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Fachkräftemangel ist ein  Symptom fehlenden Produktivitätswachstums
Alexander Horn, zvg.

Fachkräftemangel ist ein
Symptom fehlenden Produktivitätswachstums

Die Knappheit an qualifiziertem Personal wird durch technologische Stagnation in europäischen Firmen verursacht. Die Wirtschaftspolitik muss deshalb völlig anders ausgerichtet werden.

 

Deutschland laufe ähnlich wie Grossbritannien ­«sehenden Auges in einen Versorgungskollaps», warnt Dirk Engelhardt, Vorstand des Bundesverbands Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung.1 Schon heute fehlten 60 000 bis 80 000 Fernfahrer. Die Lücke werde immer grösser, denn jährlich gingen rund 30 000 LKW-Fahrer in Rente, gleichzeitig kämen nur etwa 15 000 Nachwuchskräfte hinzu. Und obwohl die deutsche Wirtschaft seit Monaten unter den aus dem Takt geratenen weltweiten Lieferketten so sehr leidet, dass viele Aufträge gar nicht abgearbeitet werden können, kommt noch ein Alarmruf hinzu: «Fachkräftemangel!»

Im Oktober 2021 klagten 43 Prozent der Unternehmen in Deutschland über einen Mangel an Fachkräften, «ein so grosser Anteil wie noch nie», so das Ifo-Institut. Umfragen zufolge fehlt ausgebildetes Personal quer durch alle Branchen. Viele Stellen können nicht oder erst nach langer Zeit besetzt werden. Besonders betroffen sind auch grosse Wirtschaftsbereiche wie etwa die gummi- und kunststoffverarbeitende Industrie, der Maschinenbau sowie die ­Metallerzeugung und -bearbeitung. Unter den Dienst­leistungsbranchen leiden vor allem die Vermittler von Arbeitskräften, Speditionen, Hotels und Pensionen. Nicht besser ist die Situation am Bau und im Handwerk, wo die Anzahl der offenen Stellen gegenüber 2020 zwar deutlich gesunken ist, aber immer noch etwa 65 000 Fachkräfte fehlen.2

Obwohl der Fachkräftemangel wegen der durch die Coronakrise noch immer aus dem Takt geratenen Lieferketten und der sogar wieder ansteigenden Kurzarbeit, von der in Deutschland im Januar fast eine Million Erwerbs­tätige betroffen waren, etwas überzeichnet sein dürfte, wird das Problem in allen entwickelten Volkswirtschaften seit der Finanzkrise 2008 immer virulenter. Auch die Schweiz ist betroffen, denn der steigende Fachkräfte­bedarf lässt sich schon seit Jahren nicht mehr durch die Nettozuwanderung aus EU- und Efta-Ländern ausgleichen, die bei etwa 30 000 Zuwanderern jährlich stagniert.

Fiskalische Dauerstimulierung

Der akute und als dramatisch ansteigend prognostizierte Fachkräftemangel ist nicht etwa die Folge einer irgendwie boomenden Wirtschaft, die wie in den 1960er-Jahren händeringend nach Arbeitskräften sucht. Im Gegenteil: Der Fachkräftemangel nimmt irrwitzigerweise zu einem Zeitpunkt an Fahrt auf, wo die deutsche Wirtschaft nach jahrzehntelang quälend langsamem Wirtschaftswachstum noch immer tief in der Coronakrise steckt, Lieferketten­engpässe zu teilweise gravierendem Materialmangel und Produktionsausfällen führen, die Wirtschaft also eher den Rückwärtsgang eingelegt hat. Anders als die Schweizer Wirtschaft hat die deutsche das Vorkrisenniveau noch nicht wieder erreicht.

Und tatsächlich ist dieser Fachkräftemangel eine Folge eines wirtschaftlichen Niedergangs, der sich in allen entwickelten Volkswirtschaften vollzieht. Trotz massiver fiskalischer wie auch geldpolitischer Stützungsmassnahmen ist es seit der Finanzkrise 2008 nicht wieder gelungen, einen auf Investitionen beruhenden, selbsttragenden wirtschaftlichen Aufschwung zu generieren. In der EU wird, ähnlich wie auch in Japan und den USA, ein Minimalwachstum von jährlich kaum mehr als einem Prozent regel­recht erzwungen, indem die jährlichen Staatsdefizite seit der Finanzkrise auf drei Prozent des Bruttoninlandsprodukts (BIP) und mehr gesteigert wurden. Der zusätz­liche kontinuierliche fiskalische Impuls von mehr als drei Prozent des BIP erzeugt demnach nur noch ein zusätz­liches Wachstum von gut einem Prozent des BIP. Die fiskalische Dauerstimulierung verhindert in der EU wiederkehrendes Negativwachstum. Staatsausgaben halfen auch der Schweiz in den 2010er-Jahren, zumindest ein durchschnittliches Wachstum von etwa zwei Prozent pro Jahr zu erreichen.

Keine Steigerung der Produktivität

Für diese Wirtschaftslage sind die in allen entwickelten Volkswirtschaften schwindsüchtigen Unternehmensinvestitionen verantwortlich, die im Verhältnis zu der von den Unternehmen geleisteten Wertschöpfung immer weiter absacken. Es zeigen sich in der Folge nur noch geringe technologische Fortschritte, die kaum Verbesserungen der Arbeitsproduktivität nach sich ziehen. Von 2007 bis 2019 ist die pro Erwerbstätigenstunde in Deutschland erzeugte Wertschöpfung daher nur noch um etwa 0,6 Prozent im Jahr gestiegen. Nicht besser sieht es in anderen EU-Ländern aus, und die Schweiz erreichte in diesem Zeitraum ebenfalls nur noch ein Plus von 0,8 Prozent jährlich.3

Die fortschreitende Schwäche bei der Einführung neuer arbeitssparender Technologien hat die Entwicklung der Arbeitsproduktivität so sehr gelähmt, dass dies in den entwickelten Volkswirtschaften eine Trendumkehr ausgelöst hat. Das lässt sich am Beispiel der deutschen Wirtschaft zeigen: Seit Anfang der 1990er-Jahre wächst sie bei weiter abnehmender Tendenz mit nur noch durchschnittlich rund 1,2 Prozent pro Jahr. Etwa seit der Finanzkrise 2008 entwickelt sich die Arbeitsproduktivität, anders als im vorangegangenen Zeitraum, jedoch sogar schwächer als das nur noch geringe Wirtschaftswachstum. Die Folge: Nun löst sogar dieses Minimalwachstum einen spürbar steigenden Arbeits- und Fachkräftebedarf aus. Daher erlebte Deutschland seit der Finanzkrise 2008 einen Beschäftigungsanstieg, dessen Ursache zwar in dieser wirtschaftlichen Stagnation liegt, jedoch zu einem «Wirtschaftswunder» hochgejubelt wurde.

Ein «Wunder» mit fadem Beigeschmack: Es entstanden in Deutschland von 2006 bis 2016 zwar fünf Millionen ­sozialversicherungspflichtige Jobs. Der Löwenanteil des Jobwachstums entfällt jedoch auf Dienstleistungsbereiche, die sich traditionell durch ein unterdurchschnitt­liches Lohn- und Gehaltsniveau auszeichnen, so das Gastgewerbe, das Gesundheits- und Sozialwesen sowie frei­berufliche und sonstige Dienstleistungen.4 Im deutschen Arbeitsmarkt entstehen primär unterdurchschnittlich vergütete Teilzeitstellen und vornehmlich solche mit geringem Qualifikationsniveau. Auch das allgemeine Lohn­niveau stagniert. Seit Mitte der 1990er-Jahre sind die Reallöhne in Deutschland durchschnittlich um nur etwa ein halbes Prozent jährlich angestiegen.5 Besonders proble­matisch ist die Entwicklung beim am geringsten entlohnten Drittel der Beschäftigten. 2015 lagen dessen reale Stundenlöhne sogar niedriger als zwanzig Jahre zuvor.

Katastrophale Wirtschafts- und Sozialpolitik

Dass es in den entwickelten Volkswirtschaften so gekommen ist und so weitergeht, ist eine Folge wirtschaftspolitischen Handelns. Seit Jahrzehnten erhalten die europäischen Regierungen mit tiefen Zinsen und fiskalischen Stimuli unproduktive Firmen am Leben. Sie haben damit die Fähigkeit der Unternehmen, den technologischen Wandel zu beschleunigen, konsequent unterminiert.

Politiker und Wirtschaftswissenschafter haben sich mit diesem Zustand weitgehend arrangiert, nehmen die Entwicklung als unausweichlich hin oder liefern naturalistische Begründungen für soziale Probleme. Typisch hierfür ist, dass immer wieder die demografische Alterung als Begründung für den Fachkräftemangel herangezogen wird, die wirtschaftlichen Ursachen jedoch ausgeblendet bleiben. Seit den 1970er-Jahren hat man versucht, die entstehende Massenarbeitslosigkeit mit wirtschaftspolitischen Mitteln zu bekämpfen, dies mit der Zeit jedoch zunehmend hingenommen und sich darauf fokussiert, die resultierenden Probleme mit sozialpolitischen Mitteln zu verwalten. Verfestigung sozialer Milieus und «Hartz-IV-Karrieren» machen es für die Betroffenen sehr schwer, sich daraus zu lösen. Heute sind mehr als zwei Millionen junge Menschen in Deutschland ohne Ausbildung.6 Wirtschafts- und Sozial­politik haben aktiv dazu beigetragen, dass ein Grossteil dieser Jugendlichen sich wohl nie mehr zu gut ausgebildeten Fachkräften entwickeln wird.

Der Facharbeitermangel ist ein Paradebeispiel für die seit Jahrzehnten verheerende Wirtschafts- und Sozialpolitik, die wirtschaftliche Krisen mit allen Mitteln zu verhindern sucht, obwohl die Marktwirtschaft die davon aus­gehenden Impulse benötigt. Anstatt weniger produktive Unternehmen auf Dauer durchzuschleppen, muss die Wirtschaftspolitik Bedingungen schaffen, unter denen diese Firmen aus dem Markt ausscheiden können. Eine derartige wirtschaftliche Restrukturierung, in der das weniger produktive Kapital entwertet wird, erhöht die Profitabilität der verbleibenden Unternehmen. Unter diesen Bedingungen können sie wieder leichter die – in der Regel enorm kapitalintensive und risikoreiche – Einführung neuer Technologien angehen sowie Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Zu lösen sind diese Probleme erst, wenn endlich die stagnierende Arbeitsproduktivität in das Zentrum der Wirtschafts- und Sozialpolitik gerückt wird.

  1. «Den Briten gehen die Fahrer aus». In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.9.2021, S. 22.

  2. http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/arbeitsmarkt-im-handwerk-fehlen-65-000-fachkraefte-vor-allem-gesellen-mangel-ist-riesig/­
    27148698.html

  3. http://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/volkswirtschaft/­produktivitaet.html

  4. Statistisches Bundesamt: «Statistisches Jahrbuch 2017», S. 355 f.

  5. Hartmut Görgens: «Irrtum und Wahrheit über die Reallohnentwicklung seit 1990 – Gegen den Mythos einer jahrzehntelangen Reallohn­stagnation», Metropolis 2018.

  6. http://www.spiegel.de/karriere/berufsbildungsbericht-so-viele-ungelernte-wie-noch-nie-a-1262010.html

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