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«Unsere Aufgabe ist das  künstlerische Experiment»
Julia Reichert, fotografiert von Flavio Karrer.

«Unsere Aufgabe ist das
künstlerische Experiment»

Theater muss nicht dem Massengeschmack entsprechen,
um legitim zu sein.

Wir führen dieses Interview Ende April per «Zoom». Nicht nur die Schweiz hat seit Wochen eine Schliessung der meisten öffentlichen und privaten Einrichtungen verhängt. Die Co-Direktorin des Zürcher Theaters am Neumarkt, Julia Reichert, erscheint vor einer Bergkulisse – allerdings zu Hause, sie sitzt auf dem Balkon vor einem Green Screen.

Die Theater sind zu, aber das Leben geht weiter.
Wie kommen Sie gerade klar?

Einerseits läuft die Planung für die nächste Spielzeit auf Hochtouren, auf beweglichem Untergrund, weil wir noch am Herausfinden sind, was in puncto Spielpläne und Programm möglich ist. Andererseits produzieren und proben wir weiter, in teils neuen Formationen, auch über «Zoom». Wir hatten für «Transit Rhodos» beispielsweise eine Ausstellung mit Livelesung alttestamentarischer Texte zum Thema Flucht in Planung. Die wird nun nicht live, sondern als Videoarbeit entwickelt und gezeigt. Insgesamt erproben wir unterschiedliche Formen. Selten passiert sogar auch was im Saal, etwa Aufnahmen, die wir unter erhöhten Sicherheitsbedingungen und mit sehr reduziertem Personal, mit zwei Metern Abstand, durchführen. Es ist auch eine interessante Zeit, die einen zwangsweise mit grundlegenden Fragen konfrontiert – das erlebe ich als sehr anstrengend, aber durchaus auch produktiv, sehr inspirierend.

Und es ist auch eine Gelegenheit, grundsätzliche Fragen zu vertiefen. Der Schauspieler Fabian Hinrichs hat einmal eine Debatte über den Beruf des Schauspielers angestossen. Er findet, dass der Schauspieler zum blossen Dar-Steller verkomme, zu einer Servicekraft des Theaterbetriebs. Ist das bei Ihnen auch Thema?

Das hängt davon ab, wer jeweils am Werk ist. Aber ich sehe durchaus Schnittmengen mit Hinrichs. Ich denke, das klassische Regietheater hat schon bestimmte Formen gefördert, die Spieler und Spielerinnen auf gewisse Art und Weise beengen können. Uns hat von Beginn unserer Intendanz an interessiert, in einem Team zu arbeiten, wo Darstellerinnen auch als eigenständige Künstlerinnen gefragt sind und nicht als Ausführende eines Regiekonzepts. Unser Zugang ist der einer Diversifizierung der Ansätze und auch ein Bekenntnis zu darstellenden Künstlerinnen als Co-Autoren eines Prozesses. Ich würde die Forderung nach grösserer künstlerischer Autonomie und Souveränität, die Hinrichs aufstellt, noch weiter verstanden wissen wollen: Es sollte nicht bei Darstel­lerinnen halt machen, sondern sich auf künstlerische Teams insgesamt beziehen.

Wie sieht das dann bei Ihnen konkret aus?

Das läuft nicht nach Schema F oder lässt sich nicht auf eine bestimmte Arbeitsweise versteifen: Verschiedene Formen der Zusammenarbeit werden je nach Fall ausgehandelt. In dieser Spielzeit hatten wir diverse Arbeitsweisen: Stücke, die aus Improvisation entstanden sind oder die Darstellende gemeinsam mit der Regie entwickelt haben, aber auch Arbeiten, die auf einem dramatischen Text basierten. Und es gab eine Arbeit, «Nouvelle Nahda», unsere internationale Co-Produktion mit dem hybriden Kunstort «Station» in Beirut, von der das Team bislang nur digital, in einer Onlinepublikation und Künstlergesprächen, zeigen konnte, wor­an es arbeitet. Die Premiere holen wir hoffentlich in der nächsten Spielzeit nach. In dem Fall sind alle beteiligten Künstler Co-Au­torinnen der Arbeit.

Können Sie ein Beispiel von einem Stück nennen, bei welchem Sie selber überrascht waren, dass es so zugkräftig war, und wo sich das Experimentieren gelohnt hat?

Wir sind ja als Führungsteam erst seit Sommer 2019 aktiv. Ein «Publikumshit» der letzten Saison war «Gebrochenes Licht», der Text einer jungen Autorin aus Syrien, fast immer ausverkauft. Der grosse Anklang beim Publikum hat uns darin bestärkt, weiter auf Themen zu setzen, für die man brennt und an die man glaubt. Weil ein Publikum durchaus in der Lage ist, sich darauf einzulassen, auch wenn es vielleicht den Titel noch nicht kannte und es keiner der «Evergreens» des Theaters ist.

Was war ausschlaggebend für den Erfolg? Die Aktualität?

Woran es wirklich lag, müssten Sie das Publikum selbst fragen. Der Syrien-Konflikt ist ja keine neue Entwicklung. Ich denke, es war eine Mischung: eine starke, intensive Arbeit mit grosser poetischer Kraft eines Textes und mit einem Thema, das sich im Zeitraum der Aufführung noch zusätzlich aktualisierte.

«Nichts gegen Unterhaltung,

aber einer Gesellschaft tun

auch Formen jenseits des ganz

Populären gut.»

Wie sehen Sie das: Bedient das Theater nicht eine bestimmte Klientel, die sogenannte «linksgrüne Bubble»? Und beschränkt sich das Theater dadurch nicht letztlich selbst?

Man braucht sich nicht in die Tasche zu lügen. Das Theaterangebot spricht – in der Tendenz – zuerst einmal bestimmte gesellschaftliche Gruppen an, und andere nicht oder weniger. Ich denke, dass das eine der grossen Herausforderungen ist, das so porös wie möglich zu machen, unterschiedliche Angebote zu machen.

Machen Sie so was? Gibt es konkrete Stücke, die vielleicht Liberale oder «Rechte» ansprechen? Sie verwalten ja auch öffentliches Geld…

Unsere Zielgruppenarbeit fokussiert weniger auf politische Couleur, eher auf Themen und Interessen.

Stichwort «Stadt-Land-Schere». Wie gewinnen Sie das ländliche ­Publikum?

Das ist eine gute Frage. Das letzte Dorf im hintersten Aargau zuzuplakatieren, wird für uns schwierig. Das schaffen wir mit unseren Mitteln nicht. Wir sind eher ein städtisches Theater…

Aber Sie werden auch durch den Kanton Zürich gefördert. Dort hat es auch Dörfer…

Das schon. Wir versuchen, relevante Debatten anzustossen, und hoffen, dass diese eine Reichweite bekommen. Natürlich ist es trotzdem auch eine Frage des richtigen Verhältnisses der Marketinganstrengungen. Wir müssen unserer Grösse gemäss arbeiten.

Der Theaterkritiker und Publizist Simon Strauss regt eine Spielplan­änderung mit älteren, vergessenen Stücken an. Sehen Sie diese ­ungehobenen Schätze ebenfalls oder sagen Sie: Na ja, vielleicht gibt es gute Gründe, warum das nicht mehr gespielt wird?

Ich denke beides. Erst mal habe ich schon eine grosse Sympathie für diesen Aufruf, den er gemacht hat. Es lohnt sich, das Erbe genauer abzuklopfen, jenseits der Dinge, die obenauf liegen, und dabei auch den Kanon zu hinterfragen, der sich selbst reproduziert. Ich glaube auch, dass es viele ungehobene Schätze in der Literaturgeschichte gibt. Wir haben uns für Zeitgenossenschaft entschieden: Unsere Aufgabe ist auch das künstlerische Experiment. Wir legen stärker einen Fokus auf die neue Generation. Aber grundsätzlich ist es extrem interessant, in die Vergangenheit zu blicken und zu schauen, was einem da begegnet.

Wie mutig kann ein Theater überhaupt sein? Mut muss man sich ja auch leisten können. Das geht mit Subventionen auch nur bedingt oder?

Das möchte ich so fast nicht stehen lassen. Es gibt privilegiertere Situationen und weniger privilegierte.

Aber wie frei kann man sein, wenn man Subventionen bezieht? Muss man da nicht immer darauf achten, den Geldgeber nicht zu verprellen? Ich denke an ein konkretes Beispiel, das Stück «Schweiz entköppeln», da hat Ihnen der Kanton danach 50 000 Franken gestrichen.

Dazu kann ich nichts sagen, damals war ich nicht am Haus.

Aber Sie haben eine Meinung dazu? Man spürt ja dann Grenzen oder nicht?

Ich würde eher grundsätzlich sagen: Eine Gesellschaft fördert Theater, weil sie sich eine freie Kunstform wünscht. Was passiert, wenn es wegfällt, das kann man sich im Londoner Westend angucken, oder: das erfolgreichste Theaterstück auf europäischem Boden ist «Starlight Express». Ein Stück über singende Züge… Nichts gegen Unterhaltung, aber einer Gesellschaft tun auch Formen jenseits des ganz Populären gut.

Was wäre ein Traumstück für Sie, bei dem Sie sagen würden, damit hätten Sie einen Abdruck hinterlassen. Und wann hatten Sie diese Situation zuletzt?

Ich könnte da jetzt mehrere nennen. Wir haben das Theater kurz vor dem Coronaausbruch mit «Wellness Retrotopia» in eine Wellnesslandschaft verwandelt, mit Sauna und künstlerischem Programm. Die Schweiz hat ja auch eine Tradition des Sanatoriums, siehe Thomas Manns «Zauberberg». Die Zuschauer hatten eine grosse Freiheit und Offenheit, sich auf einen Raum zwischen Entspannung und künstlerischer Performance einzulassen. Es kamen viele Menschen, die zuvor noch nie bei uns waren – zum Teil mehrmals. Das war wirklich entzückend.

Wie kam das beim Publikum an?

Die schönste Rückmeldung, die ich bekommen habe, war von einer Zuschauerin, die danach sagte, bei Lesungen schlafe sie ein und bei Wellnessoasen kriege sie Stress, sich entspannen zu müssen. Bei uns, durch die Verbindung von künstlerischem Setting und tatsächlicher Wellness, konnte sie beides geniessen. Bei einer Lesung, bei der man auch eingeladen war, einzuschlafen, hörte sie besser und genauer zu denn je – oder sie vertiefte sich, von der Sauna aus, in eine Akustikperformance. Das führte für sie tatsächlich zu einer neuen Erfahrung: einer anderen Entspannung, aber auch einem anderen Kunstgenuss.

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