
«Die weltweite Verschuldung bewegt sich in neuen Sphären»
Ökonomin Carmen Reinhart sieht düstere Zeiten auf die Weltwirtschaft zukommen, insbesondere in einkommensschwachen Ländern. Der Aufstieg der Gläubigermacht China macht die Lage komplizierter.
Read the English version here.
Frau Reinhart, wie hoch ist derzeit die weltweite Staatsverschuldung?
Soweit ich das beurteilen kann, befinden wir uns hinsichtlich der staatlichen Schulden auf einem Rekordniveau, das sogar die grossen Kriege des letzten Jahrhunderts übertrifft. Ebenfalls hoch sind die privaten Schulden, die nach einer Krise oft zu öffentlichen Schulden werden. Wenn man diese miteinbezieht, so bewegt sich die weltweite Verschuldung in neuen Sphären.
Wie ist es dazu gekommen?
Dafür gibt es keine einfache Erklärung, die Verschuldung hat sich über einen langen Zeitraum hinweg aufgebaut. In den 1980er-Jahren, als Paul Volcker die Geldpolitik straffte und die Zinsen stark anhob, war die Verschuldung der privaten Haushalte in den USA etwa halb so hoch wie heute. Seither ist sie stetig angestiegen – mal ein bisschen zügiger, mal ein bisschen weniger stark. In den letzten 15 Jahren war das Wachstum aber besonders rasant. Teil der Erklärung sind sicherlich die aussergewöhnlich niedrigen Zinssätze, die die Kreditaufnahme billig gemacht haben. Negative Realzinsen sind eigentlich nichts anderes als eine Einladung zur Überschuldung, eine Umverteilung von Sparern zu Schuldnern. Nebenher haben Grossereignisse wie die globale Finanzkrise und die Pandemie zu sprunghaften Anstiegen der Verschuldung geführt.
Was sind die Folgen der Zinserhöhungen der jüngeren Vergangenheit?
Das kam natürlich als Reaktion auf einen Inflationsschub, wie wir ihn seit 40 Jahren nicht mehr erlebt haben. Die meisten Ökonomen interpretierten den Anstieg des Preisniveaus zunächst als vorübergehendes Phänomen, das durch die Folgen der Pandemie, Angebotsschocks und eine Reihe anderer vorübergehender Faktoren verursacht wurde. Die meisten Zentralbanken schätzten die Situation somit falsch ein: Anstatt die Inflation frühzeitig als ernsthafte Bedrohung zu behandeln, kamen die Gegenmassnahmen zu spät. Ich selbst glaubte früh an die Rückkehr einer dauerhafteren Inflationsperiode. Historisch gesehen gab es seit dem 19. Jahrhundert nur wenige Episoden, in denen sich die kurzfristigen Realzinsen anhaltend im negativen Bereich bewegten: die Jahre um den Ersten Weltkrieg, die Jahre um den Zweiten Weltkrieg und die 1970er-Jahre. Die Jahre nach der globalen Finanzkrise von 2008 sind das vierte Mal, dass wir so etwas erleben.
Was kann man aus den früheren Perioden lernen?
In Zeiten niedriger Zinssätze werden mehr Kredite aufgenommen, was bedeutet, dass mehr Geld in Umlauf gerät. Früher oder später steigt dann auch das Preisniveau. Die Reaktion der Zentralbanken war überfällig, und ich hoffe schwer, dass sie von Dauer ist: Da die negativen Angebotsschocks immer noch umhergeistern, besteht die Gefahr, dass die Zentralbanken kalte Füsse bekommen und die Inflationsbekämpfung zu früh zurückstellen. Der Ausstieg aus negativen Realzinsen ist ein Muss, wenn man es mit der Inflationsstabilisierung ernst meint.
«Der Ausstieg aus negativen Realzinsen ist ein Muss,
wenn man es mit der Inflationsstabilisierung ernst meint.»
Besteht die Gefahr einer globalen Schuldenkrise?
Ich würde es noch nicht als eine globale Krise bezeichnen, aber Schuldenprobleme treten definitiv immer häufiger auf. Vorboten sind vor allem die einkommensschwachen Volkswirtschaften: In diesen Ländern sieht man die Folgen einer gefährlichen Kombination aus steigender Verschuldung in Fremdwährung wie dem US-Dollar, steigenden Zinsen und langsamerem Wachstum. In vielen Fällen ist ein Devisenmangel der Grund, dass die Tilgung der Schulden an ausländische Kreditgeber ins Stocken gerät. Einige afrikanische Länder im südlichen Teil des Kontinents haben deswegen bereits internationale Unterstützung beantragt.
Wie gravierend ist die Lage?
Gemäss Zahlen des Internationalen Währungsfonds (IWF) befinden sich mehr als 60 Prozent der 74 einkommensschwächsten Länder der Welt entweder jetzt schon in einer Schuldenkrise oder sind stark gefährdet, in eine solche zu geraten. Auch in Ländern mit mittlerem Einkommen treten Nöte auf: Da ist das chronische Problemkind Argentinien, aber auch Staaten wie Ecuador und Pakistan. Ägypten könnte ebenfalls erwähnt werden und natürlich die Türkei, wo die Erdbebenkatastrophe einen…

Weiterlesen?
Dieser Artikel ist in Ausgabe 1105 – April 2023 erschienen. Er ist nur registrierten, zahlenden Nutzern zugänglich. Vollen Zugang erhalten Sie über unsere attraktiven Online- und Printangebote.
Abo lösen