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Höchste Zeit für einen Grundsatzentscheid
Charlotte Sieber-Gasser, zvg.

Höchste Zeit für einen Grundsatzentscheid

«Weiter wie bisher» ist in der Schweizer Europapolitik keine Option mehr. Wir sollten uns von einigen Mythen verabschieden.

 

Dass der Bundesrat eigenmächtig entschieden hat, das institutionelle Rahmenabkommen nicht zu unterzeichnen, ist eine Chance für die schweizerische Europapolitik und für die schweizerische Demokratie insgesamt. Der Stimmbevölkerung ist mit dem Bundesratsentscheid ein weiteres sogenanntes Scherbenhaufenreferendum erspart geblieben – ein Referendum also, das unter der Prämisse durchgeführt wird, eine Ablehnung würde die Schweiz direkt in den Abgrund führen. Scherbenhaufenreferenden sind langsames Gift für die Demokratie: Sie sind formell zwar korrekt, höhlen aber dennoch Sinn und Zweck eines Referendums nach und nach aus. Denn angesichts des mutmasslich drohenden Scherbenhaufens verkehrt sich die Beteiligung der Stimmbevölkerung von der Mitentscheidung zum blossen Abnicken. Die Demokratie riskiert so hinsichtlich der Mitbestimmungskultur einen Vertrauensbruch.

Die Europapolitik der Schweiz ist geprägt von ebensolchen Scherbenhaufenreferenden, die eine vertiefte Auseinandersetzung mit Fakten und verschiedenen Alternativen bisher verunmöglicht haben: Seit dem Nein zum EWR-Beitritt hat die Schweiz nicht weniger als 15 Referenden abgehalten, welche den Charakter eines Scherbenhaufenreferendums teilen.1 Hinzu kommen im selben Zeitraum zwölf Volksinitiativen, die das Verhältnis zur EU massgeblich betrafen.2 Folglich hat in den letzten knapp 30 Jahren nach jeder europapolitischen Volksabstimmung bereits die nächste gewartet. Eine offene und kritische Auseinandersetzung mit der Europapolitik wurde deshalb immer auch als Gefahr für die nächste anstehende Volksabstimmung oder für die gerade jeweils laufenden Verhandlungen wahrgenommen. Das ist bedauerlich, konnten sich doch damit objektiv falsche Mythen rund um die Bilateralen festsetzen – Mythen, die einen massgeblichen Beitrag zur gegenwärtigen Perspektivenlosigkeit in der schweizerischen Europapolitik leisten. Mit dem Ende des Rahmenabkommens und keiner Europaabstimmung am unmittelbaren Horizont bietet sich endlich eine Verschnaufpause. Höchste Zeit für eine Entmystifizierung der Ausgangslage und die Klärung der Prioritäten:

  1. Die Bilateralen – dass sie einzigartig sind, ist nicht unbedingt ein Qualitätsmerkmal

Die Bilateralen I und II sind weltweit einzigartig: Sie verstossen nämlich im Grundsatz gegen die Prinzipien des Welthandelsrechts, indem sie den EU-Rechtsraum sektoriell auf die Schweiz ausdehnen beziehungsweise den bilateralen Handel nicht im Umfang von «substantially all the trade» liberalisieren. Zudem verfügen sie trotz substanzieller Verpflichtungen über keinen bindenden Streitbeilegungsmechanismus. Kein anderer europäischer Drittstaat verfügt über vergleichbare Abkommen mit der EU. Die Abkommen sind statisch, enthalten aber dennoch de jure und de facto Verpflichtungen zur kontinuierlichen Anpassung des Schweizer Rechts an die geltenden Bestimmungen im EU-Recht. Es ist kaum vorstellbar, dass der Bundesrat 1999 tatsächlich davon ausgegangen ist, dass die bilateralen Abkommen mehr als 20 Jahre in Kraft bleiben würden; anders lässt sich die mit den bilateralen Abkommen einhergehende Verpflichtung, auf unbestimmte Zeit und ohne Mitsprache EU-Recht zu übernehmen, kaum rechtfertigen. Vielmehr ist aufgrund von Struktur und Inhalt der Abkommen davon auszugehen, dass sie ursprünglich als Zwischenschritt hin zu einer umfassenderen Integration gedacht waren.

«Die bilateralen Abkommen bilden schon länger

nicht mehr eine zuverlässige Rechtsgrundlage für

die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen

zwischen der Schweiz und der EU.»

Mit der Weiterentwicklung der EU und des EU-Rechts hat sich somit unweigerlich auch der Inhalt der bilateralen Abkommen gewandelt. Bekanntlich sind sich die Schweiz und die EU heute uneinig über den Umfang der Verpflichtungen, der sich aus den bilateralen Abkommen ergibt. Mangels eines Streitbeilegungsmechanismus kann diese Uneinigkeit auch nicht auf dem Rechtsweg behoben werden. Somit bilden die bilateralen Abkommen schon länger nicht mehr eine zuverlässige Rechtsgrundlage für die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU. Daran hätte auch das institutionelle Rahmenabkommen wenig geändert: Die bestehenden Meinungsverschiedenheiten hätten zwar durch das vorgesehene Schiedsgericht beurteilt werden können. Ob die Feststellung einer Verletzung allerdings zu mehr Stabilität in den bilateralen Beziehungen geführt hätte, bleibt fraglich.

  1. Verhandlungen ohne Ziel – Strategielosigkeit beider Seiten

Weder die EU noch die Schweiz verfolgen gegenwärtig eine kohärente Strategie in den bilateralen Beziehungen. Es geht gerne vergessen, dass die EU parallel institutionelle Rahmenabkommen mit verschiedenen europäischen Drittstaaten verhandelt.3 Insgesamt ist die EU-Strategie in diesen parallel geführten Verhandlungen geprägt von bisher noch ungelösten Herausforderungen – eigentlich eine gute Ausgangslage für die Schweiz, ihrerseits einen Vorschlag für eine langfristige und nachhaltige Strategie einzubringen, idealerweise sogar in Absprache mit anderen europäischen Drittstaaten. Nur fehlt auch in der Schweiz bisher der politische Wille, sich auf eine klare, langfristige Strategie zu einigen. Bilaterale Verhandlungen sind unter diesen Umständen erschwert – denn keine der beiden Seiten hat eine klare Vorstellung davon, wie die gemeinsamen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen längerfristig ausgestaltet werden sollen. Auch das in­stitutionelle Rahmenabkommen wäre nur ein Zwischenschritt gewesen in Richtung einer noch unklaren künftigen Ausgestaltung der bilateralen Beziehungen. Das zeigte sich nicht zuletzt in der darin enthaltenen Verpflichtung, Verhandlungen über die Modernisierung des Freihandelsabkommens von 1972 aufzunehmen.

  1. Einordnung in den globalen Kontext

Die Schweizer Europapolitik ist naturgemäss eng verbunden mit der Aussenwirtschaftspolitik allgemein. Optionen für eine künftige Strategie in den bilateralen Beziehungen mit der EU hängen somit auch von den globalen Entwicklungen im internationalen Handel ab. Gegenwärtig befindet sich das regelbasierte globale Handelssystem in der Krise, nicht nur wegen der Pandemie, sondern auch als Folge des Handelskriegs zwischen den USA und China und der Aufhebung des zweistufigen Streitbeilegungsverfahrens der WTO. Dies erschwert die Durchsetzung von Handelsinteressen über den Rechtsweg massgeblich. Entsprechend steigt generell die Bereitschaft, den eigenen Handelsinteressen unter Inkaufnahme der Missachtung von WTO-Verpflichtungen zum Durchbruch zu verhelfen. Die Schweiz als unabhängige und relativ kleine Volkswirtschaft kann sich dagegen mit den ihr zur Verfügung stehenden Schutz- und Retorsionsmassnahmen kaum zur Wehr setzen. Den bilateralen Beziehungen mit der EU kommt damit nicht nur aus wirtschaftlicher, sondern auch aus rechtlicher Perspektive eine besonders hohe Bedeutung zu: Die globalen WTO-Regeln garantieren nicht mehr ohne weiteres den bisher geltenden Minimalstandard im Zugang zum globalen Markt. Bilaterale Abkommen – sei dies mit der EU oder auch mit anderen Vertragspartnern – schaffen zusätzliche Sicherheit und tragen damit massgeblich zur Wahrung der Handelsinteressen der Schweiz bei.

  1. Prioritäten klären und Konsequenzen akzeptieren

Das Spektrum der Optionen in der Schweizer Europapolitik hat sich mit dem Entscheid des Bundesrats in gewisser Hinsicht gelichtet: Einerseits ist das Rahmenabkommen vom Tisch, anderseits ist offensichtlich die Zeit der politischen Kulanz in den Beziehungen Schweiz–EU abgelaufen. Die Option «weiter wie bisher» besteht damit gar nicht mehr. Um aber andere Optionen – wie zum Beispiel einen EWR-Beitritt, Verhandlungen Richtung EWR-light, eine umfassende Wirtschaftspartnerschaft, EU-Beitritt – ernsthaft zu prüfen, bedarf es zuerst der Klärung der Prioritäten. Gelingt das nicht, verbeisst sich der politische und gesellschaftliche Diskurs unweigerlich in die mit jeder Option verbundenen Nachteile, anstatt auf die potentiellen Chancen zu fokussieren: Setzen wir auf regulatorische Unabhängigkeit, verlieren wir zu Recht die Gleichbehandlung im EU-Binnenmarkt. Liegt uns der Zugang zum EU-Markt auch für KMU besonders am Herzen, bedingt dies unweigerlich eine EU-Rechtsintegration, wenigstens im Bereich des Binnenmarktrechts. Jede Form der Rechtsinte­gration ohne Mitsprache im Rechtssetzungsverfahren beisst sich ­allerdings mit der Gewährleistung des Demokratieprinzips. Gemeinsame Prioritäten würden helfen, die richtigen Optionen genauer zu prüfen und den Fokus auf Chancen zu legen.

So oder so ist die Europapolitik der Schweiz nur dann nachhaltig, wenn die damit verfolgte Internationalisierung von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird. Ein direktdemokratischer Grundsatzentscheid erscheint damit unabdingbar, um in Zukunft eine kohärente Europapolitik zu gewährleisten. Neben dem Weg einer Volksinitiative würde sich insbesondere das Vernehmlassungsverfahren – zum Beispiel über ein Bundesgesetz über die Schweizer Europapolitik – dazu eignen, einen solchen vorzubereiten und die Prioritätensetzung zu klären.

  1. Verbrauchersteuern (1993); Schwerverkehrsabgabe (1994); Bilaterale I (2000); Elektrizitätsmarktgesetz, AVIG (2002); Schengen-Dublin, Erweiterung Personenfreizügigkeit (2005); Osthilfe (2006); Fortsetzung Personenfreizügigkeit, biometrische Pässe (2009); AsylG (2013); STGV, AsylG (2016); Unternehmenssteuerreform (2017); Steuerreform, EU-Waffenrichtlinie (2019).

  2. EU-Beitrittsverhandlungen vors Volk (1997); Regelung der Zuwanderung (2000); Ja zu Europa (2001); Ausschaffungsinitiative (2010); Gegen Masseneinwanderung, Stopp der Überbevölkerung (2014); Energie- statt Mehrwertsteuer (2015); Durchsetzungsinitiative (2016); Fair Food, Ernährungssouveränität, Selbstbestimmung (2018); Begrenzungsinitiative (2020).

  3. So beispielsweise mit den europäischen Mikrostaaten Andorra, Monaco und San Marino (Verhandlungen noch nicht abgeschlossen). Auch bleiben weiterhin wesentliche Verhandlungspunkte offen in den bilateralen Beziehungen zwischen der EU und Grossbritannien.

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