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Plötzlich liegt Osteuropa auf drei Kontinenten
Beat Kappeler, fotografiert von Matthias Willi

Plötzlich liegt Osteuropa auf drei Kontinenten

Internationale Organisationen tendieren dazu, ihre Tätigkeitsbereiche schleichend ­auszudehnen. Sie untergraben so zunehmend die nationale Souveränität.

 

Wie schlank und nützlich waren doch die ersten internationalen Organisationen, der Weltpostverein, die Rheinschifffahrtsakte, die Fernmeldeunion. Wie aufdringlich, von Funktionären gesteuert und gleichmacherisch über die Nationen hinweg sind doch die seit 1945 gegründeten Büros heute. Dazu gehören die OECD, die Weltbank, der Internationale Währungsfonds, das Strassburger Menschenrechtsgericht, das Weltarbeitsamt, die UNO generell, die EU im besonderen.

Zuerst fällt auf: Alle machen alles. Die spezifischen Zwecke der Gründung wurden ausgeweitet auf Entwicklung, Nachhaltigkeit, Klimaschutz, Frauen, Covid und seit kurzem machen alle auch auf Ukraine-Hilfe. Das muss in den Augen dieser Bürokratien so sein, denn, zweitens, diese Organisationen geniessen eine sakrale Aura, und ihre Webseiten, Konferenzen, Publikationen lassen keinen Zweifel daran. Das Gute, das sie verfolgen, hat keine Grenzen, und es kann nur durch umfassendes Handeln auf allen Gebieten erreicht werden.

Der englische Ausdruck «Mission Creep» beschreibt bestens, wie diese Organisationen sich kaum je beschlossene Mandate erschleichen. Geradezu als Karikatur dessen plusterte sich die EBRD (Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung) auf. Nach dem Ende des Kommunismus für die osteuropäischen Länder gegründet, kann sie nach 30 Jahren und einem eindrücklichen Aufstieg der meisten Volkswirtschaften in diesem Raum nicht sterben. Stattdessen haben 2700 Mitarbeiter und Experten 6000 Projekte mit Budgets von Dutzenden von Milliarden Dollar auf drei Kontinenten zu betreuen. Die Experten stolpern zugleich überall über die in Breitbandmission tätigen Experten der EU, der UNO, des Arbeitsamtes, der Weltbank. Denn alle haben überall Regionalbüros.

Nationale Politiker schauen weg

Aber, drittens, nicht nur die bürokratische Allmachtsfantasie der Organisationen wabert. Die nationalen Politiker, welche deren Konferenzen beschicken, die Generalsekretäre wählen, die Mittel bereitstellen, erliegen meist dem Zauber der Sakralisierung, weil ihr Wohlgesonnene in den Parlamentsausschüssen sitzen. Man reist auch gerne an Ort und Stelle der Hilfsaktionen und fühlt sich als Wohltäter. Wichtiger: Die nationalen Regierungen und Parlamentarier haben anderes zu tun, ihre Aufmerksamkeitsspanne gegenüber den Organisationen ist kurz, ihre Mandatszeit ebenfalls, jedenfalls kürzer als jene der Generalsekretäre und Experten. Letzten Sommer hat der Internationale Währungsfonds unter allgemeinem Desin­teresse fast 500 Milliarden Dollar an «Sonderziehungsrechten» geschaffen, mehr als zuvor seit 1970 kumuliert. Das sind Buchgeldkredite aus der Luft, welche nun die Mitgliedsländer einander für Schulden und Zahlungen zustecken können wie ehemals Goldtransaktionen. Die massivste Geldschöpfung der Weltgeschichte in einem Aufwisch fand im stillen Kämmerlein statt. Falls überhaupt einige Politiker es bemerkten, dann wohlwollend, weil die nationalen Budgetschranken durch noch mehr Geld aufgehoben werden.

Sodann läuft das «Spiel über die Bande»: Ungeliebte Massnahmen können die nationalen Politiker durch internationale Organisationen beschliessen und den Wählern zu Hause als leidige Pflicht rechtfertigen. Die massivste Kompetenzanmassung der OECD und der G20 hatte so letztes Jahr das internationale Steuerkartell gegenüber Firmen durchgesetzt. Alle Nationen müssen sie mit mindestens 15 Prozent besteuern. Ein weiterer Dreh des «Mission Creep» stand natürlich dahinter. Die grossen Mächte, die USA, die EU, konnten damit die widerstrebenden mittleren, kleinen, aber sparsamen Steuerstaaten an die Leine nehmen. Diese führen die Mindestbesteuerung nun intern ein – in der Schweiz durch einen Finanzminister, der ausdrücklich diesen Druck der Weltgemeinschaft als Begründung anführte. Sonst hätten Grosse wie die USA und EU direkt Druck gemacht. So blieb das Gesicht aller gewahrt.

Das sakrale Gute verfolgt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Die Menschenrechtskonvention sollte ursprünglich für alle Unterzeichnerstaaten das zwingende Völkerrecht (ius cogens) formulieren und sichern – keine Sklaverei, keine Folter, keinen Rassismus, demokratische Verfahren und Rechtssicherheit. Daraus wurde nun aber, nicht durch Vertragsrevisionen, sondern durch unablässig tätige Juristenkomitees, eine Rechthaberei, welche in nationale Sozialsysteme eingreift und Gerichte kujoniert. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs mache «die Konvention zu einem lebendigen Instrument», rühmt die Webseite, rühmen auch gewisse Völkerrechtler. Sie begrüssen die «dynamische Entwicklung des Völkerrechts», also solcher Konventionen, Kommissionen, Gerichte und Büros aus eigener Machtvollkommenheit. Der Begriff «Mission Creep» ist ehrlicher. Denn diese Leuchttürme der Demokratie im Selbstverständnis erfinden Regeln, die nirgends beschlossen wurden, die von oben, nicht von unten kommen: den hohen Zweck im Namen der Demokratie ohne Demokratie.

Diesem Anspruch steht der souveräne Staat gegenüber, wie er im Westfälischen Frieden 1648 definiert wurde. Zwar sind internationale Verträge und darauf gegründete internationale Organisationen auch eine Quelle des Völkerrechts, aber eben für die ausdrücklich abgetretenen staatlichen Rechte nicht mehr. Viele Staaten pflegen den Monismus, gemäss dem das Völkerrecht unmittelbar anwendbar ist. Aber dann kann dieses Völkerrecht nicht dynamisch über die Staaten hinwegschreiten, sonst wird es zum nationalen Gesetzgeber. Dies geschähe aber ohne jede demokratische Mitsprache, es wäre «legislation without representation», im Falle des OECD-Steuerzwangs sogar «taxation without representation». Deshalb müssen solche dem Völkerrechtsvorrang offene Nationen gegen dynamisches Weiterwabern aufstehen. In der neuen Bundesverfassung haben Juristen ohne grosses Aufsehen die Schweiz in Richtung Vorrang des Völkerrechts gestossen, in Art. 5 Abs. 4. Die Schweiz muss daher auf dem bestehen, was Verträge ausdrücklich zugestehen, nicht auf Dynamik.

Die EU hat Dynamik geradezu als Prinzip im «immer engeren Zusammenschluss» eingebaut. Ohne weitere Vertragsänderungen wurde der Vorrang des EU-Rechts über die nationalen Verfassungen 1970 vom Gerichtshof eingeführt, und seit den erweiterten Mehrheitsentscheiden ab 1987 haben Kommission und Gerichtshof nirgends vorgesehene Bereiche in Arbeitsmarkt, Währung, Sozialpolitik als binnenmarktnotwendig und mit blossen Mehrheiten erzwingbar bezeichnet. Die Kompetenz, eigene Kompetenzen festzulegen, schrieb man sonst nur den Göttern zu. In der EU wurde es vertragsbrechender «Mission Creep». Es gibt wenige Politiker, noch weniger EU-Befürworter, die dies überhaupt verfolgen.

Widerstand ist schwierig

Nun könnte man einwenden, dass Demokratie auch über Vertretung funktioniere, also über Parlamente und nicht nur über direktdemokratische Abstimmungen. Doch die Kaskade ist lang von Legislativwahlen in parlamentarischen Demokratien zur Regierung, von dort zu Kongressen mit Vertragsänderung solcher Organisationen und zurück zum Aufstand der Wähler das nächste Mal. Ob eine genügend grosse Menge betroffener Bürger sich gegen Anmassungen der zupackenden Zentralen zusammenraufen kann, ist zweifelhaft – es handelt sich um ein klassisches «collective action problem». Die Bürger sind zuerst unmerklich betroffen, und wenn der «Mission Creep» sich kumuliert, ist Widerstand zu spät. Erst dann fällt es auf, dass auf dem Foto der Teilnehmer des G20-Gipfels die Hälfte gar keine Staatschefs sind, sondern Funktionäre der OECD, der Weltbank, der EU, des Weltwährungsfonds, der Notenbanken: verkappte Weltgesetzgeber und nie von einem Staatsvolk gewählt.

Ein erster Schluss daraus: Der Nationalstaat muss gegen dynamisch verzerrtes Vertrags- und Völkerrecht aufstehen, allenfalls austreten. Denn bricht die Universalität der Organisationen weg, fällt ihre Legitimität. Zweitens: Zu schätzen sind die nüchternen, vertragstreuen internationalen Fachorganisationen – die Fernmeldeunion, die Patentorganisation, der Weltpostverein, die Welthandelsorganisation mit ihren verbindlichen Schiedsgerichten. Achtenswert sind die Efta und alle Freihandelsverträge, die selbstausführend ohne zentrale Regelbürokratie sind, schlank und nützlich eben.

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