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«Der Bundesstaat hat eine  ­anarchische Tendenz»
Oliver Zimmer, fotografiert von Daniel Jung.

«Der Bundesstaat hat eine
­anarchische Tendenz»

Die Ideen von 1848 hätten sich tief im Staatsverständnis der Schweiz verankert, sagt Historiker Oliver Zimmer. Er sieht darin einen Gegensatz zum zentralistischen EU-Modell.

 

Herr Zimmer, zwischen der Schweiz und der EU herrscht dicke Luft. Warum ist das Verhältnis so schwierig?

Man kann sich auf die Ebene der Sachfragen kaprizieren, da gibt es sicher viele Meinungsverschiedenheiten. Gleichzeitig ist es wichtig, die Grundlagen des Staatsverständnisses auszuleuchten. Da gibt es Unterschiede in der Mentalität, die mit der Geschichte zu tun haben. Zum Beispiel die Skepsis in der Schweiz gegenüber Zentralismus, gegenüber Modellen der Demokratie und der Staatlichkeit, bei denen die Bürger nicht sehr viele Einflussmöglichkeiten haben. Dies lässt sich historisch zurückverfolgen. Einerseits institutionell: Die Schweiz hat Institutionen wie die direkte ­Demokratie, die ganz anders funktioniert als die Demo­kratie in den meisten anderen europäischen Ländern. Andererseits auch in bezug auf die Selbstbeschreibung: Es gibt eine lange Geschichte, in der sich die Schweizer anders definiert haben als die umliegenden Länder.

Inwiefern?

Insofern, als man die politischen Entscheide, die gefällt werden, nochmals revidieren kann. Das steht im Gegensatz zur Vorstellung der Verfassungsstaatlichkeit, der Vorstellung, dass es gewisse Grundregeln gibt, die einmal erlassen sind und dann nicht mehr revidiert werden können. In der EU ist das über den Europäischen Gerichtshof abgesichert. Die EU hat auch ihren Rütlischwur, nur funktioniert dieser etwas anders. Es gibt ein Gericht, das diese politische Union fördert – das ist nicht explizit ausgeführt, aber es ist klar. In der Schweiz wurde die Referendumsdemokratie im 19. Jahrhundert erkämpft. Die Idee dahinter ist, dass die politischen Entscheide nicht in Stein gemeisselt sind, dass es immer Möglichkeiten gibt, sie zu revidieren.

Sie waren ein Kritiker des Rahmenabkommens, was Sie in ­Ihrem Buch «Wer hat Angst vor Tell?» beschrieben haben. Wie wird es nach dem Scheitern dieses Vertrages weitergehen?

Ich war letztlich gegen das Rahmenabkommen, aber mir ging es mehr darum, den Grundkonflikt herauszuarbeiten. Wenn man die Institutionen, die sich die EU gegeben hat, befürwortet, weil man es als Fortschritt betrachtet, dass die Leute nicht mehr dreinreden können, dann ist das ein Standpunkt, den ich akzeptiere. Man sollte den Standpunkt aber offen formulieren. Das Modell des Rahmenvertrags ist immer noch demokratisch, aber man muss dann vieles als gegeben akzeptieren. Ich finde, dass man ehrlich argumentieren muss. Was die Zukunft bringt, kann ich nicht sagen. Es kommt vor allem auf die EU an, denn es ist im Falle der Schweiz eigentlich klar, wo die Probleme sind. Eine rote Linie ist die demokratische Differenz bei der ­Mitbestimmung. Konkret manifestiert sich das zum Beispiel bei der Unionsbürgerrichtlinie. Die Vorstellung, dass es eine Lösung gibt, wenn die eine Seite, die Schweiz, wahnsinnige Kompromisse macht, ist naiv. Es gibt die ­Dialektik, die Gegensätze, und die soll man zur Kenntnis nehmen. Dann muss man entscheiden, zu welchem Modell der Politik und des Staatsverständnisses man sich bekennen will, weil man findet, dass es dem Bürger und dem Land etwas bringt. Diese Diskussion müssen wir führen.

Es geht letztlich um die Souveränität. Aber ist die nationale Souveränität nicht zu einer Illusion geworden?

Hier werden oft Dinge vermischt. In einem gewissen Sinn gab es die nationale Souveränität gar nie, nämlich im Sinne absoluter Handlungsmacht. Diejenigen, die sagen, es gebe keine nationale Souveränität mehr, gehen davon aus, dass die Schweiz früher alles selber habe entscheiden können. Bismarck hat im 19. Jahrhundert gesagt, dass die Souve­ränität von ihm und von Deutschland limitiert sei. Deutschland war dazumal ein sehr mächtiges Land. Es ist klar: Jedes Land, sogar relativ mächtige Länder müssen sich einschränken, man ist nicht absolut souverän. Das ist die Ebene der Macht. Die zweite Ebene der Souveränität betrifft die demokratische Mitbestimmung, und diese findet noch immer in nationalen Kontexten statt. Wenn Sie in der Schweiz leben, haben Sie zu allen möglichen Dingen etwas zu sagen. Das ist ein ganz wichtiger Teil der Souve­ränität, und er wird eindeutig tangiert von der Frage des Rahmenabkommens.

Gehen wir auf die Wurzeln dieser Demokratie und der Volksrechte ein. Wie haben die bürgerlichen Revolutionen von 1848 die unterschiedlichen Staatsverständnisse geprägt?

1848 war ein republikanischer Moment in der Geschichte Europas. Die Schweiz wurde ein Bundesstaat. In der Gründung zeigte sich eine Dimension dieses Staatsverständnisses, das ein wenig anders ist als im Rest Europas. Das ­zentralistische Modell war in der Helvetik gescheitert. Der Bundesstaat von 1848 war die Vermittlung zwischen den Kantonen und dem Zentralstaat. Man hat eine komplexe Staatlichkeit geschaffen, keinen Einheitsstaat, sondern Staatlichkeit auf verschiedenen Ebenen. 1848 ist somit sehr wichtig in bezug auf die föderalistische Struktur. Das Direktdemokratische, die Referendumsdimension, kam erst später hinzu.

«Die Schweiz,

die 1848 entstand,

ist eine Mischung aus

Helvetik und Wilhelm Tell.»

Warum gelang die liberale Revolution in der Schweiz, während sie in den meisten anderen Ländern Europas scheiterte?

In Ländern, wo sie gescheitert ist, waren die reaktionären Kräfte militärisch stärker. In der Schweiz hat sich der katholische Sonderbund als militärisch schwächer erwiesen als die liberalen, meist protestantischen Kantone. Es war schliesslich eine Frage der militärischen Macht. Wenn Sie mich aber fragen, wieso der Bundesstaat mittel- bis längerfristig funktioniert hat, wieso es eine Fortsetzung der Geschichte von 1848 gab, dann war der bundesstaatliche, der dezentrale Ansatz entscheidend. Natürlich gab es auch in der Schweiz Bestrebungen für einen Einheitsstaat, in der Helvetik und auch später noch. Diese Kräfte waren gesamthaft aber minoritär. Wenn man den Staat als Einheitsstaat aufgezogen hätte, hätte es nicht funktioniert.

Wobei man die Bedeutung der Helvetik nicht unterschätzen darf. Die Ideen der Französischen Revolution, die in der Schweiz umgesetzt wurden, waren auch entscheidend für den Bundesstaat und für die moderne schweizerische Demokratie.

Mit ein bisschen Humor kann man sagen, dass die Schweiz, die 1848 entstanden ist, eine Mischung aus Helvetik und Wilhelm Tell ist. Es ist nicht so, dass die Helvetik keine Spuren hinterlassen hätte. Aber die Zentralisierung nach französischem Modell, wo man zum Beispiel drei kleine Kantone zu einem grossen zusammenfasst, diese Kon­struktion und diese Künstlichkeit haben nicht funktioniert. Im übrigen ist die Idee eines Bundesstaats nicht einfach 1848 entstanden, wie der Verfassungsrechtler Andreas Kley sehr schön gezeigt hat. Sie kursierte schon früh im 19. Jahrhundert. Man findet sie bereits in den Tagsatzungsprotokollen.

Die Schweiz wird oft als Willensnation bezeichnet. Ist sie das?

Bis zu einem gewissen Grad sind alle Nationen Willens­nationen. Wenn Bürger sich nicht mehr mit ihrer Nation identifizieren können, dann hat man ein Problem. In seinem berühmten Aufsatz «Qu’est-ce qu’une nation?», der in den 1880er-Jahren erschien, schreibt Ernest Renan: «L’existence d’une nation est un plébicite de tous les jours.» Wenn man diesen Willensakt nicht mehr bezeugt, nützen alle Institutionen nichts. In der Schweiz kommt dieser Willensakt in der dezentralen Struktur zum Ausdruck. Wo gibt es ein Land, bei dem die Hauptsteuerlast in den Gemeinden und Kantonen abgetragen wird? Die bundesstaatliche Struktur hat eine anarchische Tendenz. Es gibt eine Skepsis gegenüber dem Zentrum. Das voluntaristische Element ist stärker als in anderen Ländern. In dem Sinne ist die Willensnation kein Mythos.

Reden wir über Liberalismus. Ihr Buch ist auch eine Kritik an einem bestimmten Verständnis von Liberalismus, einem ­globalisierten, elitären Liberalismus.

Wir können zwei Stränge des Liberalismus unterscheiden: auf der einen Seite einen stark individualistischen, aufs Individuum, auf die Verfassung gerichteten, auf der anderen einen mehr demokratischen, partizipatorischen. In der Frühgeschichte des Liberalismus waren diese Stränge sehr eng verbunden. Aber dann ist eine epistokratische Linie des Liberalismus erstarkt, ausgehend vom liberalen Bürgertum, also den Leuten, die Bildung und Besitz haben. Viele dieser Leute vertraten die Auffassung: «Das Bürgertum ist die neue Aristokratie – jetzt bestimmen wir!» Sie waren zwar bereit, auf lange Frist die politische Mitbestimmung auszuweiten – aber langsam. Es handelt sich um ein paternalistisches Modell; man hält die Leute für gefährlich und dumm.

«Was mir nicht einleuchtet,

ist der Gedanke,

dass wir in einer

anderen Zeit lebten und

heute weniger Demokratie bräuchten.»

Und dieses Denken ist heute verbreitet?

Heute orientiert sich ein Teil der Liberalen stark an dieser Linie. Vielleicht nicht bewusst, aber sie haben aufgesaugt, dass beispielsweise Vernunft und Bildung zusammengehören. Doch es ist ein Trugschluss, dass jemand, der gebildet ist, auch vernünftig sei.

Worin zeigt sich dieses Verständnis?

Man findet es immer wieder. Es gibt Leute, die offen sind wie Jason Brennan, der in seinem Buch «Against Democracy» schreibt, dass Demokratie falsch sei und man eigentlich eine Epistokratie brauche, eine Herr­schaft der Wissenden. Ich glaube, dass es unter den Liberalen in der Schweiz viele Leute gibt, die durchaus in diese Richtung denken. Aber sie können das nicht äussern, sonst werden sie nicht in den Nationalrat oder ins Kantonsparlament gewählt. Wer diese epistokra­tische Linie vertritt, wird wohl auch die EU positiv sehen, weil dort in der Tendenz ein solches Modell praktiziert wird.

Sie waren Professor in Oxford, man kann also sagen, dass Sie Teil der globalen Elite sind. Gleichzeitig kritisieren Sie diese. Wie kommt das?

Man muss sich nicht unbedingt mit der Deformation der eigenen Profession anfreunden (lacht). Ich finde es ein wenig verlogen, wenn man als Historiker die Revolutionen des 19. Jahrhunderts preist und dann ein Modell propagiert, das auf der Grundlage von Individualrechten und universalen Regeln eigentlich die Demokratie abbaut. Das kann ich als Historiker, der sich mit dieser Zeit befasst, nicht befürworten. Was mir nicht einleuchtet, ist der ­Gedanke, dass wir in einer anderen Zeit lebten und heute weniger Demokratie bräuchten. Natürlich gibt es Experten in der Bundesverwaltung, die viel mehr wissen über rechtliche Zusammenhänge und verschiedene Fachbereiche. Aber diese Leute sind letztlich auch von Werten geprägt. Es ist ein Mythos, dass es eine Schicht von Leuten gebe, die das Ganze durch die Brille der Vernunft und Objektivität sähen.

«Heute hat man in den

meisten Unis eine Schicht

von Administratoren über sich,

die einfach Arbeit produziert.»

Kürzlich sind Sie aus Grossbritannien in die Schweiz zurückgekehrt und arbeiten als Forschungsleiter am Centre for ­Research in Economics, Management and the Arts (Crema). Warum sind Sie von einer der renommiertesten Universitäten der Welt an ein kleines Forschungsinstitut in der Schweiz ­gewechselt?

Das hat viele Gründe. Ich war über zwanzig Jahre in diesem Beruf, ich habe es sehr genossen und hatte eine gute Zeit. Die Universitäten werden jedoch immer mehr gemanagt. Als Forscher und Professor verbringt man immer mehr Zeit mit Administration, mit Bürokratie. Das Arbeitsumfeld ist in den letzten zehn Jahren weniger
attraktiv geworden. Ich hatte aufgrund meiner persönlichen Situation die Möglichkeit, das zu ändern. Ich glaube, dass es eine Unzufriedenheit gibt bei Kollegen, weil sie immer mehr an Auto­nomie verlieren. Das war für mich immer das Grossartige an diesem Beruf: Man verdient zwar nicht so viel wie in der Privatwirtschaft und hat eine sehr lange Ausbildung, aber man bestimmt selber, was in der Fakultät geht. Heute hat man in den meisten Unis eine Schicht von Administratoren über sich, die einfach Arbeit produziert. Klar, dass die Bürokraten diese Mehrarbeit mit wunderbaren Visionen legitimieren, anders könnten sie es gar nicht.

Sind private Forschungsinstitutionen die Zukunft der ­Akademie?

Das wird sich weisen. Ich bin kein Ideologe, ich wollte nicht unbedingt in ein privates Forschungsinstitut. Ich habe einfach mit Margit Osterloh und Bruno S. Frey zwei wunderbare Menschen und Intellektuelle kennengelernt, die eine Energie und Ideenvielfalt an den Tag legen, wovon sich manche jungen Leute eine Scheibe abschneiden könnten. Es gibt keine Verwaltung, keine Bürokratie, es ist ein Traum. Man hat Zeit, um sich den eigenen Ideen zuzuwenden und produktiv zu sein.


Das Interview ist auch in der Reihe «Studio Libero» als Video oder Podcast auf schweizermonat.ch verfügbar.

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