesrat Eduard von Steiger, man solle die Achsenmächte nicht zu sehr provozieren. Das «Cornichon» selber erprobte daraufhin Ausweichstrategien: So war in einer Nummer von den Herren «A» und «B» die Rede, wobei «Herr A» natürlich Adolf Hitler und «Herr B» Benito Mussolini war. Die Kiste mit diesen Dokumenten ist für mich die politisch interessanteste der Sammlung.

Wie schätzen Sie die Kleinkunstszene momentan ein?

Es ist eine Vielfalt entstanden, und vieles lässt sich nicht mehr eindeutig einem Genre zuordnen. Die Ränder fransen aus, und es ist oft nicht mehr klar, ob das überhaupt ein Thema für mich ist. Manches, das heute auf den Bühnen gezeigt wird, spricht mich nicht an – Stand-up-Comedy vor allem, mit der ich nicht mehr warm werde, die ich aber dennoch dokumentiere. Bei den Jüngeren kommt ein technisches Problem dazu: Ich sollte immer mehr Material von Webseiten runterladen. Das ist aber nicht dasselbe. Ich freue mich als Papiermensch über dicke Couverts mit ­Programmheften, Fotos und Plakaten.

Gibt es eine Form aus dem 20. Jahrhundert, die mittlerweile von den Bühnen verschwunden ist?

Ja, und zwar fast alle Ensemblecabarets. Bis in die 1990er-Jahre gab es viele Gruppen, sie bestanden aus fünf, sechs, manchmal sieben Personen auf der Bühne und waren häufig Laien. Bei den heutigen Gagen können sie nicht mehr existieren. Heute gibt es fast nur noch Duos oder Solokünstler. Das ist eine markante Veränderung.

Wen schauen Sie sich besonders gerne an?

Ich habe gern den feinen Humor, der zwischen den Zeilen wirkt. Schenkelklopfer liegen mir nicht so. Von den heute Aktiven mag ich Ursus & Nadeschkin, Bänz Friedli, Luna Tic, Schertenlaib und Jegerlehner oder Lisa Catena. Ich könnte sicher 30 aufzählen.

Gibt es eine besondere Freude am Sammeln?

Ja, und zwar das tägliche Warten auf den Briefträger, denn ich erwarte ja in der Regel eine Menge Neuerscheinungen. Wenn die Post kommt, schaue ich sofort, ob es ein schöner Tag für mich wird oder ob ich mich mit der NZZ abfinden muss.

Hat man Ihre Tätigkeit eigentlich je gewürdigt?

1996 habe ich den Ehrendoktortitel der Universität Freiburg erhalten, weil von dieser Uni stets Studenten hierherkamen, die zu den Themen Theater, Mundart, Kleinkunst recherchierten und ihren Professoren berichteten, wie toll die Sammlung sei. So kam es dann zur Würdigung meiner Person. Ich war nur eine Stunde in meinem Leben an einer Universität und kam mit einem Doktortitel raus!

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!