
«Es ist erstaunlich, wie leicht es war, die Massnahmen
einzuführen – und wie
unglaublich schwierig, sie
wieder aufzuheben»
Die Eigenverantwortung spielte bei der Bewältigung der Pandemie eine entscheidende Rolle, sagt Schwedens früherer Chefepidemiologe Anders Tegnell. Der schwedische Ansatz erwies sich nicht nur als wirksam, sondern stärkte auch das Vertrauen der Bevölkerung.
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Anders Tegnell, vor fünf Jahren rief die Weltgesundheitsorganisation WHO die Pandemie aus. Weshalb verfolgte Schweden einen anderen Ansatz als die meisten Länder?
Eigentlich unterschied sich unser Ansatz gar nicht so sehr von dem anderer Länder. Wir alle verfolgten dasselbe Ziel: die Kontakte zwischen Menschen zu reduzieren, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Einige glaubten zwar, sie könnten die Pandemie ganz stoppen, doch sobald eine Pandemie ins Rollen kommt, ist sie schwer zu stoppen. Man kann jedoch beeinflussen, wie sie verläuft. Der Schlüssel liegt in der Reduzierung zwischenmenschlicher Kontakte, wodurch die Ausbreitung des Virus eingedämmt wird. In Schweden gelang uns dies durch unsere bestehenden Strukturen und das starke Vertrauen zwischen Bevölkerung, Regierung und Behörden. Unsere Erfahrung zeigt, dass freiwillige Massnahmen und eine klare Kommunikation unserer Ziele sehr wirksam sein können – statt den Menschen genau vorzuschreiben, wie sie sich zu verhalten haben.
Sie legen also viel Wert auf Vertrauen und Eigenverantwortung.
Genau. Eigenverantwortung ist entscheidend. Manche Menschen können von zu Hause aus arbeiten. Andere, die ins Büro gehen müssen, können sich anpassen, indem sie statt öffentlicher Verkehrsmittel das Fahrrad nehmen oder den Stosszeiten ausweichen. Wir haben viele Hinweise darauf, dass die Menschen ihr Leben während der Pandemie deutlich verändert haben.
Schweden hatte bereits zuvor gute Erfahrungen mit freiwilligen Empfehlungen gemacht.
Ja, ich verweise oft auf unser Kinderschutzimpfungsprogramm, bei dem wir seit Jahrzehnten konstant eine Durchimpfungsrate von 98 Prozent erreichen.
Inwieweit basierten die Massnahmen verschiedener Länder auf Evidenz und inwieweit imitierten sie einfach andere Länder? Chinas Regierung hatte doch einen grossen Einfluss. Nachdem China sehr strenge Massnahmen ergriffen hatte, folgten viele andere Länder mit ähnlich strengen Lockdowns, die sie unter anderen Umständen womöglich nicht ergriffen hätten.
Ich frage mich manchmal, was passiert wäre, wenn diese Krankheit in einem Land ausgebrochen wäre, das nicht wie China zu Lockdowns und strengen Massnahmen gegriffen hätte. Bei der vorangegangenen Pandemie, die in Mexiko und den USA begann, wurden solche Massnahmen gar nicht erst erwogen. Das Handeln der ersten betroffenen Länder hatte natürlich einen erheblichen Einfluss. Studien belegen sogar, dass der wichtigste Faktor für die Einführung eines Lockdowns in einem Land die Lockdowns in den Nachbarländern war. In Situationen ohne klare Evidenz ist Nachahmung weit verbreitet.
«Bei der vorangegangenen Pandemie, die in Mexiko und den USA begann, wurden solche Massnahmen gar nicht erst erwogen.»
Wie sind Sie vorgegangen?
Wir haben versucht, uns an den verfügbaren Daten zu orientieren. Zwar hatten wir anfangs keine wissenschaftlich gesicherte Evidenz, doch wir gewannen schnell Daten, sowohl lokal als auch aus anderen Ländern. Das gab uns eine solide Grundlage für die Art von Massnahmen, die wir ergreifen wollten. Die Frage der Schulschliessungen ist ein gutes Beispiel: Die Daten zeigten, dass Kinder selten schwer erkrankten und – besonders bei den frühen Virusvarianten – die Krankheit kaum weitergaben. Deshalb war für uns in Schweden klar, dass Schulschliessungen nicht nötig waren.
Würden Sie sagen, dass die Gefährlichkeit des Virus generell überschätzt wurde?
Zu Beginn wäre es gefährlich gewesen, das Risiko zu unterschätzen. Allerdings zeigt die Erfahrung, dass wir die Auswirkungen bei früheren Krankheitsausbrüchen stets überschätzt haben. Das liegt daran, dass zu Beginn lediglich die schwersten Krankheitsfälle sichtbar sind – alle anderen Fälle bleiben eine Art Black Box. Daher werden die Sterblichkeitsraten bei neuen Wellen solcher Krankheiten üblicherweise überschätzt. So auch diesmal. Allerdings traten auch neuartige Phänomene auf, wie all diese Post-Covid-Fälle – etwas, das wir aus früheren Pandemien nicht kannten.
Dennoch ist es erstaunlich, dass die Massnahmen in manchen Ländern weit über zwei Jahre andauerten.
Ja, das ist interessant. In Gesprächen mit Kollegen staunen wir immer wieder darüber, wie leicht es war, diese Massnahmen einzuführen – und wie unglaublich schwierig, sie wieder aufzuheben. Das ist eine weitere wichtige Lehre: Bevor wir harte Massnahmen einführen, brauchen wir einen klaren Plan für deren Aufhebung.
Warum war es so schwer, sie zu beenden?
Der Druck kommt von vielen Seiten, sowohl von der Öffentlichkeit als auch von anderen Akteuren. Wenn man strenge Massnahmen eingeführt hat, bekommen die Menschen Angst, und es ist schwierig, sie davon zu überzeugen, dass sie keine Angst mehr haben müssen.
Wie funktionierte die internationale Zusammenarbeit zwischen Staaten und Regierungsbehörden während der Pandemie?
Wir verfügten über etablierte Netzwerke, die während der Pandemie noch enger wurden. Eine zentrale Rolle beim internationalen Austausch von Informationen und Daten spielte das IHR-Netzwerk unter Führung der WHO. In Europa standen uns die EU-Netzwerke zur Verfügung. Diese grossen Netzwerke erleichterten zwar den Datenaustausch, boten jedoch wenig Raum für Dialog. Anders war es in den nordischen Ländern: Aufgrund unserer langjährigen Zusammenarbeit führten wir wöchentliche Treffen mit anderen Behörden durch, die sehr wertvoll waren. Auch wenn wir die Pandemie unterschiedlich handhabten, konnten wir uns gegenseitig darüber informieren, was geschah und weshalb wir bestimmte Entscheidungen trafen. Die internationale Zusammenarbeit erwies sich insgesamt als äusserst wertvoll.
Wie liesse sich die Zusammenarbeit verbessern?
Die Analyse der gemeinsam genutzten Daten könnte verbessert werden. Wir tauschten enorme Mengen an Informationen aus, doch niemand hatte die Zeit oder Ressourcen, um zu verstehen, was die Daten tatsächlich bedeuteten. Darüber hinaus benötigen wir auf internationaler Ebene ein effektiveres System für den Austausch von Ressourcen. Trotz laufender Gespräche über einen Pandemievertrag sind die Erfolgsaussichten eher gering.
Warum?
Es erweist sich als äusserst schwierig, eine Einigung über die konkreten Inhalte eines Pandemievertrags zu erzielen.
Halten Sie einen Pandemievertrag grundsätzlich für eine gute Idee?
Auf jeden Fall. Wir brauchen dringend ein System, um Ressourcen während einer Pandemie fair zu verteilen. Wenn wir die Ressourcen dort einsetzen, wo sie am meisten bewirken, kommt das allen zugute. Es wäre weder ethisch vertretbar noch praktikabel, ärmere Länder von dieser Verteilung auszuschliessen.
Manche Menschen befürchten eine zu starke Machtkonzentration auf internationaler Ebene und glauben, die WHO könnte sich zu einer Art Gesundheitsdiktatur entwickeln. Sind diese Sorgen berechtigt?
Die WHO wird niemals solche Machtbefugnisse erhalten. Sie hat ausschliesslich Kompetenzen, die ihr die Mitgliedsländer zugestehen – nicht mehr. Das bereitet mir keine Sorgen.
Was waren die Reaktionen auf Schwedens Pandemiestrategie?
Die Reaktionen fielen sehr unterschiedlich aus, auch wenn diese Vielfalt oft übersehen wurde. In den Medien schwankten die Bewertungen stark zwischen sehr positiv und sehr negativ, die Reaktionen in der Bevölkerung waren konstanter. Trotz gemischter Resonanz in den sozialen Medien genoss unser Ansatz breite Unterstützung in der schwedischen Bevölkerung. Unsere monatlichen Umfragen zeigten durchgehend, dass 75 bis 80 Prozent der Bevölkerung hinter uns standen.
Es gab erhebliche Kritik, besonders in ausländischen Medien und sozialen Netzwerken galten Sie als Symbol einer unverantwortlichen Politik. Wie sind Sie damit umgegangen?
Das war für mich nicht massgebend. In Gesprächen zeigten Kollegen aus anderen Ländern grundsätzlich Verständnis für unseren Ansatz. Sie schätzten ihn nicht als unverantwortlich ein. Aufgrund meiner Erfahrungen über die Jahre war mir klar, dass Medien eben nur Medien sind – sie sind nicht die Bevölkerung. Unsere Aufgabe besteht darin, den Menschen zu dienen und ihnen zu helfen, die Pandemie gut zu überstehen. Nicht die Medien sind entscheidend. Was zählt, ist die Bevölkerung.
«Aufgrund meiner Erfahrungen über die Jahre war mir klar, dass Medien eben nur Medien sind – sie sind nicht die Bevölkerung.»
Weshalb unterschied sich die Berichterstattung der Medien so stark von der Wahrnehmung in der Bevölkerung?
Das ist eine gute Frage. Ich glaube, die Medien haben eine Vorliebe für Konflikte. Sie denken, sie müssten bei jedem Thema gegensätzliche Stimmen präsentieren, um Spannung zu erzeugen.
Welche Kritikpunkte haben sich rückblickend als begründet erwiesen?
Mehrere Punkte waren durchaus berechtigt. Die Alters- und Pflegeheime bewältigten die Situation nicht zufriedenstellend. Zwar waren unsere Möglichkeiten eingeschränkt, nachdem die Pandemie bereits ausgebrochen war, doch hätten wir als Land vorab besser planen müssen. Auch die Kritik am mangelhaften Schutz von Einreisenden durch den Staat war berechtigt.
Was hätten Sie rückblickend anders gemacht?
Wir hätten bessere Vorräte anlegen müssen, sodass das medizinische Personal nicht täglich nach wichtigen Materialien suchen musste. Auch unsere Alters- und Pflegeheime hätten besser auf solche Ereignisse vorbereitet sein müssen.
Welche Rolle spielte die Impfung bei der Bewältigung der Pandemie?
Die Impfungen haben unser Gesundheitssystem gerettet. Als die dritte Welle im Frühjahr 2021 kam, waren die meisten gefährdeten Menschen in Schweden bereits geimpft, was den Druck auf das Gesundheitssystem erheblich reduzierte. Ohne Impfstoffe hätten die Spitäler zu diesem Zeitpunkt grosse Schwierigkeiten gehabt, die Patientenversorgung zu bewältigen. Allerdings trugen die Impfungen weniger zur Eindämmung der Pandemie bei als erhofft. Wir hatten auf ein Immunitätsniveau in der Bevölkerung gezielt, das die Ausbreitung deutlich verlangsamen würde. Dies ist leider nicht eingetreten.
Warum nicht?
Die Impfstoffe waren dafür nicht sehr gut geeignet. Sie verhinderten zwar schwere Erkrankungen und Intensivstationsaufenthalte, konnten aber nicht verhindern, dass sich Menschen infizierten. Auch reduzierten sie die Übertragung des Virus auf andere Menschen nur teilweise.
Wie sehen Sie die Impfung heute im Vergleich zum Anfang? Hat sich Ihre Einschätzung verändert?
Nicht wirklich. Die frühen Studien aus Israel zeigten ziemlich klar, dass der Impfstoff keinen Einfluss auf die Ausbreitung der Krankheit hatte.
Die offizielle Kommunikation erweckte dennoch den Eindruck, dass die Impfstoffe das Virus vollständig stoppen würden.
In Schweden haben wir von Anfang an kommuniziert, dass der Hauptzweck der Impfstoffe darin lag, gefährdete Bevölkerungsgruppen davor zu schützen, krank zu werden und ins Spital gehen zu müssen. Das waren unsere zentrale Botschaft und unser primäres Ziel.
Wurden die Nebenwirkungen der Impfungen unterschätzt?
Nein, die Nebenwirkungen waren erstaunlich gering. Zwar traten häufig leichte Reaktionen wie Fieber und Unwohlsein nach der Impfung auf, schwere Nebenwirkungen kamen jedoch äusserst selten vor. Bei einem bestimmten Impfstoff entdeckten wir einige besorgniserregende Effekte und stellten dessen Verwendung daraufhin umgehend ein. Durch umfangreiche Studien in den nordischen Ländern – wo wir über hochwertige Daten und gute Register verfügen – konnten wir eindeutig nachweisen, dass dieser spezifische Impfstoff zwar in bestimmten Altersgruppen zum Teil schwere Nebenwirkungen verursachte, die Impfstoffe insgesamt jedoch sehr sicher sind.
Was sind die wichtigsten Lehren für künftige Pandemien?
Die wichtigste Lehre ist, dass wir aus allen unseren Erfahrungen, den guten wie den schlechten, lernen müssen. Viele Unternehmen haben während dieser Zeit innovative Veränderungen eingeführt. Menschen erzählen mir häufig, dass sie neue, effektive Arbeitsweisen entdeckt hätten, die sie bis heute beibehalten würden. Diese wertvollen Erfahrungen müssen wir uns für die nächste Pandemie bewahren. Gleichzeitig müssen wir die aufgedeckten Schwachstellen beheben. Selbstverständlich variieren diese spezifischen Herausforderungen von Land zu Land.
Sehen Sie die Gefahr, dass Menschen nach den strengen Einschränkungen während der Covidpandemie beim nächsten Virus denken: «Na ja, es war ja letztes Mal nicht so schlimm», und die Empfehlungen oder Anordnungen der Regierung ignorieren?
Ja, aus vielen Ländern höre ich, dass das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Institutionen deutlich gesunken sei. Das ist eine ernsthafte Gefahr für die Bewältigung der nächsten Pandemie. Die Menschen nehmen offizielle Anweisungen dann möglicherweise nicht mehr ernst genug.
Und wie sieht es mit dem Vertrauensniveau in Schweden aus?
Das Vertrauen ist gestiegen.
Das ist ein weiterer Nachteil allzu strenger Massnahmen – sie untergraben das Vertrauen der Bevölkerung.
Vertrauen ist der Schlüssel. Harte Massnahmen können durchaus wirksam sein – vorausgesetzt, die Menschen sind von deren Nützlichkeit und Relevanz überzeugt. Entscheidend ist nicht die Härte der Eingriffe, sondern wie überzeugend man sie erklären und rechtfertigen kann.